Fotostrecke: C-Boy, der König der Löwen
Wachsamer C-Boy - Auch nachts bleibt „C-Boy“ wachsam, denn er weiß um das Gesetz der Savanne: Löwen töten Löwen.
Für sein Bild des Vumbi-Rudels, das sich auf einem Felsen ausruht, wurde der NG-Fotograf Michael Nichols zum "Wildlife Photographer of the Year" ernannt. Die renommierte Auszeichnung wird vom Naturhistorischen Museum in London vergeben. Lesen Sie hier den Artikel zu diesem Bild aus dem Jahr 2013!
Er ist der Boss, der imposante Rudelführer mit der dunklen Mähne – aber der Tod ist immer nah in der Serengeti.
Eine Katze hat neun Leben, heißt es. Aber für die Löwen in der Serengeti gilt das ganz sicher nicht. Das Land ist gnadenlos. Das gilt für die größten Raubtiere Afrikas genauso wie für ihre Beute: Ihr Leben ist kurz, ein Altern in Würde gibt es nicht, der Tod kommt meistens plötzlich.
Wenn ein ausgewachsener Löwe Glück hat und robust ist, kann er in freier Wildbahn zwölf Jahre alt werden. Löwinnen erreichen vielleicht ein Alter von 19 – falls sie die ersten zwei Jahre überleben. Die Hälfte aller Jungtiere schafft das nicht: Viele verhungern, werden krank oder von Hyänen gerissen.
Doch auch ein ausgewachsener Löwe muss ständig mit dem Schlimmsten rechnen. Zum Beispiel der imposante Kerl mit dunkler Mähne, dem Wissenschaftler den Namen „C-Boy“ gegeben haben. Er ist vier oder fünf Jahre alt, also gerade im besten Mannesalter, da scheint am Morgen des 17. August 2009 sein Ende gekommen zu sein.
Ingela Jansson, eine schwedische Forscherin, die an einer Langzeitstudie über Löwen arbeitet, beobachtet ihn wieder einmal aus ihrem Landrover heraus. Sie ist etwa zehn Meter entfernt, als drei junge Löwen gemeinsam über „C-Boy“ herfallen. Ihre Absicht kann nicht missdeutet werden – sie wollen ihn töten. Sein Kampf ums Überleben ist dramatisch, er spiegelt aber auch eine große Wahrheit über die Löwen der Serengeti wider. Mehr noch als die Tatsache, dass sie andere Tiere töten, um sie zu fressen, ist ihr Sozialverhalten davon geprägt, dass auch sie selbst täglich getötet werden könnten. Von ihren eigenen Artgenossen.
An jenem Augusttag will Jansson nicht weit vom ausgetrockneten Flussbett des Seronera River nach dem Jua-Kali-Rudel sehen. Ein Rudel, das sind streng genommen die Löwinnen und ihre Jungen. Ausgewachsene männliche Tiere gehören nicht zu einem bestimmten Rudel, sie bilden vielmehr Koalitionen mit anderen Löwen und vertreten ihre Interessen bei einem Rudel oder auch bei mehreren. Als „Mitbewohner“ zeugen sie die Jungen, sie tragen aber nicht nur ihr Sperma zum Fortbestand des Rudels bei, sondern helfen auch bei der Jagd, besonders auf größere Tiere wie Büffel oder Flusspferde. Die Herrscher von Jua Kali, das weiß Jansson, sind „C-Boy“ und sein Kumpel „Hildur“, ein Schürzenjäger mit goldener Mähne. Als Jansson vorhin an den Fluss kam, sah sie aus der Ferne, wie „Hildur“ von einem anderen gejagt wurde. Vor wem er Reißaus nahm und warum, begriff sie zunächst nicht.
Dann stieß sie im Gras auf eine Gruppe von vier jungen Löwen. Sie erkannte einige Mitglieder eines anderen Männerbündnisses. In ihren Protokollen führt sie die Tiere dieser Gang als die „Killer“. Jetzt notiert sie, dass bei einem der rechte untere Eckzahn voller Blut ist, es hat wohl gerade einen Kampf gegeben. Ein anderer liegt platt auf dem Boden, als wolle er sich in die Erde verkriechen. Aus seiner Kehle dringt ein stetes, nervöses Knurren. Jansson erkennt ihn an seiner dunklen Mähne: Es ist „C-Boy“ – verwundet, isoliert, von drei „Killern“ umringt.
Die „Killer“ greifen „C-Boy“ abwechselnd von hinten an. Sie schlagen ihren Pranken in seinen Hintern, sie beißen in sein Rückgrat. Er wirbelt herum, faucht und versucht zu entkommen.
Zum Jua-Kali-Rudel gehört zu jener Zeit auch eine Löwin, die noch säugt; das bedeutet, irgendwo hat sie Junge versteckt. Ihr Vater ist vermutlich „C-Boy“ oder „Hildur“. Die Auseinandersetzung zwischen „C-Boy“ und den „Killern“ ist also mehr als eine Rauferei. Es geht um die Herrschaft über das Rudel. Wenn die Herausforderer siegen, werden sie die Jungen ihrer Vorgänger töten, damit die Mütter schnell wieder rollig werden.
Urplötzlich flammt der Konflikt wieder auf. Die drei „Killer“ nehmen „C-Boy“ in die Zange und greifen ihn abwechselnd von hinten an. Sie schlagen ihre Pranken in seinen Hintern, sie beißen in sein Rückgrat. Er wehrt sich, faucht und versucht zu entkommen. Jansson ist so nahe dran, dass sie fast den sprühenden Geifer spürt und die Boshaftigkeit riecht. Staub fliegt, „C-Boy“ wirbelt blitzschnell herum und brüllt gewaltig, aber die „Killer“ spielen ihre Überzahl aus: Sie weichen seinen Bissen aus, nähern sich immer wieder von hinten, schlagen die Zähne in sein Fleisch, bis das Fell an seinem Hinterteil aussieht wie ein mottenzerfressener Pelz. Jansson fürchtet, dass sie das Ende eines Löwenlebens miterlebt: Wenn „C-Boy“ nicht gleich seinen Verletzungen erliegt, denkt sie, werden ihn Infektionen und Wundfieber erledigen. Dann ist es vorüber. Vielleicht eine Minute haben die Löwen gekämpft. Jetzt schlendern die „Killer“ davon und bauen sich auf einem Termitenhügel auf, von dem sie einen guten Überblick haben. „C-Boy“ schleicht vom Kampfplatz.
Er lebt noch, aber er ist geschlagen.
Zwei Monate später. Ingela Jansson hat den besiegten Exherrscher seit dem Kampf nicht mehr gesehen. Die Löwinnen des Jua-Kali-Rudels haben die „Killer“ akzeptiert. Die Nachkommen von „C-Boy“ und „Hildur“ sind verschwunden – vielleicht wurden sie von den Siegern getötet, vielleicht haben die Mütter sie verlassen, so dass sie verhungert sind oder Opfer der Hyänen wurden. Die Löwinnen sind mittlerweile wieder fruchtbar, die „Killer“ zeugen neuen Nachwuchs. „C-Boy“ war gestern, das ist die harte Realität der Löwengesellschaft. Etwas, das sie von anderen Großkatzen unterscheidet.
Fotostrecke: C-Boy, der König der Löwen
Tiger sind Einzelgänger. Jaguare auch. Kein Leopard würde sich mit einer Gruppe anderer Leoparden zusammentun. Nur Löwen bilden Rudel und Koalitionen auf Zeit. Deren Zusammensetzung ist immer Ergebnis einer heiklen Balance zwischen Nutzen und Nachteilen in einer Umwelt voller Gefahren.
War es der Vorteil, den die gemeinsame Jagd auf Gnus und andere große Beutetiere mit sich brachte, der das Sozialverhalten der Löwen in andere Bahnen lenkte als bei allen anderen Großkatzen? Erleichtert die Gruppe die Verteidigung der Jungen? Und welche Rolle spielt die Konkurrenz um dicht beieinanderliegende Reviere? Vieles von dem, was man heute weiß, ist das Ergebnis jahrzehntelanger, ununterbrochener Beobachtungen der Löwen in einem speziellen Lebensraum: in der Serengeti.
Der Serengeti-Nationalpark an der Nordgrenze Tansanias ist mit einer Fläche von knapp 15.000 Quadratkilometern fast so groß wie Schleswig-Holstein. Er besteht vorwiegend aus Savannen und Wald. Je nach Jahreszeit folgen riesige Gnu-, Zebra- und Gazellenherden dem Regen auf der Suche nach frischem Gras, wobei sie im Norden die Grenze zum Schutzgebiet Masai Mara in Kenia überschreiten. Neben den wandernden Herden leben hier viele weitere Arten Antilopen, Gazellen, Büffel, Warzenschweine und andere Pflanzenfresser. In keiner anderen Region Afrikas gibt es einen solchen Überfluss von Fleisch auf Hufen. Deshalb ist die Serengeti ein großartiger Lebensraum für Löwen – und ein ideales Revier für Löwenforscher.
Den Beginn machte 1966 der in Berlin geborene Deutschamerikaner George Schaller. Er untersuchte die Auswirkungen der Löwen auf die Bestände der Beutetiere und die Dynamik des Ökosystems. Sein Buch „Unter Löwen in der Serengeti“ wurde zum Standardwerk. Brian Bertram, ein junger Engländer, wurde Schallers Nachfolger und blieb vier Jahre – lange genug, um auch der Frage nachzugehen, wie sich soziale Faktoren auf den Fortpflanzungserfolg der Löwen auswirken. Gleichzeitig erklärte er ein wichtiges Phänomen: den Säuglingsmord durch männliche Löwen. Bertram dokumentierte mehrere Fälle, in denen eine neue Koalition von Löwen alle Jungen eines gerade übernommenen Rudels tötete.
Das britische Forscherpaar Jeannette Hanby und David Bygott sammelte dann Belege, dass Koalitionen männlicher Löwen – besonders solche von drei oder mehr Tieren – leichter die Kontrolle über neue Rudel gewinnen und anschließend auch besser behaupten können. Und sie wiesen nach, dass in solchen Rudeln mehr Jungtiere die ersten Jahre überleben.
Nach 1978 führten der Amerikaner Craig Packer und seine Frau Anne Pusey die Untersuchungen weiter. Packer leitet heute das Serengeti Lion Project, an dem auch Ingela Jansson mitarbeitet. Beginnend bei Schaller ist das Serengeti-Löwenprojekt eine der weltweit längsten Freilandstudien an einer Tierart. So viel Kontinuität verschafft den Wissenschaftlern die Möglichkeit, Verhalten in größere Zusammenhänge zu stellen und isolierte Ereignisse von dem zu unterscheiden, was generell gilt. Oder, wie Schaller es einmal formulierte: «Nur wenn man Daten über eine lange Zeit sammelt, kann man die wirkliche Geschichte erkennen.»
Zu dieser Wirklichkeit gehört auch der Tod. Er ist zwar für alle Lebewesen unausweichlich, aber erst die Details von Zeit und Ursache ergeben ein Bild von den Gesetzen der Natur. Nach seiner Niederlage gegen die „Killer“ gibt „C-Boy“ seinen Anspruch auf das Jua-Kali-Rudel auf und wendet sich nach Osten. Sein Bündnispartner „Hildur“ kommt wieder mit ihm. Jetzt, drei Jahre später, haben sich die beiden die Herrschaft über zwei andere Rudel verschafft, Simba East und Vumbi. Ihre Reviere liegen südlich des Nanyuki River in offenem Gelände zwischen frei stehenden Felskuppen, den „Kopjes“. Es ist nicht der angenehmste Teil der Serengeti, besonders in der Trockenzeit kann das Leben hier sehr hart sein. Aber „C-Boy“ und „Hildur“ konnten noch einmal von vorn anfangen.
Eine Zeitlang haben die dominanten Löwen „C-Boy“ und „Hildur“ ein schönes Leben. Die „Killer“ – ihre Konkurrenten – lauern aber auf jedes Zeichen der Schwäche.
Mittlerweile hat Daniel Rosengren die Überwachung der Löwen von seiner Landsfrau Jansson übernommen. Ein Stück abseits der Gebiete, in denen die Touristen unterwegs sind, hebt und senkt sich die weite Graslandschaft wie Meereswellen, alle paar Kilometer ragt eine Gruppe von Felskuppen auf. Die großen Granitblöcke sind mit Bäumen und Sträuchern bewachsen; sie bieten den Großkatzen Schatten, Sicherheit, Aussichtspunkte und Platz zum Ausruhen.
Am Nachmittag hört Rosengren Funksignale in seinem Kopfhörer. Sie führen ihn zum Zebra- Felsen. Dort liegt die mit dem Funkhalsband bestückte Löwin aus dem Vumbi-Rudel. Neben ihr döst ein prächtiges Exemplar, dem seine dichte, dunkelbraun bis schwarz schimmernde Mähne in Wellen wie ein Mantel über Hals und Schultern fällt. Es ist „C-Boy“.
Seine Flanken zeigen keine Spuren der Verletzungen mehr, die Bisse sind verheilt. «Bei Löwen verschwinden die meisten Narben nach einiger Zeit, außer rund um Nase oder Maul», erklärt Rosengren. „C-Boy“ hat an einem neuen Ort mit neuen Partnerinnen ein neues Leben angefangen, es scheint ihm gut zu gehen. Er und „Hildur“ haben weitere Jungen gezeugt. Und „C-Boy“ lässt alle wissen, wer der Boss ist.
Gerade gestern Abend haben die Löwinnen von Vumbi eine große Elenantilope gerissen. „C-Boy“ kam dann hinzu, legte gebieterisch seine männliche Pranke auf das tote Tier und meldete so seinen Anspruch auf die ersten Bissen an. Er nahm sich genießerisch die besten Stücke, dann erst ließ er die Löwinnen und ihre Jungen von der Antilope fressen.
„Hildur“ treibt sich derweil woanders herum – vermutlich ist er wieder mit einer fruchtbaren Gefährtin zusammen. Ein schönes Leben scheinen die beiden sich hier eingerichtet zu haben, mit allen Privilegien dominanter Löwen. Doch kaum zwölf Stunden später wird offensichtlich, dass ihre Probleme ihnen gefolgt sind.
Früh am folgenden Morgen fährt Rosengren mit dem Auto zum Fluss, auf der Suche nach dem Kibumbu-Rudel. Hier haben Löwen eines anderen Bündnisses Junge gezeugt, aber die Väter sind seit einiger Zeit verschwunden, niemand weiß wohin. Rosengren fragt sich, wer ihren Platz eingenommen hat. Das ist in dieser Untersuchung eine seiner Aufgaben: das Kommen und Gehen aufzuzeichnen, Geburt und Tod, Bindungen und Rückzüge, die sich auf Größe und Revierbesitz der Rudel auswirken. Wenn das Kibumbu-Rudel nun neue Bosse hat, wer sind sie? Rosengren hat einen Verdacht, der sich bald bestätigt: Im hohen Gras am Flussufer stoßen wir auf – die „Killer“.
Prächtige Teufel sind es geworden: Die vier Löwen – vermutlich zwei Brüderpaare – sind nun alle acht Jahre alt. Ihren Namen bekamen sie im Jahr 2008: Damals waren sie es, soweit man weiß, die in kurzer Zeit drei mit Funkhalsband versehene Löwinnen getötet haben. Solche Gewalt unter Artgenossen ist bei diesen Großkatzen nicht völlig anormal, zuweilen räumen männliche Löwen auf diese Weise Reviernachbarn aus dem Weg, um mehr Platz für die Rudel zu schaffen, die sie kontrollieren.
Die „Killer“ haben zwar je einen eigenen Namen bekommen, aber Rosengren bezeichnet sie lieber mit ihren Nummern: 99, 98, 94, 93. Die Zahlen passen seiner Meinung nach besser zu ihrer bedrohlichen Ausstrahlung. 99 hat im Profil die gebogene Nase eines römischen Senators und eine dunkle Mähne; so dunkel wie die von „C-Boy“ ist sie allerdings nicht. Seine linke Gesichtshälfte zeigt ein paar kleine Wunden.
Als Rosengren den Landrover dichter heranfährt, wenden sich zwei der anderen – 93 und 94 – aufgeschreckt in seine Richtung. Im Licht des Sonnenaufgangs sind auch an ihnen Gesichtsverletzungen zu erkennen: ein Riss in der Nase, eine kleine Schwellung, ein Einschnitt unter dem rechten Ohr, in dem noch der Eiter glänzt. «Die Wunden sind frisch», sagt Rosengren, «irgendetwas ist letzte Nacht passiert.» Es war sicher kein Streit ums Futter; Koalitionspartner fügen einander nicht solche Wunden zu. Es muss eine Auseinandersetzung mit einem oder mehreren anderen Löwen gegeben haben. Mit wem also haben die „Killer“ gekämpft? Und wie geht es dem oder denen jetzt?
Bei weiteren Erkundungen im Laufe des Tages stellt sich heraus: „C-Boy“ ist verschwunden. «Löwen töten Löwen», sagt Craig Packer. «In einer weitgehend natürlichen Umwelt sind Löwen für Löwen die häufigste Todesursache.»
Gut 25 Prozent der Sterblichkeit bei Jungtieren sind auf Säuglingsmord durch neu hinzukommende Löwen zurückzuführen. Auch Löwinnen töten Junge aus Nachbarrudeln, wenn sie die Gelegenheit haben. Manchmal wird sogar eine ausgewachsene Löwin umgebracht, wenn sie sich in ein fremdes Revier begibt.
Bei männlichen Löwen kommt der Kampf um Paarungspartner hinzu. «Sie bilden richtige Banden, und wenn sie merken, dass ein Fremder sich an ihre Damen heranmacht, bringen sie ihn um», erklärt Packer. Rudelbosse töten auch Löwinnen, wenn es ihren Zwecken dient, das haben die „Killer“ gezeigt.
Die vielen Bisswunden älterer Löwen sind ein Spiegelbild ihres Konkurrenzkampfes um Nahrung, Reviere, Fortpflanzungserfolg und das schiere Überleben. Wenn sie Glück haben, verheilen die Wunden. Etwas weniger Glück, und der Verlierer eines Kampfes wird getötet. Oder er hinkt von dannen, verliert viel Blut, ist vielleicht verstümmelt und dazu verurteilt, langsam an Infektionen oder Hunger zu sterben. «Der Löwe ist des Löwen Feind Nummer eins», sagt Packer. «Das ist letztlich der Grund, warum sie in Gruppen leben.»
Das Revier zu behaupten ist lebenswichtig, und die besten Reviere – etwa Zusammenflüsse von Gewässern, an denen sich Beutetiere sammeln – dienen als Anreiz für soziale Kooperation. «Die Vorherrschaft über einen dieser wertvollen und seltenen Orte kann sich nur sichern, wer mit einer Bande von Geschlechtsgenossen gemeinsam vorgeht», sagt Packer.
Diese Erkenntnis hat sich in seinen Arbeiten im Laufe der Jahrzehnte immer wieder herauskristallisiert. Nach seinen Feststellungen leben weibliche Löwen nicht nur deshalb in Rudeln, weil sie Beute nur gemeinsam erlegen und verteidigen können. Ein weiterer Grund ist die Notwendigkeit, die Jungen zu schützen und die besten Reviere zu behaupten.
Die Größe der Rudel schwankt zwar – von nur einem bis zu 18 ausgewachsenen Tieren. Aber Packers Daten zeigen, dass es Gruppen mittlerer Größe am besten gelingt, ein Revier zu verteidigen und ihre Jungen durchzubringen.
Eine wichtige Rolle spielt dabei, dass Löwinnen in der Gruppe häufig zur gleichen Zeit in den fruchtbaren Zyklus kommen, vor allem wenn neue Chefs alle ihre Jungen getötet und damit „die Uhr wieder auf null gestellt“ haben. Entsprechend bekommen dann mehrere Mütter ungefähr zur gleichen Zeit ihre Jungen. Darauf- hin bilden sie „Kinderkrippen“, in denen Löwinnen nicht nur ihre eigenen Jungen säugen und beschützen, sondern auch den Nachwuchs der anderen.
Diese Art von Kooperation ist schon als solche sehr effizient. Gefördert wird sie noch dadurch, dass die Löwinnen eines Rudels oft verwandt sind: Als Mütter und Töchter oder Schwestern und Tanten haben sie ein gemeinsames genetisches Interesse am Fortpflanzungserfolg der anderen.
Ist das Rudel zu klein, verliert es überdurchschnittlich viele Jungtiere. Aber auch zu großen Rudeln ergeht es schlecht, denn dort kommt es zu harten internen Konkurrenzkämpfen. Optimal ist offenbar ein Rudel von zwei bis sechs ausgewachsenen Löwinnen.
Eine ähnliche Logik gilt für die Größe der Männerbünde. Solche Koalitionen bilden sich in der Regel zwischen jüngeren Löwen, die ihrem Geburtsrudel entwachsen sind und sich gemeinsam auf ihr zukünftiges Leben einstellen. Dann tut sich beispielsweise ein Brüderpaar mit einem anderen zusammen oder mit Halbbrüdern oder Cousins, manchmal auch mit Löwen, mit denen sie überhaupt nicht verwandt sind, die aber als einsame Nomaden auf der Bildfläche erscheinen und Partner suchen.
Rotten sich nun in einer solchen vagabundierenden Clique zu viele hungrige und paarungswillige Löwen zusammen, bricht untereinander Gewalt aus. Aber auch ein Einzelgänger oder eine zu kleine Koalition, die aus nur zwei Löwen besteht, hat mit Nachteilen zu kämpfen.
Das ist „C-Boys“ Dilemma. Sein einziger Partner ist „Hildur“, ein gut aussehender Typ, zwar höchst paarungswillig, aber mit wenig Lust zum Kämpfen. Als „C-Boy“ es dann mit den aggressiven „Killern“ zu tun bekommt, steht er praktisch allein. Gegen drei oder vier Gegner gleichzeitig kann ihn auch seine prächtige schwarze Mähne nicht schützen. Vielleicht ist er schon tot. Falls das so ist, wird Rosengren jetzt klar, sind die Kampfverletzungen in den Gesichtern der „Killer“ vielleicht die letzten Spuren, die er von „C-Boy“ zu sehen bekommt.
Aus nächster Nähe ist das Gebrüll von Löwen ein höchst beeindruckendes Geräusch: laut, kehlig und rau – es klingt wie aus einer Eisentonne voll urtümlicher Kraft.
In dieser Nacht ziehen die „Killer“ noch einmal in ein neues Revier um. Den ganzen Tag haben sie sich am Flussufer ausgeruht, so dass die Sonne ihre Wunden trocknen konnte. Ungefähr zwei Stunden nach Sonnenuntergang fangen sie an zu brüllen. Der Chor ihrer Stimmen sendet eine Botschaft in die Ferne – vielleicht: «Wir kommen jetzt!» Dann machen sie sich zu viert auf den Weg. Es sieht aus, als hätten sie ein Ziel. Rosengren erfährt davon per Walkie-Talkie von unserem Fotografen Michael Nichols, der Wache gehalten hat. Er steigt in seinen Landrover und startet in die Dunkelheit. Damit beginnt ein Erlebnis, das als „Nacht der langen Verfolgung“ in Erinnerung bleiben wird.
Bei Nichols angekommen, steigt er zu ihm um. Am Steuer sitzt Nichols’ Frau Reba Peck. Langsam folgt sie den Löwen mit abgeblendeten Scheinwerfern. Es ist eine mondlose Nacht, aber Nichols hat Nachtsichtgeräte und eine Infrarotkamera dabei. Sein Assistent und Kameramann Nathan Williamson hält sich bereit, Geräusche aufzuzeichnen oder die Infrarotscheinwerfer anzumachen. Ihre Gegenwart scheint die Löwen nicht zu stören. Sie haben offenbar anderes vor.
Sie trotten einen alten Büffelpfad entlang und dann durch einen dichten Akazienhain. Geduldig steuert Peck den Wagen um Erdferkellöcher herum, über splitternde, dornige Äste und durch ein sumpfiges Bachbett. Alle denken das Gleiche: «Bloß hier nicht stecken bleiben!» Da draußen sind die „Killer“, da möchte niemand aussteigen und schieben.
Die Löwen gehen stetig und ohne Eile im Gänsemarsch. Sie versuchen nicht, die Gruppe im Landrover abzuschütteln. Meistens sind sie im Abblendlicht zu sehen, und wo es nicht hinkommt, hilft ein Wärmebildsichtgerät. Auf seinem Monitor leuchten die vier Löwen wie Kerzen in einer finsteren Höhle.
Plötzlich erscheint von der Seite eine andere große Gestalt. Im Strahl der Taschenlampe glühen ihre Augen orangefarben. Es ist eine Löwin, die sich bei den „Killern“ vorstellen will. Vermutlich ist sie empfängnisbereit. Doch als die „Killer“ sie bemerken und auf sie zugehen, scheint sie sich plötzlich zu zieren und läuft davon. Zunächst folgen ihr alle vier, und einen Augenblick lang sieht es so aus, als hätte die Nacht sie verschluckt. Aber dann bleibt ihr nur einer der Löwen auf den Fersen. Für den Rest der Nacht bleibt er verschwunden. Die anderen drei setzen ihren Marsch nun weiter fort.
Sie überqueren eine Staubstraße, biegen nach Süden ab und dringen nun unverfroren in das Revier des Vumbi-Rudels und seiner Schutzherren „C-Boy“ und „Hildur“ ein. Hier machen sie halt und setzen ihre Duftmarken: Sie reiben die Stirn an Büschen, scharren im Boden und urinieren darauf. Das ist kein heimlicher Angriff. Sie machen sich deutlich bemerkbar und haben etwas zu sagen. Schade, sagt Rosengren, dass wir kein Instrument haben, um diese Gerüche sichtbar zu machen.
Jetzt drehen die Löwen um. Sie schlagen den Weg zum Lager unseres Fotografen ein. Nathan Williamson kündigt die Raubtiere per Funk an und warnt die Küchenmannschaft: Sie sollen in ihren Zelten bleiben. Doch die „Killer“ kümmern sich nicht um die kleine Zelttuchsiedlung mit ihren Gerüchen nach Popcorn, Hähnchen und Kaffee. Ungefähr 400 Meter vom Lager entfernt legen sie sich zur Ruhe. Es ist kurz vor Mitternacht. Nichols und seine Leute gehen ins Lager zurück, Rosengren bleibt im Wagen bei den „Killern“. Als sie eine halbe Stunde später aufstehen und sich wieder in Bewegung setzen, folgt er ihnen.
Ein Stück trotten, ein Weilchen schlafen – so geht es die Nacht durch. Zuweilen stimmen die Löwen einen dreifachen Brüllchor an. Aus nächster Nähe ist das ein höchst beeindruckendes Geräusch: laut, kehlig und rau – es klingt wie aus einer eisernen Tonne voll urtümlicher Kraft. Niemand antwortet auf die Rufe.
In den frühen Morgenstunden stößt das Trio auf eine einsame Thomsongazelle, aber die Löwen versuchen nur halbherzig, sie zu reißen, und so kommt sie noch einmal davon. Eine kleine Gazelle geteilt durch drei – das lohnt die Mühe kaum. Im Morgengrauen gelangen die „Killer“ nach ihrer Runde durch das Vumbi-Revier wieder an die Straße. Lässig schlendern sie in Richtung einer baumbestandenen Fels kuppe, wo sie tagsüber Schatten finden. Dort lässt Rosengren sie allein. Eine Erklärung für ihre Gesichtsverletzungen und das Verschwinden von „C-Boy“ hat er immer noch nicht.
Am späten Nachmittag des gleichen Tages lagern die Löwen des Vumbi-Rudels wieder am Zebra-Felsen, ein paar Kilometer südlich der Stelle, an der die „Killer“ gestern Nacht ihren aufdringlichen Rundgang unternommen haben. Möglicherweise hat ihr bedrohliches Brüllen das Rudel hierher getrieben, oder aber die Felsen lagen nur auf ihrer üblichen Wanderstrecke. Es sind drei Löwinnen, die friedlich im Schatten liegen, und acht Junge. Eine weitere Löwin des Rudels ist mit ihrem Liebhaber „Hildur“ auf Paarungsstreifzug.
Von „C-Boy“ immer noch keine Spur.
Auch am folgenden Tag bleibt das so. „Hildur“ und seine Partnerin haben sich wieder der Gruppe angeschlossen, „C-Boy“ aber nicht. Rosengren schlägt vor, zu einer anderen Felsformation zu fahren. Mit etwas Glück sei das Rudel Simba East dort zu finden, vielleicht auch der Schwarzmähnige. Die Fahrt geht sanft berg- auf und bergab durch die hügelige Graslandschaft. Rosengren lauscht in seinen Kopfhörern auf das Piepen der Funksignale aus dem Hals- band einer der Simba-East-Löwinnen. Und tatsächlich, sie sind da: Zu dritt und mit drei großen Jungtieren lümmeln sie sich zwischen den im Sonnenschein leuchtenden Felsen. Aber auch hier ist „C-Boy“ nicht.
Jetzt macht sich Rosengren allmählich wirklich Sorgen um ihn. Natürlich gehört es nicht zu seinen Aufgaben, sich um besondere Lieblingslöwen zu kümmern. Er soll lediglich dokumentieren, was sich zwischen den Tieren abspielt. Aber dennoch hat er seine Sympathien. Und jetzt muss er sich anscheinend damit abfinden, dass „C-Boy“ letztlich doch den „Killern“ zum Opfer gefallen ist.
Als die untergehende Sonne der Serengeti den Horizont in die Farbe von Lavendel taucht, fährt er zurück zum Zebra-Felsen. Nichols und Peck sind immer noch dort, ebenso die Löwinnen des Vumbi-Rudels. Sie haben sich im Gras zusammengekauert und stimmen gerade ihr Gebrüll an. Zunächst erhebt sich eine Stimme, dann eine zweite, dann fällt die dritte ein. Das Konzert dröhnt dumpf über die Savanne, unter dem dunkler werdenden Himmel, an dem eine schmale Mondsichel steht. Löwengebrüll kann ganz verschiedene Bedeutungen haben. Dieser Chor klingt nach Geheimnis und Einsamkeit. In den Pausen scheinen die Tiere zu lauschen, aber niemand antwortet.
Nichols und Peck machen sich auf den Weg zum Lager. Rosengren lenkt den Wagen im weiten Bogen neben das ruhende Vumbi-Rudel. Als die Löwinnen erneut zu brüllen beginnen, stimmt diesmal auch „Hildur“ ein. Sein markerschütternder Bass scheint den Landrover schwanken zu lassen. Aber auch seine Stimme verhallt ohne Antwort. Es wird immer wahrscheinlicher, dass „C-Boy“ als „vermisst, vermutlich tot“ in den Forschungsprotokollen registriert werden muss.
Doch dann glaubt Rosengren, in der Dunkelheit ein Schlurfen zu hören. Er greift nach der Taschenlampe und lässt den Strahl wandern, über „Hildur“ und die Löwinnen hinweg. Und jetzt steht im Lichtkegel eine mächtige Gestalt mit sehr dunkler Mähne: „C-Boy“.
Sein Gesicht ist glatt, Flanken und Hinterteil sind unversehrt. Wen auch immer die „Killer“ vorletzte Nacht überfallen haben, er war es nicht. Gemütlich lässt er sich neben der Löwin mit dem Funkhalsband nieder. Er ist jetzt acht Jahre alt, gesund und ansehnlich – einer, der vom Rudel Respekt erwarten kann.
Lange wird es nicht so bleiben. Vielleicht lebt „C-Boy“ noch ein paar Jahre, aber am Ende stehen Altersschwäche, Kämpfe, Wunden, Vertreibung, Hunger und Tod. Die Serengeti kennt keine Gnade für Alte, Behinderte, Schwache oder solche, die einfach nur Pech haben.
„C-Boys“ Schicksal steht fest, sein Ende wird hart und schmerzhaft sein. Aber in diesem Moment sieht er einfach nur zufrieden aus.