Japanische Mönche führten 700 Jahre lang Wetteraufzeichnungen

Einige der ältesten durchgehenden Aufzeichnungen der Welt zeigen, wie dramatisch sich das Klima verändert hat.

Von Michelle Nijhuis
Veröffentlicht am 20. Nov. 2017, 10:02 MEZ
Suwa-See
In der Nähe eines kleinen Eisgrats auf dem zugefrorenen Suwa-See wird 2010 ein Shinto-Ritual abgehalten. Es war eines der wenigen Jahre in der jüngeren Zeit, in denen der See zugefroren ist.
Foto von Kyodo, Ap

Der Suwa-See befindet sich im Kiso-Gebirge, das ein Teil der Japanischen Alpen bildet. Wenn der See zufriert, sorgen die täglichen Temperaturschwankungen dafür, dass sich das Eis ausdehnt und zusammenzieht. Dadurch entstehen Risse in der Oberfläche, die nach oben gedrückt wird und Grate bildet. Einer Legende zufolge entstehen diese Strukturen, die O-miwatari genannt werden, durch die Füße der Shinto-Götter, die über den See laufen. Seit 1443 haben die Shinto-Priester, die beim Schrein am Rande des Sees leben, jedes Jahr das Datum notiert, an dem die Grate erscheinen.

Auf der anderen Seite der Welt begann der finnische Kaufmann Olof Ahlbom 1693 damit, den Tag und die Uhrzeit aufzuzeichnen, an dem das Eis auf dem Fluss Torne älv an der Grenze zwischen Schweden und Finnland im Frühling aufzubrechen beginnt. Ahlboms Aufzeichnungen weisen ab 1715 eine Lücke auf, da er vor einer russischen Invasion fliehen mussten. Aber 1721 kehrte er nach Hause zurück und führte seine Eintragungen fort. Nach seinem Tod übernahmen andere Beobachter diese Aufgabe, die bis heute weitergeführt wird.

Wenn Wissenschaftler einen Blick auf das Klima der fernen Vergangenheit werfen wollen, müssen sie fast immer mit indirekten Beweisen arbeiten – Veränderungen in den Wachstumsringen von Bäumen, Schichten aus Eiskernen oder Pollenablagerungen. Aber die Eisaufzeichnungen aus Japan und Finnland, welche die am längsten geführten ihrer Art sind, geben uns einen direkteren Einblick in das Klima, das unsere Vorfahren erlebt haben.

John Magnuson, ein Ökologe an der Universität von Wisconsin-Madison, sah die japanischen und die finnischen Daten erstmals in den 1990ern. Damals berief er eine internationale Gruppe aus Wissenschaftlern ein, um Eisaufzeichnungen der gesamten nördlichen Hemisphäre zu vergleichen. Allerdings schloss er sich erst vor Kurzem mit der Ökologin Sapna Sharma von der York Universität in Toronto zusammen, um die weit zurückreichenden Aufzeichnungen genauer zu analysieren. Magnuson, Sharma und ihre Kollegen ließen die Aufzeichnungen – von denen einige auf empfindlichem Reispapier geschrieben wurden – übersetzen und konsultierten Experten zu den lokalen Wetterbedingungen. Im Falle der Daten vom Suwa-See mussten sie auch einen Kalender entschlüsseln, der sich nicht nur vom westlichen Kalender unterschied, sondern auch von Schrein zu Schrein variierte. „Es war ein wahrhaft interdisziplinäres Projekt“, sagt Sharma.

Das Ergebnis ihrer Studie, die in „Nature Scientific Reports“ veröffentlicht wurde, zeigt, dass sich die Zeitpunkte des Gefrierens und Tauens seit der industriellen Revolution zunehmend verschieben. Außerdem scheint der jährliche Rhythmus des Eises an beiden Orten enger mit der CO2-Konzentration in der Erdatmosphäre zusammenzuhängen. Auch extreme Ereignisse sind häufiger geworden: In den ersten 250 Jahren der Aufzeichnungen der Shinto-Priester gab es nur drei Jahre, in denen der Suwa-See nicht zufror. Zwischen 1955 und 2004 gab es zwölf solcher Jahre, und zwischen 2005 und 2014 fünf. (Magnuson berichtet zudem, dass der See auch 2015 und 2016 während des Winters nicht zufror.)

Viele Wissenschaftlern haben in den Aufzeichnungen von Vogelbeobachtern, Botanikern und anderen Naturbeobachtern nach Hinweisen auf den Klimawandel gesucht. Henry David Thoreaus Notizen von Walden Pond Mitte des 19. Jahrhunderts zeigen, dass einige Blumen damals viel später blühten als heute. Aus den detailgenauen Aufzeichnungen des Zoologen Joseph Grinnell zur Natur Kaliforniens aus dem frühen 19. Jahrhundert lässt sich erkennen, dass einige Säugetierarten sich von ihren ursprünglichen Lebensräumen aus nordwärts und in größere Höhen bewegen. Solche Beobachtungen sind Momentaufnahmen der relativ nahen Vergangenheit. Sie fangen den Zustand des Wetters und der Natur detailliert über ein paar Jahre hinweg ein und können dann als Vergleichspunkte dienen. Aber die Eisaufzeichnungen aus Japan und Finnland sind fast schon epische Erzählungen, die eine weitaus vollständigere Geschichte der Klimaveränderungen erzählen, welche die Menschheit im Laufe der Zeit verursacht hat.

Sie geben auch eine Art Ausblick auf das, was vor uns liegen könnte. Wenn die CO2-Konzentration in der Atmosphäre und die Oberflächentemperatur der Erde weiter ansteigen, könnten die Shinto-Gottheiten den Suwa-See eines Tages womöglich zum letzten Mal überqueren.

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