Zwischen App und Flut: Deutschlands Küstenbewohner kämpfen für saubere Strände

„Das Meer hat gekotzt“ – dieser Gedanke erfasste Jennifer Timrott, nachdem sie die plastikvermüllte Küste vor ihrem damaligen Zuhause in Hallig Hooge sah. Eine Lösung, die sowohl Verbraucher als auch Hersteller zur Verantwortung zieht, musste her.

Von Melissa Holland-Moritz
Veröffentlicht am 20. Sept. 2019, 14:29 MESZ
Der Verein Küste gegen Plastik hat der Vermüllung der Meere den Kampf angesagt.
Foto von Küste gegen Plastik e.V.

Vor fünf Jahren gründete die ehemalige Krankenschwester Jennifer Timrott den Verein Küste gegen Plastik, um dem globalen Plastikproblem den Kampf anzusagen. Neben Infoständen und Müllsammelaktionen bildet die App Replace Plastic das Herzstück ihrer Arbeit. Das Besondere: User können den Barcode von Lebensmittelverpackungen scannen und so dem Hersteller einfach und schnell mitteilen, dass sie sich eine andere Lösung wünschen.

Jennifer Timrott (50) ist gebürtige Hannoveranerin und wohnt seit etwa zehn Jahren in Schleswig-Holstein umgeben vom Wattenmeer.
Foto von Frank Timrott

Auf den Instagram-Accounts von Küste gegen Plastik und Replace Plastic teilen Sie regelmäßig Bilder Ihrer bizarrsten Strandfunde. Welcher Fund ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?

Ich werde immer wach bei Verpackungen, bei denen das Verfallsdatum noch eingestanzt ist, weil das schon lange nicht mehr gemacht wird. Anfang des Jahres habe ich eine solche Verpackung gefunden. Das Verfallsdatum war der 27.01.1970 – genau zwei Wochen nach meinem ersten Geburtstag. Ich habe darüber nachgedacht, was ich seitdem schon alles gemacht habe in meinem Leben: Schulabschluss, Berufsausbildung, Abi über den zweiten Bildungsweg, Studium, Unternehmensgründung, zig Umzüge – und die ganze Zeit existiert dieses Ding. Man fragt sich: Wie lang ist das eigentlich gebraucht worden? Vermutlich nur ein paar Tage.

Konnte man noch erkennen, um was es sich ursprünglich handelte?

Es war wahrscheinlich eine Lebensmittelverpackung. Es ist schon erstaunlich, was einem hier vor die Füße fällt. Da das Wattenmeer so eine weiche Küste hat, hat man oft ganze Verpackungen vor Augen. An einer Felsküste wären die Verpackungen vermutlich schneller zerschreddert - was natürlich auch nicht besser für die Umwelt ist.

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    Dieser Fund blieb Jennifer Timrott besonders im Gedächtnis: Der Inhalt lief genau zwei Wochen vor ihrem ersten Geburtstag ab.
    Foto von Küste gegen Plastik e.V.

    Wie kamen Sie dazu, sich aktiv gegen Plastikmüll einzusetzen?

    Mir ist es vor etwa sechs Jahren nach einer Sturmflut auf Hallig Hooge klar geworden. Ich ging nach dem Sturm an die Halligkante, um zu sehen, wie sich das Watt verändert hatte. Mein erster Eindruck war drastisch gesagt: Das Meer hat gekotzt. Doch mich hatte das Thema bereits vorher beschäftigt. 2010 habe ich den Film „Plastic Planet“ gesehen und habe beschlossen, keine Plastikverpackungen mehr zu kaufen – aber bin natürlich gnadenlos gescheitert. Damals gab es keine Unverpacktläden oder Zero-Waste-Bewegung. Das war total frustrierend. Man verzichtet auf so vieles, doch es wird trotzdem immer mehr verpackt. Ich verlor kurz meinen Fokus, doch nach der Sturmflut war er wieder da.

    Herzstück Ihres Vereins ist die App Replace Plastic, die Unternehmen, die Plastik produzieren, Druck machen soll. Mittlerweile verzeichnet die App weit über 600.000 Einsendungen. Was für Feedback bekommen Sie von den Nutzern?

    Ich habe den Eindruck, dass in Plastik verpacktes Obst und Gemüse die Hitliste anführen. Das nervt sehr viele Leute. Auch Bioprodukte in Plastikverpackungen werden von vielen als Widerspruch wahrgenommen. Was mich ein bisschen erstaunt hat, waren die vielen Scans für Körperpflegeprodukte. Viele Leute scheinen sich beim Anblick in ihrem Badezimmer unwohl zu fühlen.

    Wissen kompakt: Plastik
    Schon früh in der Menschheitsgeschichte kamen Biopolymere zum Einsatz. Heutzutage wird Kunststoff fast ausschließlich aus fossilen Brennstoffen hergestellt. Erfahrt, wie genau Plastik produziert wird und was wir tun können, um die schädlichen Auswirkungen von Kunststoffen auf unseren Planeten und unser Leben zu verringern.

    Die Märkte scheinen langsam darauf zu reagieren: In manchen Drogerien hängt mittlerweile ein Hinweis bei Produkten mit hohem Recyclinganteil am Preisschild …

    Genau, die Unternehmen kommen an dem Problem nicht mehr vorbei. Doch recyceltes Plastik halte ich nicht für die Lösung. Da gibt es viel Diskussionsbedarf: Wie hoch ist der Recyclinganteil überhaupt? Wenn er hoch ist: Was wurde recycelt? Häufig ist es so, dass Produktionsabfälle wie Schnittreste als recyceltes Material gelten. Das ist dann kein Post-Consumer-Rezyklat sondern Post-Industrial- Rezyklat – da wird oft versucht, Aktivität zu demonstrieren. Am Ende ist recyceltes Plastik aber immer noch Plastik.

    Wie reagieren die Hersteller auf die Einsendungen?

    Am Anfang bekamen wir noch einige arrogante Antworten wie „Wir können nichts dafür, wenn die Verbraucher ihre Verpackungen in die Gegend werfen“. Das wird aber weniger. Die scheinen langsam zu wissen, dass sie sich der Sache stellen müssen. Wenn die Hersteller sagen, wir sollen sie nicht mehr kontaktieren, entgegnen wir ihnen, dass wir das gerne tun können, das dann aber auch über die App an den Verbraucher kommunizieren würden. So weit ist es allerdings nie gekommen.

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    Wie läuft die Kommunikation im Normalfall ab?

    Im ersten Schritt kriegen wir meistens eine Standard-Mail. Da stehen dann die „guten Gründe“ für die Verpackung drin und warum es nicht anders geht. 80 Prozent der Hersteller beziehen sich dabei auf den Schutz des Produkts. Wir bleiben dann aber dran, weisen auf die Auswirkungen hin und laden sie zum Müllsammeln bei uns ein.

    Wird dieses Angebot auch wahrgenommen?

    Das ist im letzten Jahr drei Mal passiert. Das ist meiner Meinung nach ein ganz wichtiger Teil der Arbeit. Bei der letzten Müllsammelaktion sagte jemand, er würde bei jedem Schritt immer wütender werden. Das ist genau das, was wir uns wünschen. Ein Hamburger Teehersteller sammelte sogar zwei Mal mit uns und hat dann auch tatsächlich seine Verpackung geändert.

    Gibt es einen Unterschied zwischen kleinen und großen Unternehmen?

    Diejenigen, die etwas verändern, sind meist kleinere Unternehmen. Bei den großen wird man manchmal nach der Standardmailphase einfach ignoriert. Häufiger ist es aber so, dass man an Verpackungsleiter oder Nachhaltigkeitsbeauftragte weitergeleitet wird und dann in den Schnack kommt. Wir hören oft, dass sie sich über das Kundenfeedback freuen, weil es deren Position im Unternehmen stärkt. Das ist auch ein wichtiger Aspekt: Das sind nicht alles schlechte Menschen. Man muss die Leute mit den richtigen Absichten stärken.

    Mit jeder Flut wird neuer Müll die Küsten geschwemmt.
    Foto von Küste gegen Plastik e.V.

    Manche Menschen fühlen sich in Anbetracht der bloßen Menge weltweiten Mülls machtlos, andere schieben das Problem auf fremde Länder – wie reagieren Sie darauf?

    Dass die Schuld auf andere geschoben wird, höre ich ständig. Es heißt dann: „Warum sollen wir in Deutschland Plastikmüll reduzieren? Guckt doch mal nach China“. Aber Deutschland ist einer der größten Plastikmüllexporteure – wenn wir das alles nach Asien schicken, dann ist es natürlich einfach, mit dem Finger drauf zu zeigen und empört zu behaupten: „Die kippen das ins Meer.“ Wir geben unseren Müll einfach weg in Länder, die nicht die Strukturen haben, damit umzugehen. Das halte ich für ein Riesenproblem. Plastikmüllexport gehört verboten. Ein Teil des Problems liegt aber auch am Dualen System. Wir werfen alles in die gelbe Tonne, egal, ob das recycelt werden kann oder nicht. Dadurch, dass die Leute viel trennen, haben sie das Gefühl: Wir sind hier auf der Seite der Guten und die anderen vermüllen die Welt. Das ist so nicht richtig, denn nur ein Bruchteil dessen, was in der gelben Tonne landet, wird recycelt.

    Was sind Ihre nächsten Pläne?

    Wir kriegen viele Anfragen zur App aus dem Ausland. Natürlich würden wir gerne überall präsent sein, aber leider ist das nicht so einfach: Ich finde es wichtig, dass die angeschriebenen Unternehmen auch einen Ansprechpartner im jeweiligen Land haben. Dafür braucht man aber ganz andere Finanzierungsmodelle.

    Egal, ob mit Infoständen, Müllsammelaktionen, der App oder Fotos wie diesem: Timrott und ihr Team wollen das Bewusstsein über das globale Plastikproblem schärfen.
    Foto von Küste gegen Plastik e.V.

    Das Plastik, das täglich an die Küste gespült wird, dürfte eher mehr als weniger werden - trotz App und Initiativen. Resigniert man da nicht?

    Wenn ich das Gefühl hätte, wir müssten das Problem sammelnd bewältigen, dann würde ich die Ohren hängen lassen. Aber wir machen an der Quelle Druck und wir sehen, dass sich etwas regt. Es könnte alles natürlich noch viel schneller gehen. Aber ich bin sicher: es lohnt sich weiterzumachen.

    Was treibt Sie weiter voran?

    Wenn ich nach einer Sturmflut die dreckigen Strände sehe, ist das wie ein Schlag ins Gesicht. Damit wird die Würde eines Lebensraums verletzt, der mir am Herzen liegt. Das treibt mich sehr stark an. Aber auch das Gefühl, den Hebel gefunden zu haben: Wenn man keine überzogenen Erwartungen hat, merkt man, dass man auch mit wenig etwas bewegen kann. Die Stimme des Konsumenten wird gehört in den Unternehmen.

     

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