Der Ruf des Tigers
Der Tiger, die größte Raubkatze der Welt, ist heute in Gefangenschaft schon zahlreicher als in freier Natur. Neue Strategien könnten die Art retten. Aber wollen wir das?
Ranthambore-Nationalpark, Indien
Der Morgen dämmert, noch hält sich der Nebel im Wald. Wir sehen vor uns nur ein paar Meter der unbefestigten Straße aus roter Erde. Wie aus dem Nichts erscheint in dem rotgolden leuchtenden Nebel eine Tigerin. Sie bleibt stehen, schubbert ihre rechte Wange an einem Baum neben der Straße. Dann überquert sie den Weg und tut dasselbe mit der linken Seite ihres Gesichts. Schließlich dreht sie sich um und betrachtet uns mit einem Blick unendlicher Gleichgültigkeit.
Doch dann reckt sie sich an dem Baum in die Höhe, krallt sich in die Rinde und zeigt uns ihr ganzes prachtvolles Profil, ihre herrliche, gold und schwarz gestreifte Flanke. Panthera tigris ist die größte aller Großkatzen. Und eines der schönsten Tiere überhaupt.
Tiger können – ohne Schwanz gemessen – mehr als zwei Meter lang werden und mehr als 200 Kilogramm wiegen. Ihre bis zu zehn Zentimeter langen Krallen ziehen sie wie eine Hauskatze ein, ihre Reißzähne zermalmen sogar Knochen. Tiger beschleunigen kurzfristig auf 55 Kilometer pro Stunde, ihre Sprungkraft ist unglaublich. Kürzlich wurde ein Tiger gefilmt, als er vom Boden aus dreieinhalb Meter hoch sprang, um einen Wildhüter auf dem Rücken eines Elefanten anzugreifen. Tiger können in der Nacht fabelhaft sehen, eine Membran in der Rückseite ihrer Augen reflektiert einfallendes Licht durch die Netzhaut. Das erklärt auch die im Dunkeln geisterhaft glühenden Augen. Das dumpfe Brüllen eines Tigers – Aaaaaaauuuuunnnn! – trägt mehr als eineinhalb Kilometer weit.
Bis zu dieser Begegnung im Nebel waren schon Wochen vergangen, in denen ich in Asien nach Tigern Ausschau gehalten hatte: in abgelegenen Wäldern, in tropischen Waldgebieten und – auf einer früheren Reise – in Mangrovensümpfen. Dennoch hatte ich noch nie eine der großen Katzen zu Gesicht bekommen. Zum Teil lag das sicher an der Fähigkeit dieser Tiere, sich wie ein Phantom zu bewegen. Ein Tiger ist so stark, dass er ein Beutetier töten und wegschleppen kann, das fünfmal so viel wiegt wie er selber. Und doch schleicht er im hohen Gras, im Wald und sogar im Wasser mit geradezu gespenstischer Lautlosigkeit. Von Menschen, die den Angriff eines Tigers miterlebt – und überlebt – haben, hört man immer wieder, das Raubtier sei «aus dem Nichts» gekommen.
Dass man sie so selten sieht, hat aber noch einen anderen Grund: Selbst in einem idealen Tigerrevier gibt es nur wenige Tiger. Solange ich zurückdenken kann, gilt diese Art als bedroht. Ihre Seltenheit ist inzwischen beinahe ebenso ein Merkmal wie ihr geflammtes Fell. Doch mit der Prognose, der Tiger werde auch weiterhin „selten“ oder „bedroht“ sein, werden wir uns nicht mehr lange selber belügen und beruhigen können. Die Tiger stehen in freier Wildbahn vor der Ausrottung. «Was wir jetzt beschließen, entscheidet über Leben oder Tod», sagt Tom Kaplan, einer der Mitbegründer der Organisation Panthera, die sich weltweit für den Erhalt der Großkatzen einsetzt.
Die Ursachen der Bedrohung sind bekannt: Die wachsende menschliche Bevölkerung zerstört die Lebensräume der Tiger, und dort, wo es sie noch gibt, werden sie aus Armut oder Profitgier gewildert – vor allem für den unersättlichen chinesischen Schwarzmarkt mit seiner Volksmedizin, die Potenz und Gesundheit durch Produkte aus dem Tigerkörper verspricht.
Weniger bekannt ist, dass der Artenschutz trotz vieler Millionen an Spendengeldern jahrzehntelang nur stümperhaft betrieben wurde. Offiziell sollen heute in 13 asiatischen Staaten insgesamt knapp 4000 Tiger in freier Wildbahn leben, nach Ansicht vieler Naturschützer sind es einige hundert weniger. Dabei wurde bereits 1969 weltweit Alarm geschlagen, und Anfang der achtziger Jahre streiften noch etwa 8000 Tiger frei durch die Wälder. Seitdem ist ihr Bestand um die Hälfte geschrumpft – trotz lautstark geäußerter Sorgen und internationaler Schutzkampagnen.
Entschlossen, einmal im Leben einen Tiger in seiner natürlichen Umgebung zu sehen, war ich nach Nordindien, in den Ranthambore-Nationalpark gekommen, eines von 40 Tiger-Schutzgebieten des Landes. Schon nach zehn Minuten wurde mein Wunsch erfüllt, in den vier Tagen meiner Exkursion brachte ich es auf neun Sichtungen. Das schöne Tier, dem ich am ersten Tag im Nebel begegnet war, eine dreijährige Tigerin, ich sah sie noch ein zweites Mal. Keine Rolle spielte dabei für mich, dass ich in den meisten Fällen eine Beobachterin unter vielen war, die aus einer langen Autoschlange spähten. Tiger in der Natur zu sehen ist heute vor allem ein touristisches Ereignis. In Ranthambore stieg ich im Morgengrauen in einen Jeep. In dem warteten ein Wildhüter, ein Fremdenführer und – am wichtigsten in diesem umkämpften Geschäft – ein erfahrener Fahrer, der sich stets rücksichtslos an die Spitze des Autokonvois setzte und mir so zu jener ersten Begegnung verhalf.
Die Hälfte aller wilden Tiger weltweit lebt in Indien. Die jüngste Zählung aus dem Jahr 2010 kam auf 1909 Tiere – 400 mehr als bei der vorherigen Schätzung. Das hört sich gut an, spiegelt nach Ansicht der meisten Fachleute allerdings weniger ein Wachstum der Population wider als verbesserte Methoden, um den Bestand zu zählen und hochzurechnen.
41 dieser Tiger leben in Ranthambore. Mein Wildführer, Raghuvir Singh Shekhavat, macht mich bei einem Ausflug im Geländewagen mit der Artenvielfalt im Park vertraut: Besonders markant sind die Languren aus der Gruppe der Schlankaffen, die Axishirsche, Wildschweine, Zwergohreulen, Eisvögel und Edelsittiche. Dann verschafft er mir eine Ahnung von der Arbeit der Tigerschützer.
Auf einer Lichtung hält er den Jeep neben einem Leinwandzelt an. «Möchten Sie sehen, wie die Parkaufseher hier hausen?», fragt er und hebt die Klappe am Zelteingang hoch. Dahinter stehen drei schmale Feldbetten. «Das ist die Küche», sagt er und deutet auf einen Stapel Konserven und Schüsseln. «Von dreißig Berufsjahren verbringt man mindestens fünf in so einem Zelt.» Die Wildhüter sind jeden Tag am frühen Morgen bis zu 15 Kilometer zu Fuß unterwegs. Wenn sie Prankenspuren sehen, machen sie davon Abgüsse aus Gips.
Ranthambore zeigt in verkleinertem Maßstab die Geschichte der Tiger in ganz Indien. Das Schutzgebiet war früher das private Jagdrevier der Maharadschas von Jaipur. Der Kernbereich misst 282 Quadratkilometer, eine Waldfläche, in der man ganz Frankfurt samt seinen Vororten verstecken könnte. Ringsum verläuft eine Mauer, im Inneren säumen bewaldete Hügel Ruinen aus der Ära der Maharadschas. Der Abschuss der Tiger war in Indien bis Anfang der siebziger Jahre erlaubt, «die Lizenz kostete wenige hundert Rupien» – umgerechnet ein paar Euro –, erzählt mir Fateh Singh Rathore, der hier damals als Wildhüter angestellt war.
Die Population der Tiger in Ranthambore war immer gefährdet, mal nahm der Bestand etwas zu, dann wieder ab. Zwischen 2002 und 2004 wurde er durch Wilderer nahezu halbiert. Noch schlimmer erging es der Art im nahe gelegenen Schutzgebiet Sariska: Dort sind alle Tiere von professionellen Banden getötet worden – nur 110 Kilometer von der indischen Hauptstadt Neu-Delhi entfernt.
In Ranthambore und Sariska wird derzeit eine neue Strategie zum Artenschutz getestet: die Umsiedlung „überzähliger“ Tiger. Das Vorhaben ist durchaus umstritten. Auf einer Wildtier-Tagung in Neu-Delhi wurde ich Zeuge einer hitzigen Debatte: Wann ist ein Tiger „überzählig“? Werden die Probleme in Sariska und anderswo beseitigt, ehe man neue Tiere heranschafft? Gibt es Erkenntnisse darüber, wie sich der Umzug auf die Tiger auswirkt und auf den Bestand, aus dem sie kommen? Hat das Konsequenzen für ihre Fortpflanzung?
Nicht alle bisherigen Umsiedelungen waren Erfolge. Drei Tiere, die nach Sariska gebracht wurden, waren Geschwister – schlecht für die Zucht. Ein anderer Tiger wollte sich mit der neuen Heimat nicht abfinden. Das Männchen sollte den Bestand im Panna-Nationalpark auffrischen, doch kaum angekommen, machte er sich auf den 400 Kilometer langen Rückweg in das Pench-Schutzgebiet. Mit langen Berichten begleiteten die indischen Zeitungen den einsamen Marsch der großen Katze.
Das Ereignis macht einen weiteren Aspekt des Problems deutlich: Viele Schutzgebiete sind isolierte Inseln in einem Meer menschlicher Siedlungen. Tiger haben auf ihrer Suche nach Beute und Partnern aber einen Aktionsradius von bis zu 150 Kilometern. Die jüngste Bestandserhebung ergab deshalb auch, dass fast ein Drittel der indischen Tiger außerhalb von Schutzgebieten leben, eine Situation, die Gefahren für Mensch und Tier mit sich bringt.
Nur ausgewiesene Landkorridore, „grüne Brücken“, garantieren, dass Tiger und ihre Beutetiere ungestört zwischen den Schutzgebieten umherwandern können. Solche Verbindungen dienen auch als genetische Brücken: Sie fördern die Durchmischung des Erbguts und sind für das dauerhafte Überleben der Arten wichtig.
Zeichnet man auf einer Karte Asiens all die Korridore ein, die es bisher nicht gibt, aber geben sollte, zeigt sich ein spannender Anblick: ein Spinnennetz aus gewundenen Linien verbindet die Kernzonen zu einem Geflecht aller möglichen Lebensräume: die Vorgebirge des Himalaja gehören dazu, Urwälder, Sümpfe, Laubwälder und Graslandschaften. Hier überall könnten Tiger leben. Die Karte der Regionen, in denen es tatsächlich Tiger gibt, zeigt allerdings nur ein paar kleine, verstreute Flecken. Wäre der große Plan also überhaupt realistisch? Immerhin sollen in Asien in den kommenden zehn Jahren mehr als eine halbe Billion Euro zur Erweiterung des menschlichen Lebensraums ausgegeben werden – wodurch die Reviere der Tiger weiter schrumpfen.
«Andererseits habe ich aber auch noch nie einen Staatschef getroffen, der offen gesagt hätte: ‹Sehen Sie, wir sind ein armes Land. Wenn wir zwischen Menschen und Tigern wählen müssen, schreiben wir die Tiger eben ab›», sagt Alan Rabinowitz, der Vorsitzende der Organisation Panthera. «Die Regierungen wollen ihre Tiere nicht opfern. Sie sind ein Teil dessen, was ihr Land ausmacht, ein Teil seines kulturellen Erbes. Viel Geld werden sie zu ihrer Rettung nicht ausgeben, aber wenn man ihnen einen Weg zeigt, wie die Tiere gerettet werden können, werden die meisten ihn auch gehen.»
Das allerdings hat sich als schwierig erwiesen. Eine Fülle von Strategien, Programmen und Initiativen wetteifert um Aufmerksamkeit – und Spendengelder: Save the Tiger Fund in den USA, Global Tiger Patrol, Saving Wild Tigers, All For Tigers!, WWF, Wildlife Conservation Society (WCS), Panthera, International Year of the Tiger Foundation – es ist eine beeindruckende und längst nicht vollständige Liste, in die sich seit kurzem auch die Big Cats Initiative der National Geographic Society einreiht. «Alle rangeln um einen Anteil an den fünf bis sechs Millionen Dollar, die jährlich für den Tigerschutz gespendet werden», sagt Mahendra Shresta, der frühere Direktor des Save the Tiger Fund. «Oft genug kommt es vor, dass nichtstaatliche Schutzorganisationen und die Regierungen der Staaten, in denen Tiger leben, anstatt am selben Strang zu ziehen, miteinander konkurrieren.»
Nachhaltiger Artenschutz müsste alle Aspekte von Leben und Verhalten der großen Katzen berücksichtigen: Es soll Kernpopulationen geben, die sich fortpflanzen, unberührte Rückzugsgebiete, Wanderungskorridore für Räuber und Beute – und Raum für die Menschen im Land, für ihre Dörfer, Felder und Herden. Tatsächlich verfolgen die Organisationen jedoch oft unterschiedliche Strategien.
Der Tigerexperte Ullas Karanth von der WCS hat festgestellt, dass Maßnahmen zur ökologischen und sozialen Entwicklung einer Region immer mehr Mittel und Energie von der wichtigsten Einzelaufgabe absaugen: dem Schutz fortpflanzungsfähiger Kernbestände. «Das mag für Spendengeber reizvoller erscheinen, als den Kampf gegen Wilderer zu finanzieren. Aber was nützt uns eine schöne Tigerlandschaft ohne Tiger?», fragt Karanth.
Dabei gebe es inzwischen das Wissen, um «überall dort, wo Tiger leben können, die Bestände zu vergrößern», sagt Alan Rabinowitz von Panthera. Ein zentraler Bestandteil dieser Strategie seien systematische Patrouillen und die Überwachung von Tigern und ihren Beutetieren in Arealen, die sich als Rückzugsgebiete für die großen Katzen eignen. Dann, so sagen Wildbiologen, könnten sich dort sogar Bestände wieder erholen, die nur noch ein halbes Dutzend fortpflanzungsfähiger Weibchen zählen. Genau darauf hofft man schon im weltweit größten Tigerschutzgebiet, einem abgelegenen Tal im Norden von Myanmar.
Hukawng Valley, Myanmar
Mein erster Eindruck im Hukawng Valley ist wenig ermutigend. In der Siedlung Tanaing sehe ich verwundert den großen Markt, Bushaltestellen, Kraftwerke und Telefonmasten, Läden und Restaurants – alles innerhalb der Grenzen des Schutzgebietes.
Aus der weiträumigen Pufferzone um das 6500 Quadratkilometer große Kernschutzgebiet wurden bereits große Stücke herausgebrochen. Allein für den Anbau von Maniok sind 80000 Hektar (800 Quadratkilometer!) gerodet und abgebrannt worden. Weiter westlich, in der Goldgräbersiedlung Shingbwiyang, leben 50000 Menschen. Das Land ist kahlgeschlagen, die Gebirgsbäche haben sich in Schlamm verwandelt. Zwischen Hütten aus Stroh und Holz sind Betonhäuser in die Höhe geschossen.
Aber seine schiere Größe von insgesamt 17373 Quadratkilometern – das ist mehr als die Fläche Schleswig-Holsteins– lässt das Tigerschutzgebiet sogar solche Verletzungen verkraften. Das Hukawng Valley mit seinem dichten, dunklen Dschungel liegt eingezwängt zwischen drei Gebirgszügen. Noch in den siebziger Jahren gehörten Begegnungen mit Tigern für die Dorfbewohner im Tal zum Alltag. Die Raubkatzen griffen nur selten Menschen an, ihre Opfer waren meistens Rinder und anderes Vieh. Dennoch räumte ihm seine furchterregende Ausstrahlung einen besonderen Platz in der Mythologie der Region ein. Beim Stamm der Naga erzählt man sich Geschichten von Tigerschamanen. Der Tiger war Rum Hoi Khan, der König des Waldes, mit dem man ein thitsar hatte, ein Abkommen. «Früher bezeichneten die Naga männliche Tiger als Großvater, weibliche als Großmutter», erzählt mir ein älterer Naga. «Sie glauben, es seien ihre wiedergeborenen Ahnen.»
Solche Überlieferungen schwinden zusammen mit den Tigern. Die jungen Menschen in Myanmar kennen die Tiere weniger aus ihrem Alltag als aus dem Unterricht in Umweltschutz. Das Forstministerium finanziert zum Beispiel ein mobiles Weiterbildungsteam, das über die Dörfer fährt und einen Sketch aufführt. Darin wird ein Tiger von einem verruchten Wilderer getötet. Die gespielte Trauer der Tigerwitwe rührt die Zuschauerinnen oft zu Tränen.
Zwei Tage nach meiner Ankunft in Tanaing mache ich mich mit dem Wildhüterteam „Flying Tigers“, das dem Forstministerium untersteht, auf den Weg. Wir fahren den Fluss Tawang hinauf zu einem Vorposten. Die Sonne hat den Morgennebel bereits aufgelöst, das Wasser strömt eisblau unter einem dunkelblauen Himmel dahin. Bananengehölze am Ufer werfen grüne Schatten auf das Wasser. Schwärme von Gänsesägern fliegen auf, ein Kaiserreiher segelt vorüber. Im Hukawng Valley leben Elefanten und Nebelparder, Gauren (eine Rinderart) und Sambarhirsche, die Lieblingsbeute der Tiger.
Der Vorposten ist ein Haus aus Holz und Rattangeflecht. Es steht auf Stelzen in einer Lichtung am Fluss. Zaw Win Khaing, der Teamleiter, berichtet über die laufende Saison, die Beobachtungsmonate während der Trockenzeit. Ein Drittel jedes Monats sind die Wildhüter auf Patrouille: Sie suchen nach Fährten und Exkrementen von Tigern, aber auch nach Spuren von Gauren, Sambars und wilden Schweinen. Und sie halten Ausschau nach Anzeichen für die Tätigkeit von Menschen. Im vergangenen Monat haben sie ein Jägerlager aufgelöst und 34 Personen teils verhaftet, teils vertrieben. Sie waren dabei, Land zu roden, vor allem für den Anbau von Mohn für die Opiumproduktion.
Saw Htoo Tha Po trägt den imposanten Titel eines „Tigerkoordinators“. Er ist ein erfahrener Veteran. Was es bedeutet, bis zu sechs Wochen unter dem dichten Kronendach des Dschungels zu arbeiten, beschreibt er lakonisch so: «Manchmal, wenn die Sonne scheint, kannst du sogar den Himmel sehen.»
Am schlimmsten sind die Regentage, wenn die feuchte Kälte des Nebels bis in die Knochen dringt. Die Blutegel werden zur Plage. Der hiesige Malariaerreger ist besonders heimtückisch; einige Kameraden sind bereits daran gestorben. Insgesamt gehen 74 Mitarbeiter und Polizeibeamte des Forstministeriums abwechselnd auf Patrouille. Sie haben eine Waldfläche von 1800 Quadratkilometern zu überwachen.
Teamleiter Zaw Win Khaing hat bisher erst einen einzigen Tiger gesehen. Das war 2002. Er hatte sich gerade niedergehockt, um Bärenfährten zu vermessen. Da bemerkte er rechts von sich eine Bewegung. Als er aufstand, tauchte das Gesicht des Tigers aus dem Gras auf, höchstens fünf Meter entfernt: «Ich weiß nicht mehr, wie lange ich ihn angestarrt habe, so habe ich gezittert.» Schließlich verschwand das Tier im Wald.
Nach Expertenmeinung leben im Hukawng Valley rund 25 Tiger. Der Experte ist in diesem Fall ein alter Angehöriger des Lisu-Stammes, der sich erst vor Kurzem als Wilderer zur Ruhe gesetzt hat und den Tigerschützern freundlicherweise hin und wieder mit seinen über lange Zeit erworbenen Kenntnissen aushilft. Offizielle Angaben sind schwieriger zu bekommen. In den Jahren 2006/2007 gab es nur Prankenabdrücke eines einzigen Tigers, in der Saison 2007/2008 ließen sich Exkremente durch DNA-Analysen drei verschiedenen Tigern zuordnen.
In dieser Saison gab eine saubere Reihe von Prankenspuren Anlass zum Feiern. Und für die Anforderung eines Sonderkommandos: Die Nachricht von der Entdeckung wurde um 8 Uhr früh per Funk übermittelt, um 18 Uhr war das Tiger-Team aus Tanaing zur Stelle. Fünf Tage lang vermaßen die Männer die Fährte und nahmen Gipsabgüsse. Sie bauten gleich drei Kamerafallen auf, die bisher allerdings nur ein Foto von einem Hornvogel lieferten. Ungefähr zur gleichen Zeit wurden rund 15 Kilometer flussaufwärts frische Spuren entdeckt. Sie stammten, wie sich herausstellte, vom selben Tiger. Das also war die ganze Ausbeute einer weiteren anstrengenden Saison: Prankenabdrücke in Gips.
Von den Schneeleoparden im Himalaja bis zu den Löwen der Serengeti reicht das Spektrum der bedrohten Arten. Zahlreiche Organisationen und Initiativen wollen sie retten und rufen zur Unterstützung auf – durch Spenden oder durch den persönlichen Einsatz bei Schutzprojekten.
Die National Geographic Society hat die Big Cats Initiative gegründet; aktive Mithilfe ist möglich (causeanuprour.org – cause an uproar: „Verursache einen Aufschrei!“).
Die besten Wissenschaftler arbeiten für die Organisation Panthera mit Sitz in New York (panthera.org).
In Deutschland setzt sich vor allem der WWF für den Schutz der Tiger ein (wwf.de/themen/kampagnen).
(NG, Heft 12 / 2011, Seite(n) 98 bis 123)