Antarktis von mehr Schmelzwasser bedeckt als vermutet

Auch wenn die Implikationen für den Anstieg des Meeresspiegels unklar sind, sollte eine neue Studie Forschern ein besseres Verständnis dafür ermöglichen, welche Auswirkungen das Klima auf den Kontinent hat.

Von Michael Greshko
Veröffentlicht am 9. Nov. 2017, 03:31 MEZ
Antarktis
In der Antarktis ist es mitunter schwierig zu sagen, wo das Land aufhört und das (gefrorene) Wasser beginnt.
Foto von Mario Tama, Getty

Ein überraschend großes Netzwerk an Wasserwegen zieht sich durch die antarktischen Eisschelfe – die schwimmenden Eiszungen, die sich von den Küsten des Kontinents aus erstrecken.

Die saisonalen Schmelzwasserströme, die Teil des natürlichen Wasserkreislaufs der Antarktis sind, verlaufen kreuz und quer über den Kontinent. Das ist seit Jahrzehnten bekannt. Jetzt haben Forscher sie systematisch katalogisiert und festgestellt, dass sie ausgedehnter sind, als viele dachten.

In manchen Fällen können diese Schmelzwassersysteme ein Ausmaß annehmen, das sich nur schwer begreifen lässt. Das Amery-Schelfeis in Ostantarktika beispielsweise verfügt über Ströme, die das Schmelzwasser über 120 km weit tragen und Seen auf dem Schelf speisen, die über 80 km lang werden können. Die Oberfläche des größten Sees kann dank dieser Ströme an einem einzigen Tag um mehr als 296 Bundesliga-Fußballfelder an Fläche dazugewinnen.

Die Studie, die am Mittwoch in „Nature“ veröffentlicht wurde, enthält wichtige neue Erkenntnisse über das antarktische Schmelzwasser. Bisher hatte man angenommen, dass sich das Schmelzwasser einfach dort sammelt, wo es taut. Momentan lässt sich noch nicht sagen, ob diese fast 700 Schmelzwassersysteme den antarktischen Eisschelfen unterm Strich nützen oder schaden – eine Frage, von der viel abhängt, da die Schelfe eine potenzielle Rolle beim Anstieg des Meeresspiegels spielen.

Das Zerbrechen eines Schelfs beeinflusst den Meeresspiegel nicht direkt. Per Definition schwimmt ein Schelf ja bereits im Wasser. Aber der Klimatologe Rob DeConto von der Universität von Massachusetts-Amherst weist darauf hin, dass einige Schelfs als Stützpfeiler fungieren: Sie erschweren es dem Eisschild an Land dahinter, gen Ozean zu driften. Der Verlust dieser Schelfe würde also auch die Bewegung des Eises vom Land ins Wasser beschleunigen und damit quasi einen Hahn aufdrehen, der den Meeresspiegel ansteigen lässt.

„Das ist ein bisschen, als würde ein Türsteher eine Tür öffnen und Massen [von Leuten] in eine Konzerthalle oder Bar lassen“, fügt die Co-Autorin der Studie Robin Bell hinzu. Sie ist eine Gletscherforscherin am Lamont-Doherty Earth Observatory der Columbia Universität. „Sie sind quasi die Torwächter. Wenn sie verschwinden, gelangt mehr Eis ins Meer.“

Schmelzwasser kann eine Bedrohung für die Stabilität der Eisschelfe darstellen, da es sie mit mehr Gewicht belastet und ihre Gletscherspalten ausweitet. Bevor beispielsweise das Larsen-B-Schelfeis 2002 plötzlich zerbrach, war es in den Tagen davor von Schmelzwasserseen bedeckt, die viel Druck auf das Schelf ausübten. Ein anderer Bereich des Larsen-Schelfeises, Larsen C, könnte innerhalb der nächsten Wochen oder Monate zerbrechen.

Bell und ihr Co-Autor Jonathan Kingslake warnen in einer ihrer zwei neuen Studien davor, dass ein umfangreicher Schmelzwasserabfluss die Bedrohungslage verschärfen könnte, da das Schmelzwasser sich durch die Kanäle effektiver fortbewegen kann. Das sei besonders problematisch, wenn der Klimawandel weiter so rasch voranschreitet.

„Das ist möglicherweise wichtig, weil die Menge an Schmelzwasser an einem bestimmten Punkt nicht einfach nur eine mathematische Funktion der [dortigen] Schmelzmenge ist. Es läuft auch darauf hinaus, dass Wasser über lange Strecken dorthintransportiert wird“, sagt Kingslake, der ebenfalls ein Gletscherforscher am Lamont-Doherty Earth Observatory ist.

Auf der anderen Seite deutet die zweite Studie von Bell und Kingslake darauf hin, dass die Schmelzwassernetzwerke mindestens in einem Fall zur Stabilität eines Schelfs beitragen, indem sie Schmelzwasser von dessen Oberfläche ableiten.

Bells sorgfältige Untersuchung der Nansen-Eistafel – einer 786 km² großen Eiszunge, die ins antarktische Rossmeer hineinragt – zeigt, dass das Schmelzwasser dieses Eisschelfs schon seit mindestens 100 Jahren in den Ozean abläuft. Die verzweigten Ströme vermischen sich am Ende und schütten das Schmelzwasser über einen 130 m breiten Wasserfall an der Kante des Schelfs ins Meer.

Bell sagt, dass dieser Fluss auf dem Eis an seinem unteren Ende genauso viel Wasser bewegen kann wie der Potomac River der USA. Das entspricht mit 316 m³/s in etwa der mittleren Abflussmenge der Mosel.

Ein Flugzeug der NASA Operation IceBridge entdeckt noch mehr Eis in den Gewässern vor der Küste Westantarktikas.
Foto von Mario Tama, Getty Images

TERRA (NOCH IMMER) INCOGNITA

Bell weist darauf hin, dass diese Art von Studie, die den ganzen Kontinent erfasst, nur dank Daten aus mehreren Jahrzehnten möglich war. Das schloss auch Satellitenbilder und Fotos von Militärflugzeugen ein. Für ihre Analyse der Nansen-Eistafel hat Bell auch auf die etwa hundert Jahre alten Aufzeichnungen der Northern Party zurückgegriffen, einem Kontingent von Sir Robert Scotts unglückseliger Terra-Nova-Expedition, die es nicht wie geplant bis zum Südpol geschafft hat.

„Sie haben so viele hervorragende Messungen gemacht, aber dann blieben sie stecken und mussten den Winter in einer Höhle verbringen – das ist alles, an was sich [die Leute] erinnern“, sagt Bell. „Dass ich ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse nutzen und ihnen Anerkennung für ihre Taten zollen kann, [...] macht mich sehr glücklich.“

Bell, Kingslake und andere Experten betonen jedoch, dass man über die Antarktis noch immer vieles nicht weiß. Es ist ein unwirtlicher Ort, für Wissenschaftler ebenso wie für wissenschaftliche Instrumente.

„Wir befinden uns in einer Situation, in der wir einen Eisschild haben, der den Meeresspiegel unter Umständen um etwa 55 m anheben könnte, und wir wissen nicht, wie die Topografie des Meeresbodens darunter aussieht – und wir wissen auch nicht, wie dick das Eis ist“, sagt Helen Fricker. Sie ist eine Gletscherforscherin an der Scripps Institution of Oceanography, die die Schmelzwasserströme des Amery-Schelfeises untersucht hat. „Dort hinzugelangen und alles zu kartieren ist eine monumentale Aufgabe.

Wir versuchen, diesen riesigen Kontinent zu verstehen, aber wir haben nur eine Handvoll Werkzeuge [...] und wir tun unser Bestes“, fügt sie hinzu. „Wir versuchen, mit einem Buttermesser eine Mahlzeit für 50 Personen zuzubereiten.“

Michael Greshko auf Twitter folgen.

BELIEBT

    mehr anzeigen
    loading

    Nat Geo Entdecken

    • Tiere
    • Umwelt
    • Geschichte und Kultur
    • Wissenschaft
    • Reise und Abenteuer
    • Fotografie
    • Video

    Über uns

    Abonnement

    • Magazin-Abo
    • TV-Abo
    • Bücher
    • Disney+

    Folgen Sie uns

    Copyright © 1996-2015 National Geographic Society. Copyright © 2015-2024 National Geographic Partners, LLC. All rights reserved