Orcas: Und draußen das Meer...

Noch immer müssen Tausende gefangene Delfine vor Publikum Kunststücke vorführen. Doch einige dürfen wieder zurück in den Ozean – nachdem man ihnen das Leben in Freiheit beigebracht hat.

Von Tim Zimmermann
Foto von AFP/Getty Images, Marten van Dijl

Zusammenfassung: Obwohl Orcas und Delfine zu den intelligentesten Wesen unseres Planeten gehören, werden viele der Tiere noch immer in Gefangenschaft gehalten. Weltweit gibt es etwa 300 Ozeanparks, in denen die Meeressäuger Kunststücke vorführen müssen. Ob das ethisch vertretbar ist, wird kontrovers diskutiert. Der amerikanische Meeresbiologie Jeff Foster hat es sich derweil zur Aufgabe gemacht, zwei Delfine auszuwildern, die jahrelang in Gefangenschaft gehalten wurden. Sie werden nun auf ein Leben in Freiheit vorbereitet.

Den Delfinen Tom und Misha ging es schlecht, als Jeff Foster sie zum ersten Mal sah. Foster war aus Seattle an die Südwestküste der Türkei gekommen, in eine Bucht nahe des Dörfchens Karaca. In einem schwimmenden Käfig nicht weit vom Ufer, gerade einmal 30 Meter im Durchmesser und nur 15 Meter tief, zogen die beiden Großen Tümmler langsam Runde um Runde.

Es war Januar 2011, und in Karaca wusste man wenig über diese Delfine. Nur, dass sie im Jahr 2006 in der Ägäis gefangen worden waren, dass damals in einem Delfinpark im Küstenstädtchen Kaş; ihr Käfigleben begonnen hatte. Und dass sie nach vier Jahren an einen noch tristeren Ort gebracht worden waren.

Per Lkw hatte man sie eine kurze Strecke landeinwärts transportiert und in ein grob gemauertes Betonbecken in der Gebirgsstadt Hisarönü gesetzt. Dort durften sich Touristen für 40 Euro an ihren Rückenflossen festhalten und zehn Minuten lang durchs Wasser ziehen las- sen. Hisarönü besteht hauptsächlich aus billigen Hotels und zwielichtigen Bars mit wummernder Musik. Einen unpassenderen Ort für zwei im Ozean geborene Delfine kann man sich kaum vorstellen. Auch das neue Zuhause der Tiere war verstörend, das Filtersystem des Beckens arbeitete schlecht, und der Boden war bald mit totem Fisch und Delfinkot bedeckt.

Es dauerte nur wenige Wochen, dann hatten die weltweite Empörung im Internet und der Aufschrei von einheimischen Tierfreunden dazu geführt, dass das Delfinarium geschlossen wurde. Anfang September 2010 schaltete sich die britische Born Free Foundation ein, eine Stiftung, die sich für den Schutz von Wildtieren engagiert. Ihre Mitarbeiter verfrachteten die beiden Delfine in ein mit alten Matratzen aus- gelegtes Kühlfahrzeug und transportieren sie zu einem neuen Gehege im Meer. So kamen Tom und Misha nach Karaca.

Und hier trafen sie auf Foster. Der 55-Jährige ist Experte für Meeressäuger und sollte Born Free bei einem äußerst ehrgeizigen Vorhaben unterstützen: Tom und Misha aufzupäppeln und nach Jahren der Gefangenschaft auf eine Auswilderung in der Ägäis vorzubereiten.„Der Umgang mit solchen Tieren ist schwierig, das Risiko, dass es schiefgeht, war sehr hoch“, sagt Will Travers, Geschäftsführer von Born Free. „Aber uns war auch klar: Wenn wir nichts unternehmen, werden sie sterben.“

Delfine gehören zu den intelligentesten Wesen unseres Planeten: Sie sind sich bewusst, hochsozial, mit einem großen und komplexen Gehirn ausgestattet. Sie verständigen sich untereinander und verwenden Signaturpfiffe, die unterschiedlichen Namen entsprechen. Sie verstehen abstrakte Begriffe und haben ein Grundverständnis für Grammatik und Satzbau. Seit man weiß, wie klug und sensibel diese Tiere sind (siehe „Wir müssen reden“, NATIONAL GEO ­ GRAPHIC 5/2015), wird noch mehr darüber diskutiert, ob der Mensch Delfine in Aquarien und Zoos halten darf, ob es ethisch vertretbar ist, sie zum Vergnügen von Touristen einzusperren.

In den 50 Jahren, ehe sich Born Free und Jeff Foster an das Training von Tom und Misha machten, waren weniger als drei Dutzend Delfine nach langer Gefangenschaft freigelassen worden. Nicht alle hatten überlebt. Doch bei Tom und Mischa wollte man anders vorgehen. Man wollte ihnen das Wildsein wieder bei­ bringen – und dafür alle Möglichkeiten der Wissenschaft nutzen. Dabei ging es nicht nur um die Rettung dieser beiden Tiere, sondern auch darum, einen Beweis zu erbringen: dass es für bereits „domestizierte“ Tiere eine Alternative gibt zu lebenslanger Gefangenschaft. Ein Erfolg mit Tom und Misha“, sagt Travers, „würde mehr Menschen zum Nachdenken anregen. Es würde das Vorführen von Delfinen Infrage stellen.“ Das Projekt war eine Chance für Tom und Misha, wieder frei zu leben. Es war eine Chance für Born Free, die Einstellung der Menschen zur Kreatur zu beeinflussen. Und auch Jeff Foster bot es eine Chance: frühere Taten an den Tieren wieder gutzumachen.

Foster tritt auf wie ein Hippie, er hat lange blonde Haare und die sonnengegerbte Haut eines Mannes, der selten Büroräume von innen sieht. Der Sohn eines Tierarztes aus Seattle hat schon als 15­-Jähriger im Meerwasseraquarium seiner Heimatstadt gearbeitet. 1976, da war er 20, begann er, in Island ein Unternehmen für den Fang von Orcas mitaufzubauen. Bis 1990 fing er vor der Küste der USA und Islands zwei Dutzend Orcas für SeaWorld, eine weltweite Kette von Wasserparks. Zusätzlich fing er kleinere Delfine, Seelöwen, Robben und andere Wildtiere für Delfinarien.

Ob Tom und Misha ihm tatsächlich helfen könnten, seine alte Schuld abzutragen, wusste Foster nicht. Doch eines war klar: Er hatte ein gutes Gefühl bei diesem Projekt. Seinen ersten Orca hatte er gefangen, weil ihm der Job spannender erschien, als Burger zu braten. Außerdem hielt er es für die beste Methode, eine wenig bekannte Art besser zu erforschen. Doch als er die Klagerufe der erbeuteten Jungtiere auf dem Deck des Fangschiffs hörte, merkte er, dass die Sache etwas komplizierter war. Er versuchte, die verängstigten und verzweifelten jungen Orcas mit seinen Händen und seiner Stimme zu beruhigen. Er weigerte sich auch, die Tiere hungern zu lassen, um sie gefügig zu machen. „Je öfter man so etwas macht, desto klarer wird einem, dass man Familien auseinanderreißt“, sagt er. „Man kann kein gutes Gefühl dabei haben, wenn man ein Wesen aus seiner Welt herausreißt.“

Es war nicht ohne Ironie, dass ausgerechnet diese einschlägigen Erfahrungen Foster für seine neue Aufgabe qualifizierten. Die Mitarbeiter von Born Free betrachteten ihn argwöhnisch. „Jeff kam aus der Fangbranche, das machte uns nervös“, sagt Alison Hood, die das Projekt „Tom und Misha“ betreute. „Aber er hat nun mal ein unglaubliches Wissen, und wir hatten die Verantwortung für die beiden Delfine übernommen und mussten ihnen die beste Chance verschaffen, egal wie.“

Es würde etwa sechs bis acht Monate dauern und 500000 Dollar kosten, Tom und Misha zu trainieren und auf die Auswilderung vorzubereiten, hatte Foster am Anfang geschätzt: das Gehege, das Personal, die Ausrüstung, die lebenden Futterfische. Born Free hoffte, mit weniger als der Hälfte des Geldes auszukommen. Am Ende wurde es doppelt so viel.

Ein Delfin in Gefangenschaft hat zwar den gleichen Körperbau und das gleiche genetische Programm wie ein wilder, doch ansonsten ist er in vielerlei Hinsicht ein anderes Tier. Das Leben eines Delfins im Ozean ist unberechenbar. Ein wilder Delfin pflegt soziale Kontakte und jagt über weite Strecken, ist ständig unterwegs, begegnet vielen anderen Arten und ständig neuen Situationen. Nur zum Atmen taucht er auf, ansonsten verbringt er den größten Teil des Lebens unter Wasser.

Das Leben im Wasserpark ist genau das Gegenteil. Die Umgebung ist eng und karg, gelebt wird nach der Uhr, Futter zu suchen oder zu jagen ist unnötig. Außer zum Training und für die Shows müssen sich die Delfine auch nicht viel bewegen. Vor allem verändert sich ihr Fokus: Die Überwasserwelt ist wichtiger als die Welt unter Wasser. Fast alles – vom Füttern über das Training und die Anweisungen während der Shows bis hin zum Applaus des Publikums – findet oben statt. Wilde Delfine verbringen geschätzt 80 Prozent ihrer Zeit tief unter Wasser. Delfine in Gefangenschaft dagegen halten sich 80 Prozent der Zeit nahe der Oberfläche auf.

Seinen letzten Orca für ein Aquarium hatte Foster 1990 gefangen, seitdem befasste er sich zunehmend mit der Erforschung wildlebender Wale und Delfine. Er war von 1996 bis 2001 auch am Versuch der Auswilderung von Keiko beteiligt, dem Orca aus dem Kinofilm „Free Willy“. 2002 war Keiko hinaus ins offene Meer vor Island geschwommen, aber schon im folgenden Jahr an einer Lungenentzündung gestorben. Nach diesem Experiment arbeitete Foster mit mehr Erfolg an der Auswilderung eines jungen Orcaweibchens, das vor der Küste des Bundesstaats Washington allein und unterernährt auf­ gefunden worden war.

„Die Leute von den Delfinarien denken jetzt, ich befreie Tiere. Und so misstrauen mir beide Seiten“, sagt Foster. „Dabei bin ich gar nicht grundsätzlich gegen die Haltung von Walen und Delfinen. Ich will einfach nur das Richtige tun.“ Als Delfinfänger sei sein Hauptanliegen immer gewesen, die Bedürfnisse der Tiere zu verstehen und ihnen die belastende Umgewöhnung von der Natur zur Menschenwelt zu erleichtern.

Mit der Zeit lernte er Tom und Misha immer besser kennen. Tom war der Kleinere, Verspieltere und vermutlich Jüngere von beiden. Er wirkte zutraulicher und schien sich besser an das Leben in Gefangenschaft angepasst zu haben. Wenn jemand an das Gehege kam, schwamm er meistens hin, als wollte er fragen: „Na, was ist? Hast du mir was mitgebracht?“. Misha dagegen war zurückhaltend und allem Neuen gegenüber misstrauisch. Als Foster ihm beibringen wollte, sich aus der Schwanzflosse Blut abnehmen zu lassen, floh Misha schon beim Anblick der Spritze. Beim folgenden Versuch blieb er in der Mitte des Geheges und winkte mit der Schwanzflosse, als wollte er sagen: „Nur gucken, nicht anfassen.“ Auf die Menschen ließ er sich nur widerwillig ein, oft schaute er aus dem Gehege hinaus ins offene Meer.

Es ging nicht nur darum, den beiden beizubringen, wie man lebenden Fisch fängt, ihren Kontakt zu Menschen zu verringern und am Ende das Tor aufzumachen. Foster musste sie regelrecht neu konditionieren. Und dafür musste er mit denselben Instrumenten und Methoden arbeiten, mit denen in Wasserparks auf der ganzen Welt Delfine für das Leben im Becken gedrillt werden.

Tom und Misha mussten sich daran gewöhnen, dass jemand ihre Schwanzflosse zum Blutabnehmen befingerte und dass er sie zur Vorbereitung auf den Nadelstich mit dem Daumennagel kniff. Sie mussten lernen, weitere Vorsorgemaßnahmen über sich ergehen zu lassen, zum Beispiel einen Abstrich von Bakterien aus den Blaslöchern. Um sie für das Leben im Ozean fit zu machen, musste Foster sie außerdem zum Kraft­ und Ausdauertraining bewegen, mit Schwimmsprints, Sprüngen, wiederholten Läufen auf der Schwanzflosse. „Wir mussten sie dressieren, wieder wild zu werden.“

Für anstrengendes Training braucht man Kalorien, also gewöhnte Foster den Delfinen zunächst einmal ihre mäkligen Fressgewohnheiten ab und machte ihnen die Fischarten wie­ der schmackhaft, die sie in der Ägäis jagen würden, zum Beispiel Meeräschen, Sardellen und Sardinen. Er bot ihnen ihre künftigen Beute­ fische an und belohnte sie, wenn sie welche fraßen, zusätzlich mit Makrelen, ihrem Lieblingsfutter. Die Unvorhersehbarkeit der freien Natur imitierte Foster, indem er zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich viele Fische ins Becken warf. „Die Tiere hatten eine innere Uhr entwickelt und wussten genau, wann sie gefüttert werden“, erklärt er. „Das mussten wir rückgängig machen, denn in freier Natur finden sie am einen Tag mehr, am anderen weniger.“

Um ihr Gehirn auf Trab zu bringen, warf er Wesen in das Gehege, die die Delfine lange nicht mehr gesehen hatten: Tintenfische, Quallen, Krabben. In einen PVC-Schlauch schnitt er Löcher, stopfte ihn voller toter Fische und warf ihn ins Wasser. Tom und Misha mussten eine Weile herumprobieren, ehe sie heraushatten, wie sie an das Fressen kamen. Der Schlauch hatte zwei weitere Vorteile. Er trieb etwa anderthalb Meter unter der Wasseroberfläche und erinnerte Tom und Misha daran, dass Futter unter Wasser zu finden ist. Außerdem waren auf diese Weise Mensch und Versorgung voneinander getrennt. „Sie sollten begreifen, dass es Futter nicht nur aus einem Silbereimer gibt“, sagt Amy Souster, eine junge Delfintrainerin, die Foster mit in das Projekt geholt hatte.

Die Schulung der Tümmler dauerte vom Herbst 2010 bis in den Frühling 2011, sie umfasste bis zu 20 Lerneinheiten pro Tag. Als der Sommer kam, hoffte Foster, Tom und Misha würden vielleicht schon in wenigen Monaten bereit sein, doch als die Wassertemperatur in der Bucht auf 26 Grad und mehr anstieg, verlo- ren die beiden den Appetit und zogen sich eine Infektion zu. Nur künstliche Ernährung und starke Antibiotika bewahrten sie vor dem Tod. Richtige Freunde waren die beiden Delfine trotz ihrer langen gemeinsamen Gefangenschaft nicht geworden. Umso mehr berührte es Amy Souster zu sehen, wie sich Misha um den kranken Tom sorgte, wie er ihn zum Atmen an die Wasseroberfläche schob und ihm Fisch brachte, um ihn zum Fressen zu bewegen.

Dann kam noch ein Problem hinzu: Einige Dorfbewohner von Karaca hatten gegen Ende des Sommers mehr als deutlich zu verstehen gegeben, dass das Delfinprojekt ihnen allmäh- lich lästig war, dass sie ihre Bucht wieder für sich haben wollten. Reifen der Autos von Born Free wurden aufgeschlitzt, es gab Schlüssel- kratzer im Lack und schließlich sogar Vergewaltigungsdrohungen gegen Mitarbeiterinnen. Also wurde das Meeresgehege samt Tom und Misha im Oktober 2011 vorsichtig auf die andere Seite der Bucht gezogen und neben ei- ner Segelakademie festgemacht. Foster und sein Team verdoppelten nun den Umfang des Delfintrainings, sie legten besonderen Wert auf die Steigerung der Kondition, ließen die Delfine im Gehege hin- und zurücksprinten oder zehn Runden am Rand des Geheges entlangschwimmen – und zwar so schnell wie möglich.

Am neuen Standort setzte Foster auch eine seiner Innovationen aus dem Keiko-Projekt ein: Mit einem Katapult schoss er Fische gezielt in verschiedene Winkel des Geheges. Die Delfine bekamen so nicht nur Futter ohne direkte Interaktion mit dem Menschen, das Katapult animierte Tom und Misha auch, sich noch mehr zu bewegen, so wie wilde Delfine in freier Natur. Schon bald reichte das „Plop“ des Katapults, um ihre Such- und Jagdreflexe auszulösen. „Damit war die Zeit gekommen, sie wieder an lebende Beutefische zu gewöhnen“, sagt Foster.

Selbst eingefangene wilde Delfine vergessen in Gefangenschaft offenbar komplett, dass sie normalerweise lebende Fische jagen und fressen. Durch das Gehege schwimmende Schwärme betrachten Tom und Misha, als würden sie einen Tierfilm im Fernsehen bestaunen. Also mischte Foster die lebende Beute unter die toten Futterfische.

Anfangs wurden die Lebenden noch mit einem Schlag auf den Kopf oder einem abgeschnittenen Schwanz fluchtunfähig gemacht. Da Tom und Misha es inzwischen gewöhnt waren, nach allem, was ins Wasser platschte, um die Wette zu schwimmen, verschlangen sie die lebenden Fische zusammen mit den toten. Mit der Zeit steigerten die Trainer den Anteil der Lebendfische, bis die Delfine sich wieder an den Geschmack gewöhnt hatten – und an die Idee, sich ihre Mahlzeiten selbst zu fangen. Als Nächstes setzte Foster die lebenden Fische in Behältern mit ferngesteuertem Verschluss aus, an verschiedenen Stellen und in unterschiedlichen Tiefen. So wurden Tom und Misha noch stärker dazu animiert, ihre Aufmerksamkeit wieder von der Oberfläche nach unten zu richten. Die Delfine verbrachten immer mehr Zeit damit, am Boden des Geheges nach Beute zu stöbern. Manchmal lockten sie nun sogar Fische aus ihren Verstecken hervor, indem sie die Beute mit Luftblasen aus ihren Atemlöchern aufschreckten.

Amy Souster war anfangs äußerst skeptisch gewesen, ob sich die Delfine erfolgreich aus- wildern lassen. Doch sie sah, wie sich Tom und Misha veränderten: „von lethargischen, menschenbezogenen Tieren, die auf Essen aus Eimern fixiert waren, zu solchen, die wieder lebende Fische jagten und sich wie ihre wilden Artgenossen verhielten. Es war unglaublich.“ Foster sah es genauso. Die Zeit war gekommen, das Tor zu öffnen.

Der 9. Mai 2012 war ein kühler Tag mit kobaltblauem Himmel. Eine Traube von Born- Free-Mitarbeitern und Helfern versammelte sich in der Nähe des Geheges. Früh am Morgen hatte man beiden Tieren Sender an den Rückenflossen befestigt, um verfolgen zu können, wie sie sich in der Ägäis zurechtfinden. „Nun kam der Moment der Gewissheit: Wenn sie sechs Monate lang überleben, können wir sagen, dass die Auswilderung erfolgreich war“, erklärt Foster. „Wenn es ihnen nicht gut geht, wenn einer der beiden langsamer und sein Bewegungsradius immer kleiner wird, wissen wir, dass er nicht genug zu fressen hat.“

Dann öffnete ein Taucher die Tür im Netz des Geheges. Tom und Misha aber schienen dem Angebot nicht zu trauen. Sie blieben an Ort und Stelle und schwammen vorsichtig umher. 20 Minuten vergingen. Als das Warten unangenehm wurde, streckte Amy Souster ihren rechten Arm aus und bewegte ihn vor dem Körper nach unten – es war die letzte menschliche Anweisung, die Tom und Misha bekommen würden: „Schwimmt von A nach B.“ Tom gehorchte, wie meistens, und schwamm aus dem Gehege. Etwa zehn Meter davor wartete er. Wie gewöhnlich folgte Misha Toms Bei- spiel, schoss aber sogleich an ihm vorbei und flitzte zur Mündung der Bucht. Tom jagte ihm hinterher. Falls es Zweifel gegeben hatte, ob die beiden so lange eingesperrten Delfine das offene Meer lieben würden, waren diese schnell beseitigt. „Nach sechs Stunden fraßen sie bereits selbst erbeutete Fische und gesellten sich zu einem anderen Delfin“, berichtet Foster. „Es war fantastisch.“

Die Signale der Sender zeigten, dass die beiden zunächst gemeinsam Richtung Izmir schwammen. Nach fünf Tagen trennten sich ihre Wege. Foster war nicht überrascht. Tom schwamm weiter nach Westen, Misha wendete sich nach Süden und Osten. „Als er weg war, war er weg“, sagt Foster.

Toms Sender funktionierte fünf Monate, bis Mitte Oktober, Misha sendete bis Ende November. Foster und Born Free hatten gehofft, die Geräte würden neun Monate oder länger halten, aber es hatte gereicht, um zu wissen, dass sich die Delfine an ihr neues Leben in der Ägäis gewöhnt hatten. 20 Monate Arbeit und eine Million Dollar hatte es gekostet, und nun war der Beweis erstmals erbracht: Gefangen gehaltene Delfine können wieder lernen, frei im Ozean zu überleben.

Es war der erste gelungene Versuch einer Auswilderung, der ausführlich dokumentiert wurde. Es dauerte ein Jahr, bis der nächste folgte, am anderen Ende der Welt, im Chinesischen Meer vor der Spitze Südkoreas. Am 18. Juli 2013 öffneten sich vor der Insel Jeju die Netzwände eines Geheges. Zwei Indopazifische Tümmler, Jedol und Chunsam, lungerten noch kurze Zeit unentschlossen herum, dann schwammen sie hinaus in den offenen Ozean. Zusammen mit einem Weibchen namens Sampal waren sie zwischen 2009 und 2010 illegal aus einer Schule mit etwa 120 wilden Delfinen gefangen und an Pacific Land verkauft worden, einen Wasser­ park auf der Insel. Eine koreanische Tierschutzorganisation erwirkte per Gerichtsbeschluss ihre Freilassung.

Für die Shows hatte man den drei Delfinen die üblichen Kunststücke beigebracht: Sprünge, Schwanzflossenläufe, Saltos und Schwanzwinken. Jedol war später in den Zoo von Seoul gekommen. Nach dem Freilassungsbeschluss brachte man Chunsam und Sampal Anfang April 2013 in das Meeresgehege vor Jeju, Jedol folgte einen Monat später. Dann schickte der Seouler Zoo einen Trainer, der die Delfine auf die Freiheit vorbereiten sollte.

Die Tiere waren gesund und gut in Form, außerdem waren sie erst gefangen worden, als sie schon älter und erfahrener waren. Eine Auswilderung schien also einfacher als bei Tom und Misha, und dennoch gab es Zweifel.

„Anfangs dachte ich, es wäre Unsinn, Jedol freizulassen, weil er an das Becken und an toten Fisch gewöhnt war. Vier Jahre in Gefangenschaft sind eine sehr lange Zeit“, sagt sein Trainer Joo Dong Seon. „Ich war nicht sicher, ob er es wieder hinbekommen würde, selber zu jagen. Aber dann konnte ich mich davon überzeugen, wie schnell Delfine lernen.“

Wie bei Tom und Misha wurde der Kontakt zu Menschen reduziert und den Tieren bei­gebracht, Fische zu fangen. Es dauerte nur ein paar Wochen, dann waren die Delfine wieder in der Lage, sich selbst zu versorgen. Nahrungsaufnahme, Fitness, Gewicht und Gesundheitszustand wurden genau protokolliert, um den besten Zeitpunkt für die Freilassung zu bestimmen.

Aber Sampal hatte ihren eigenen Kopf. Am 22. Juni machte sie sich durch ein kleines Loch im Gehege davon, nicht ohne zuvor eine ausgiebige Fütterung genossen zu haben. Anhand von Fotos konnten die Forscher ein paar Tage später bestätigen, dass sie sich einer Schule wilder Delfine angeschlossen hatte.

Jedol und Chunsam wurden drei Wochen später freigelassen. Ihre Rückenflossen hatte man mit haltbaren Nummern gekennzeichnet, beide erhielten einen Sender, der nach etwa drei Monaten abfiel. Bald schlossen sie sich Sampal und ihrer Schule an. Die Erfahrungen, die man mit Tom und Misha in der Türkei gemacht hatte, waren bestätigt.

Allerdings gibt es nicht für alle Delfine in Menschenhand einen Weg zurück in die Freiheit. „Etwa ein Drittel der Tiere kommen für die Auswilderung infrage“, sagt Naomi Rose, die als Meeresbiologin am amerikanischen Animal Welfare Institute arbeitet und die koreanische Tierschutzorganisation beraten hat.

Auch Jeff Foster will die Auswilderung nicht generell befürworten. Zwar sagt er, dass er nicht mehr beim Fang für Delfinarien helfen würde und dass für viele Delfine die Freilassung sicher gut sei, auch für eingefangene wilde Orcas. Aber er glaubt noch immer, dass die Präsentation von Delfinen die Einstellung der Menschen zu den Tieren verbessern könne – wenn man es richtig mache. Wenn das veraltete Modell mit künstlichen Becken und Shows im Zirkusstil durch Gehege im Meer ersetzt würde, mit offenen Toren und Bildungs­ und Forschungsprogrammen. „Die Tiere hätten dann die Wahl“, sagt er. „Tom würde wohl bleiben. Misha wäre sofort weg.“ Die Debatte wird anhalten, aber Tom und Misha haben ihren Teil schon beigetragen.

Die Geschichte der drei anderen Delfine hat noch ein weiteres Kapitel. An einem schönen Tag im Mai 2014 sichtete die Besatzung eines kleines Fischerboots eine Schule von 60 bis 70 Indopazifischen Delfinen, die an der Nordostküste der Insel Jeju entlangzogen. Einige jagten. Andere spielten. Die Kälber versuchten etwas hektisch, ihren Müttern hinterherzukommen. Es waren wilde Delfine, die ihr wildes Delfinleben lebten, eine komplexe Gemeinschaft mit eigenen Bräuchen, einem eigenen Rhythmus, eigenen Prioritäten.

Plötzlich tauchte in Sichtweite der Menschen ein Delfin mit einer kleinen weißen „1“ auf der Rückenflosse auf: Jedol. Kurz danach kam die „2“ in Sicht: Chunsam. Die Zahlen wirkten bizarr und in dem wilden Getümmel fehl am Platz. Gleichzeitig waren sie der bewegende Beweis, dass die beiden Delfine hier genau richtig waren: im offenen Ozean, wo sie zur Welt gekommen waren und wo sie jetzt den Rest ihres Lebens verbringen würden.

(NG, Heft 7 / 2015, Seite(n) 86 bis 105)

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