Hochsee-Weißflossenhai: Der letzte seiner Art?

Einst beherrschten Hochsee-Weißflossenhaie die Weltmeere – und die Albträume von Seeleuten. Heute sind die eleganten Jäger so gut wie ausgerottet.

Von Glenn Hodges
Foto von Brian Skerry

Zusammenfassung: Sie galten als häufigste Haiart im offenen Meer, beherrschten die Ozeane und die Albträume der Seefahrerer: die Hochsee-Weißflossenhaie. Heute enden die zwei bis vier Meter langen Fische häufig als Beifang an Langleinen oder verenden in Schleppnetzen. Trotzdem interessieren sich weder Artenschützer noch Öffentlichkeit für die vom Aussterben bedrohten Tiere. Es ist fraglich, ob kürzlich ergriffene Schutzmaßnahmen wie Fangverbote, den Untergang der großen Meeresräuber verhindern können.

„Was wir damals sehen durften, wird es wohl nie wieder geben. Jedenfalls nicht zu unseren Lebzeiten. Vielleicht haben unsere Nachkommen ja Glück, aber das glaube ich nicht.“ Mit diesen Worten berichtet die Taucherin Valerie Taylor von einer Begegnung mit einem Schwarm von Hochsee-Weißflossenhaien.

Das Schauspiel ereignete sich während der Dreharbeiten zu der Dokumentation „Blue Water, White Death“ („Blaues Wasser, Weißer Tod“), der 1971 in die Kinos kam. Der Film war aus zwei Gründen sensationell: Zum einen filmten die Taucher erstmals außerhalb schützender Haikäfige die Tiere 150 Kilometer vor der südafrikanischen Küste. Zum anderen lockte ein Walkadaver so viele Haie an, „dass man sie nicht mehr zählen konnte“, wie Taylor berichtet.

Die Filmszene ist das ozeanische Gegenstück zu den wenigen Schwarz-Weiß-Fotos aus dem 19. Jahrhundert, die zeigen, wie riesige Büffelherden durch die nordamerikanische Prärie ziehen. Der letzte große Auftritt einer Art. Ein naturhistorisches Dokument. Hochsee-Weißflossenhaie (auch Weißspitzen-Hochseehai genannt) galten einst als häufigste Haiart im offenen Meer. Heute sieht man die Tiere nur noch selten. Weißflossenhaie, die zwei bis vier Meter lang werden, enden oft als ungewollter Beifang an Langleinen oder verenden in Schleppnetzen.

Eine Studie der Meeresökologin Julia Baum ergab 2004, dass die Population im Golf von Mexiko binnen 50 Jahren geschrumpft ist. Andere Untersuchungen zeigen ähnlich dramatische Rückgänge im Atlantik und im Pazifik. Angesichts solcher Zahlen ist es erstaunlich, dass weder Artenschützer noch die Öffentlichkeit dem Aussterben von Carcharhinus longimanus bislang große Beachtung schenken. Einer der wenigen Forscher, die sich für den Weißflossenhai interessieren, ist Demian Chapman von der Universität Stony Brook im US-Bundesstaat New York. Er sagt: „Wenn ich von dem Tier erzähle, haben die Leute oft keine Ahnung, wovon ich spreche.“

Und wer doch schon einmal von dem seltenen Raubfisch gehört hat, fürchtet sich zumeist vor ihm.

Der Tauchpionier Jacques Cousteau bezeichnete den Hochsee-Weißflossenhai Mitte des vorigen Jahrhunderts sogar einmal als „gefährlichsten aller Haie“. Das schlechte Image der Spezies wurde auch in dem Horrorfilm „Der weiße Hai“ gepflegt. In einem berühmten Monolog erzählt der erfahrene Kapitän Quint, der das Meeresmonster zur Strecke bringen soll, wie er im Zweiten Weltkrieg den Untergang des US-Kriegsschiffs „USS Indianapolis“ überlebte: „1100 Männer gingen ins Wasser, 316 wurden gerettet, der Rest war für die Haie.“

Die Filmszene ist eine Mischung aus historischer Realität und Fiktion: Von den fast 1200 Mann auf der „Indianapolis“ konnten tatsächlich nur 317 gerettet werden. Wahr ist auch, dass damals Haie in großer Zahl gesichtet wurden, bei denen es sich wohl zumeist um Weißflossenhaie handelte. Spricht man mit Überlebenden wie dem heute 92-jährigen Texaner Cleatus Lebow, der nach langen fünf Tagen im Meer gerettet wurde, bekommt man jedoch nicht den Eindruck, als seien die Haie damals sein größtes Problem gewesen: „Das Schlimmste war der Durst. Für einen Becher Süßwasser hätte ich alles gegeben.“ Und die Haie? „Manchmal schwammen sie um uns herum. Sie haben uns aber in Ruhe gelassen.“ Der gleichaltrige Lyle Umenhoffer, der im Herbst 2015 verstarb, machte ähnliche Erfahrungen: „Man musste auf der Hut sein, wenn Haie in der Nähe waren. Kamen sie zu dicht heran, traten wir nach ihnen. Angst hatte ich aber nicht vor ihnen. Wir hatten andere Sorgen.“

Um die Erzählungen der Zeitzeugen einordnen zu können, muss man zwar berücksichtigen, dass die Überlebenden des Untergangs über eine Fläche von mehr als 250 Quadratkilometern verteilt waren und deshalb ganz unterschiedliche Dinge erlebt haben (und ein Mann, der von einem Hai getötet wird, kann auch nicht davon erzählen, dass Haie ja eigentlich ganz harmlos sind).

Als sich im Sommer 2015 aber 14 der 31 noch lebenden Soldaten der „USS Indianapolis“ trafen, beschrieb keiner die Haie als größte Gefahr. In einem gewissen Sinn hatte der Film-Kapitän Quint wohl dennoch recht, als er sagte, „der Rest war für die Haie“.

Weißflossenhaie fressen auch Aas und haben die knapp 1000 menschlichen Leichen sicher nicht verschmäht. Die genaue Analyse der Berichte ist wichtig, wenn man das Image des Weißflossenhais als gefräßiger Killer entkräften und die Art retten will. Womöglich ist es dafür aber auch schon zu spät. Denn ginge heute ein großes Schiff unter, und Tausende Menschen würden im Meer treiben, würden sie wohl nur wenige Haie zu Gesicht bekommen. Das klingt vielleicht beruhigend, ist aber keine gute Nachricht.

Was an Land geschieht, wenn dominante Raubtiere verschwinden, ist bekannt: Es entsteht ein biologisches Chaos. Der Rückgang von Arten an der Spitze der Nahrungskette, heißt es etwa in einem Bericht, der 2011 in dem Fachmagazin „Science“ publiziert wurde, „ist wohl der durchdringendste Eingriff des Menschen in die Natur“. In Teilen Afrikas haben geschrumpfte Löwen- und Leopardenbestände zum Beispiel dazu geführt, dass Paviane sich unkontrolliert vermehren – und damit auch ihre gefährlichen Darmparasiten, die nun immer häufiger auch Menschen befallen. In dem „Science“-Artikel warnen die Wissenschaftler vor Pandemien, die sich auf solche Art und Weise ausbreiten könnten. Eine ähnliche Rolle wie die großen Raubkatzen an Land spielen die Weißflossenhaie in den maritimen Ökosystemen. Was ändert sich dort, wenn sie aussterben? Wir haben keine Ahnung. Null.

Das Verschwinden der Haie ist für den Menschen womöglich gefährlicher als die Raubtiere selbst. Valerie Taylor hat bei den Dreharbeiten zu „Blue Water, White Death“ ähnliche Erfahrungen gemacht wie die Überlebenden der „Indianapolis“: Weißflossenhaie sind nicht schüchtern; wenn sie sich Menschen nähern, rempeln sie sie auch mal an. Solange die Taucher aber in der Gruppe bleiben und sie mit Händen und Füßen auf Distanz halten, greifen sie meist nicht ernsthaft an. „Die Haie haben uns genau untersucht“, berichtet Taylor. „Irgendwann kamen sie wohl zu dem Schluss, dass wir die Mühe nicht wert sind, und verschwanden.“

Das bedeutet aber nicht, dass der Weißflossenhai keine Gefahr für den Menschen darstellt. Die Hochsee ist schließlich ein ökologisches Ödland, nur selten treffen die Haie hier auf potenzielle Beute, weshalb sie weder Zeit noch Energie verschwenden, wenn ihnen endlich mal eine Delikatesse vor das riesige Maul schwimmt. Entdecken sie einen Schwarm Thunfische, einen toten Wal oder eine Gruppe Schiffbrüchiger, schwimmen sie sofort hin, um die Gelegenheit zu prüfen. Ist ein Taucher also der einzige Proteinlieferant im Umkreis von hundert Seemeilen, wird der Weißflossenhai zu einem potenziell gefährlichen Angreifer. Andernfalls jagt er einem höchstens einen Schreck ein.

Es gibt nur wenige Forscher, die das Glück hatten, Hochsee-Weißflossenhaie bei der Jagd zu beobachten. Als Fischereibiologen Mitte des 20. Jahrhunderts im Golf von Mexiko den Mageninhalt einiger Raubfische untersuchten, fanden sie zu ihrer Überraschung fünf bis neun Pfund schwere Thunfische. Eigentlich sind die Haie aber viel zu langsam für die Jagd auf kleine Thunfische. Eines Tages beobachteten die Forscher eine Hai-Gruppe, die nahe der Wasseroberfläche mit aufgerissenen Mäulern durch einen Thunfischschwarm schwamm. „Die Haie versuchten gar nicht, sie zu jagen oder nach ihnen zu schnappen“, berichteten die Wissenschaftler, „sie warteten einfach darauf, dass ihnen ein Fisch ins Maul schwamm.“

Es ist nicht ohne Ironie, dass die Forscher, die das Spektakel dokumentierten, indirekt dazu beitrugen, dass wir heute so etwas nicht mehr erleben können und die Hai-Population in den folgenden Dekaden stark zurückging. „Die Forscher wollten herausfinden, welche Formen der Fischerei in amerikanischen Gewässern rentabel wären“, sagt die kalifornische Meeresökologin Julia Baum. „Zu diesem Zweck legte man damals Langleinen zum Thunfischfang aus“, erzählt Baum. Die Raubfische fraßen die Thunfische, die bereits am Haken hingen, und waren dann selbst gefangen. Baum sagt: „Es waren so viele Haie, dass man bezweifeln musste, ob ein kommerzieller Thunfischfang überhaupt möglich sein würde.“

Die Fischer ließen sich nicht entmutigen und fanden zwei Lösungen für das Problem: Zum einen schossen sie Haie, ehe diese die Thunfische an den Haken fressen konnten. Zum anderen legten sie eigene Leinen zum Haifischfang aus, weil sie bald realisierten, dass sich mit dem Verkauf von Haifischflossen in Asien viel Geld verdienen lässt.

Diese Methoden und Faktoren sind für die Abnahme aller Haiarten verantwortlich – die Weißflossenhaie litten jedoch besonders darunter. 2010 untersagten die fünf größten internationalen Fischereiverbände, die den Schwert- und Thunfischfang kontrollieren, ihren Schiffen den Fang von Weißflossenhaien komplett. Keine andere Haiart genießt bislang einen ähnlichen Schutz. Das Washingtoner Artenschutzübereinkommen erließ im Jahr 2013 zudem Regeln, die den legalen Handel mit Haifischflossen weiter erschweren sollen.

Offen ist, ob diese Schutzmaßnahmen ausreichen oder möglicherweise bereits zu spät kommen. Es gibt Fischarten, die sich schnell von zeitweiliger Überfischung erholen, weil die Individuen schnell Geschlechtsreife erlangen und die Weibchen viele Tausend Eier produzieren. Die meisten Haiarten dagegen sind erst im Alter von einigen Jahren fortpflanzungsfähig und bringen nur alle ein bis zwei Jahre wenige Junge zur Welt. Im Fall der Hochsee Weißflossenhaie „sind wir nicht einmal sicher, ob sie sich jedes Jahr oder seltener reproduzieren“, sagt der Meeresbiologe Edd Brooks. Auch wenn strenge Umweltschutzregeln eingeführt werden, braucht die Population deshalb sehr lange, um sich von der Überfischung zu erholen.

Edd Brooks gehört zu einem Forscherteam der Universität Stony Brook, das seit 2010 vor Cat Island in den Bahamas Weißflossenhaie mit Peilsendern versieht, um die Lebensweise und das Verhalten der Tiere erstmals systematisch zu erforschen. „Wie soll man eine Art schützen, über die man kaum etwas weiß?“, fragt Brooks. Cat Island ist laut Brooks die einzige Insel auf der Welt, vor deren Küste die Haie noch in größerer Anzahl vorkommen.

Das Eiland liegt am Rand des amerikanischen Festlandsockels. Die atlantische Tiefsee reicht bis dicht an die Küste heran – ein idealer Lebensraum für Hochseefischarten wie Blauer Marlin, Thunfisch und Weißflossenhai. „Es war wie ein Traum“, sagt die Meeresbiologin Lucy Howey, die das Forscherteam leitet, zu dem auch Brooks und Demian Chapman gehören, über ihre Arbeit auf den Bahamas. „Wir hatten nicht mehr daran geglaubt, dass wir irgendwo Weißflossenhaie in größerer Zahl finden würden.“ Die Wissenschaftler nutzten die Gelegenheit und statteten etwa hundert Weißflossenhaie mit Peilsendern aus, um damit ihre Bewegungsdaten aufzuzeichnen. Dabei kam heraus, dass die Haie zwar lange Strecken im offenen Atlantik zurücklegen, einen Großteil des Jahres aber in den geschützten Gewässern der Bahamas verbringen.

Die Wissenschaftler entdeckten außerdem, dass Weißflossenhaie 93 Prozent ihres Lebens zwischen der Wasseroberfläche und einer Tiefe von 100 Metern verbringen. In dieser Meereszone jagen Fischer auch Thunfische und andere Arten – so ist der Rückgang des Hai-Bestandes zu erklären. Eine Möglichkeit, die Spezies zu schützen, besteht darin, die Fischerei in diesen Bereichen neu zu regulieren. In den Gewässern der Bahamas ist die Langleinenfischerei bereits seit den 1990er Jahren verboten, seit 2011 gilt ein Handelsverbot für alle Haiarten. Solche Schutzgebiete sind unerlässlich, wenn sich die Hai-Population je wieder erholen soll.

Aber auch rund um Cat Island ist die Art seltener, als die Wissenschaftler ursprünglich dachten. Insgesamt leben dort wohl nur 300 Weißflossenhaie. Zu dieser Erkenntnis kamen die Forscher um Lucy Howey, weil ihnen in den fünf Jahren, in denen sie Haie markieren, sehr viele Individuen mehrmals ins Netz gingen. Das bedeutet, dass sich in der eingangs erwähnten Szene der Doku „Blue Water, White Death“ an einem einzigen Tag mehr Weißflossenhaie um einen Walkadaver drängten, als heute in ihrem weltweit wichtigsten Habitat über ein ganzes Jahr hinweg beobachtet werden können.

Die Forscher wissen nicht, ob es irgendwo in den Ozeanen noch andere größere Bestände gibt. Hochsee-Weißflossenhaie werden häufig im Roten Meer, vor den Cayman-Inseln und rund um Hawaii gesichtet. Aber es handelt sich zumeist um einzelne Tiere oder kleine Gruppen. Um die Haie zu schützen, will Howeys Team nun ein weiteres Rätsel lösen: Viele Weibchen vor Cat Island waren zwar trächtig, es gibt aber keine Anzeichen dafür, dass sie ihre Jungen auch dort zur Welt bringen. „Wir haben in den Bahamas noch nie Junge gesehen“, sagt Howey. „Wenn wir die Aufzuchtgebiete kennen, können wir versuchen, die Areale unter Schutz zu stellen. Das wäre ein wichtiger Schritt zum Erhalt der Art.“

Die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen, die relativ intakten Meere und der Fischreichtum, die noch in den 1950er-Jahren existierten, sind für uns fast unvorstellbar. Eine der wenigen Regionen, die von dieser Entwicklung ausgenommen sind, ist das Meer um Kuba. Das Handelsembargo, mit dem die USA das sozialistische Castro-Regime über fünfzig Jahre belegt hatten, behinderte nicht nur die wirtschaftliche Entwicklung der Insel, sondern auch die Ausbeutung von Naturschätzen vor ihren Küsten. Die Meeresschutzgebiete vor Kuba sind deswegen weitestgehend unangetastet geblieben.

Derzeit arbeiten die Kubaner an einem Plan, der Haie auch nach Ende der Blockade schützen soll. Seit 2010 untersuchen kubanische Biologen den Fang von Hochseefischern. Die Ergebnisse erstaunten Wissenschaftler auf der ganzen Welt: Weißflossenhaie waren nicht nur die dritthäufigste Art, es fanden sich auch halbwüchsige und sehr junge Exemplare. Vielleicht dauert es also nicht mehr lange, bis die Kinderstube des Hochsee-Weißflossenhais gefunden und unter Schutz gestellt wird.

(NG, Heft 08 / 2016, Seite(n) 64 bis 75)

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