Grund zum Aufatmen?

Viele Schadstoffe sind in Deutschland kein Thema mehr – sauber ist die Luft aber nicht.

Von Iris Röll
Veröffentlicht am 12. Apr. 2021, 12:34 MESZ
Störmthaler See, im Hintergrund das Braunkohlekraftwerk Lippendorf

Der Störmthaler See entstand durch Flutung des Tagebaus Espenhain; er ist heute bei Wassersportlern beliebt. Im Hintergrund das im Jahr 2000 eröffnete Braunkohlekraftwerk Lippendorf.

Foto von stylefoto24 - stock.adobe.com

„Blauen Himmel über dem Ruhrgebiet“ forderte Willy Brandt 1961 im Wahlkampf, und das klang damals so realistisch wie heute vielleicht „Elektroautos für alle“. Dennoch folgte eine beeindruckende Erfolgsgeschichte. Schwefel und Blei waren die vorherrschenden Schadstoffe in der Luft – heute müssen wir sie nicht mehr fürchten. 1964 trat in Westdeutschland die erste „Technische Anleitung zur Reinhaltung der Luft“ (TA Luft) in Kraft, mit Grenzwerten und technischen Vorgaben für Industrieanlagen. Ab 1972 wurden die Bleizusätze im Benzin erst eingeschränkt, 1988 verboten. Und der Himmel über dem Ruhrgebiet wurde tatsächlich blau: Die Schwefeldioxid-Emissionen in Nordrhein-Westfalen sanken zwischen 1983 und 1990 um 90 Prozent, der Stickoxidausstoß um mehr als 70 Prozent.

Nach der Wiedervereinigung setzte sich die Erfolgsgeschichte im Osten Deutschlands fort, wo Umweltdaten zu DDR-Zeiten wie Staatsgeheimnisse gehütet wurden. In den Achtzigerjahren, so erfuhr die Öffentlichkeit später, war im industriellen Ballungsraum um Leipzig, Halle und Bitterfeld die Schwefeldioxidkonzentration rund viermal so hoch wie im Ruhrgebiet. Nach der Wende wurden Kraftwerke und Chemieanlagen stillgelegt oder saniert – die Belastung sank drastisch, sodass seit Ende der Neunzigerjahre bei der Luftqualität keine Unterschiede zwischen Ost und West mehr festzustellen sind.

Rauchschwaden über dem Braunkohlekraftwerk Espenhain in Sachsen, aufgenommen im Juli 1990. Das angrenzende Dorf Mölbis galt zeitweise als „dreckigstes Dorf Europas“. 

Foto von Waltraud Grubitzsch, ZB, Picture Alliance

Dennoch: Die EU-Kommission hat Deutschland 2018 wegen zu hoher Stickoxidwerte verklagt; das Verfahren läuft noch. Auch die Deutsche Umwelthilfe ist bislang gegen 40 Städte wegen schmutziger Luft gerichtlich vorgegangen. Deutschland wird die Grenzwerte für den Ausstoß von Schadstoffen 2020 wohl einhalten, wozu auch der Lockdown seinen Teil beigetragen hat. Die strengere WHO-Empfehlung für Feinstaub verfehlten 2020 13 Prozent der Messstationen nach vorläufigen Daten, und die EU dürfte sich bald mit neuen Grenzwerten der WHO-Empfehlung nähern. „Nach Industrie und Verkehr werden Holzöfen in Privathaushalten das nächste Problem der Luftreinhaltung“, so Ute Dauert vom Umweltbundesamt, „zusammen mit den weiter hohen Ammoniak-Emissionen aus der Landwirtschaft.“ Blauer Himmel über Deutschland – das reicht eben nicht.

Corona hilft mit: Satellitenaufnahmen zeigen eine deutlich geringere Stickstoffdioxidbelastung für das Frühjahr 2020 gegenüber dem Vorjahr. Wie viel davon vom Wetter beeinflusst ist, wie viel vom Lockdown, ist für Deutschland noch nicht geklärt. 

Foto von Dlr,cc-by 3.0

Positiver Abwärtstrend: Die Menge der ausgestoßenen Luftschadstoffe sinkt zum Teil drastisch. Gegen den Trend stemmen sich die Ammoniak-Emissionen, vor allem aus der Landwirtschaft. Wie flüchtige organische Verbindungen ohne Methan (NMVOC) sind sie Vorläufergase von Feinstaub.

Echtzeitdaten: Auf der Website umweltbundesamt.de/daten/luft/luftdaten oder über die App „Luftqualität“ lassen sich aktuelle Luftwerte anzeigen – auf Karten oder gezielt für eine der rund 400 Messstellen in Deutschland.

Dieser Artikel erschien in voller Länge in der April 2021-Ausgabe des deutschen NATIONAL GEOGRAPHIC Magazins. Keine Ausgabe mehr verpassen und jetzt ein Abo abschließen! 

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