Land unter
Die Türkei opfert Kulturerbe für einen Staudamm. Er soll die wohl kostbarste Ressource unter Kontrolle halten – Trinkwasser.
Das Dorf Hasankeyf ist 12 000 Jahre alt und sieht aus wie aus einem surrealen Märchen. Der Ort wurde am Steilufer des Tigris errichtet und teilweise in den Fels gehauen. Oberhalb liegen Höhlen aus dem Neolithikum und die Ruinen einer Zitadelle aus byzantinischer Zeit. Die Siedlung trägt römische Spuren und beherbergt Bauwerke aus dem islamischen Mittelalter, darunter eine Brücke, die Hasankeyf zu einem wichtigen Außenposten an der Seidenstraße machte. Vielleicht hat sogar Marco Polo auf dem Weg nach China hier den Tigris überquert. Hasankeyf ist zugleich eine lebhafte Kleinstadt im Südosten der Türkei, mit Märkten, Gärten und Cafés – ein Ort, an dem Geschichte mit Händen zu greifen ist.
Und dennoch hat der türkische Staat hier 2006 mit dem Bau eines riesigen Staudamms begonnen. Er wird dafür sorgen, dass 80 Prozent von Hasankeyf im Tigris versinken und die 3000 Einwohner ihre Heimat verlieren. Mittlerweile ist der Ilisu-Damm fast fertig. Im nächsten Jahr könnte die Überflutung beginnen.
Warum zerstört ein Land einen derart mystischen Ort? Die Regierung sagt: um das Leben der Einheimischen zu verbessern. Aber das Großprojekt nützt auch dem türkischen Staat. Die Türkei verfügt nicht über Öl oder Erdgasquellen. Eines aber hat sie: Wasser.
Anfang des 20. Jahrhunderts nahm die türkische Republik eine Reihe staatlich finanzierter Modernisierungsprojekte in Angriff , um die Wirtschaft voranzubringen. Dabei wurde der Südosten – eine Region, in der relativ arme, bildungsferne Kurden, Araber und Assyrer leben – weitgehend übergangen. In den Siebzigerjahren wollte die Regierung Abhilfe schaffen: mit einem gewaltigen Staudammprojekt, das dem Südosten des Landes eine zuverlässige Strom- und Wasserversorgung garantieren sollte. Entlang der Flüsse Tigris und Euphrat wurden nicht nur 22 Staudämme und 19 Wasserkraftwerke geplant, sondern auch Straßen, Brücken und andere Infrastruktur.
Schon bald war das Südostanatolienprojekt (türkische Abkürzung: GAP) umstritten. Die stromabwärts gelegenen Staaten Syrien und Irak protestierten, die Türkei würde ihnen das dringend benötigte Wasser abgraben. Im Jahr 1984 rebellierte die Kurdische Arbeiterpartei PKK, eine militante Separatistengruppe, die von vielen Ländern als terroristische Vereinigung eingestuft wird, gegen die mutmaßliche Ungerechtigkeit des türkischen Staates und verwandelte den Südosten in ein Kriegsgebiet. Gleichzeitig verweigerten europäische Banken die Finanzierung, auch die Weltbank vergab keine Kredite mehr. Die Begründung: andauernde zwischenstaatliche Konflikte, eine unzureichende Umweltverträglichkeitsprüfung, Bedenken wegen umfangreicher Umsiedlungen und der Schutz des kulturellen Erbes.
Selbst innerhalb der türkischen Regierung schwand die Begeisterung für das nationale Vorzeigeprojekt – das jedenfalls berichtet Hilal Elver, die in den Neunzigern Beraterin des Umweltministeriums war und heute beim UN-Menschenrechtsrat als Sonderberichterstatterin für das Recht auf Nahrung tätig ist.
Tatsächlich war spätestens ab dem Jahr 2000 klar, dass das Staudammprojekt seinen angeblichen Zweck nicht würde erfüllen können. „Es führte nicht zu einer vernünftigen Wasserwirtschaft und brachte weder Entwicklung noch Frieden“, sagt Elver. Inzwischen sind 13 der 19 geplanten Dämme fertig gestellt. Der erzeugte Strom wird vorwiegend anderswo genutzt. Kostbares Ackerland wurde durch Versalzung ruiniert, die sich einstellt, wenn man salzhaltige Böden bewässert, von denen das Wasser schlecht ablaufen kann. Die Einnahmen aus den Dämmen sind weder den Gemeinden der Region noch den Menschen zugutegekommen. Tausende mussten ihre Häuser verlassen. Die meisten erhielten Entschädigungen und neue Wohnungen, aber als Ersatz für den bisherigen Lebensunterhalt reichte das nicht.
Der Ilisu-Damm dürfte eines der destruktivsten Bauwerke des GAP-Projekts sein. Er soll nicht nur Hasankeyf unter Wasser setzen, sondern auch die Ökosysteme an 400 Flusskilometern, 300 archäologische Stätten und Dutzende Kleinstädte und Dörfer. Manche Kunstwerke werden in Sicherheit gebracht. Doch etwa 15 000 Menschen müssen weichen, Zehntausende sind indirekt betroffen. Der Umweltingenieur Ercan Ayboğa, Sprecher der Initiative „Haltet Hasankeyf am Leben“, beziffert die Gesamtzahl auf fast 100 000. „Abgesehen von den Profiten für ein paar Unternehmen und Großgrundbesitzer bringt das Projekt der örtlichen Bevölkerung keinen Nutzen“, sagt er.
Warum also drängt die Türkei so auf die Fortsetzung des Projekts? Viele glauben, die Regierung habe schlicht und einfach das Ziel, das Wasser als wichtige natürliche Ressource unter Kontrolle zu halten. Als der PKK-Führer Abdullah Öcalan in Syrien Unterschlupf gefunden hatte, gehörte zur Verhandlungsmasse der Türkei auch das Druckmittel, dem Land die Wasserversorgung abzuschneiden, wenn er nicht ausgeliefert würde. Wasser als Waffe.
Im Irak verschlimmerte sich im vergangenen Frühjahr die Dürre, der Tigris sank auf gefährlich niedrige Wasserstände. Die irakische Regierung intervenierte gegen die Pläne der Türkei, im Juni mit der Auffüllung des vom Ilisu-Damm geschaffenen Stausees zu beginnen. Daraufhin lenkten die Türken ein. Fatih Yildiz, der türkische Botschafter im Irak, sagte: „Wir haben wieder einmal gezeigt, dass wir die Bedürfnisse unseres Nachbarn über unsere eigenen stellen.“ In Wirklichkeit ist die Haltung der Regierung seit Jahrzehnten dieselbe: Der Irak hat Öl, die Türkei hat Wasser – und kann damit machen, was sie will.
In Hasankeyf wurde den Kaufleuten im historischen Basar im Frühjahr derweil mit einer Zwangsräumung gedroht. Sie wehrten sich, indem sie auf ihr Menschenrecht auf Arbeit verwiesen. Damit hatten sie Erfolg – zumindest vorübergehend. Und nun leben sie wie alle anderen an diesem geschichtsträchtigen Ort in quälender Ungewissheit. Zuletzt wollte die Regierung im Juli mit dem Auffüllen des Stausees beginnen. Aber nichts passierte. Je länger Hasankeyf nicht überflutet wird, so scheint es, desto mehr steigt die Hoffnung, dass es nie geschehen wird.
Dieser Artikel wurde gekürzt. Lesen Sie den ganzen Artikel in Heft 11/2018 des National Geographic-Magazins. Jetzt ein Abo abschließen!