Verzweifelter Kampf in den Alpen: Ist der Winter noch zu retten?

Für die Alpen waren schneereiche Winter lange Zeit die wirtschaftliche und kulturelle Basis. Angesichts des Klimawandels kämpfen die Bewohner verzweifelt um den Erhalt von Schnee und Eis.

Von Denise Hruby
Veröffentlicht am 17. Nov. 2022, 18:05 MEZ
Alpen: Stoffbahnen schützen die Zunge des Rhônegletschers in der Schweiz.

Stoffbahnen schützen die Zunge des Rhônegletschers in der Schweiz. Seit 1870 lockt eine künstliche Grotte, die jeden Sommer in das wandernde Eis geschlagen wird, Besucher an. Noch konserviert die 50 Hektar große Abdeckung genug Eis für die Grotte.

Foto von Ciril Jazbec

Der Winter in den Alpen stirbt aus. Seit dem 19. Jahrhundert sind die Durchschnittstemperaturen in den Bergen um zwei Grad gestiegen – etwa doppelt so stark wie im globalen Mittel. Der Schnee fällt später und schmilzt früher. Insgesamt hat sich die Schneesaison in den Alpen laut einer wissenschaftlichen Analyse von Daten aus mehr als 2000 Wetterstationen um einen Monat verkürzt. Für viele der 14 Millionen Menschen, die in einer der am dichtest besiedelten Bergregionen der Welt leben, sind die Auswirkungen beängstigend. Die lokale Wirtschaft ist abhängig vom Schnee, der 120 Millionen Touristen pro Jahr anlockt.

Die Menschen, die in und von den Alpen leben, ergreifen drastische Maßnahmen. Geschätzte 100000 Schneekanonen versorgen inzwischen den Skizirkus. Sie würden ausreichen, um ein Gebiet von der Größe Berlins und Münchens innerhalb weniger Stunden unter Schnee zu begraben. Auf manchen der rund 4000 Alpengletscher wird im Sommer das Eis mit Vlies oder Planen abgedeckt, um die beschleunigte Schmelze durch die Erderwärmung zu verzögern. Einige dieser Methoden sind genial und verlockend, andere sind ökologisch und ökonomisch bedenklich. Alle aber sind geboren aus einer tiefen Sorge: Was wäre unser Leben hier ohne den Winter?

Die Erderwärmung ist in höheren Lagen angekommen

Ein oder zwei Grad mehr klingen vielleicht nicht dramatisch. Aber sie können darüber entscheiden, ob Niederschlag als Schnee fällt oder als Regen. Nur ein kleiner Temperaturanstieg – und es entstehen keine Schneeflocken mehr. Deshalb stecken die Alpen in ernsten Schwierigkeiten, sagt Yves Lejeune von der Wetterwarte am Col de Porte, 1325 Meter hoch in den französischen Alpen. Auf seinem Weg zur Arbeit kommt der Wissenschaftler an Le Sappey-en-Chartreuse vorbei, einem kleinen Dorf mit einer Kirche im Zentrum und Skipisten an den umliegenden Berghängen. Im Alter von fünf Jahren lernte er hier das Skifahren. Doch das Dorf liegt niedrig, auf nur etwa 1000 Metern. „Es ist vorbei“, sagt Lejeune unumwunden. „Vielleicht haben sie noch ein oder zwei gute Jahre, mehr nicht.“ Schon in den Achtzigern und Neunzigern gab es hier eine Reihe schneearmer Winter. Schneekanonen wurden zur ersten Verteidigungslinie der Alpen. In niedriger gelegenen Regionen schienen die millionenschweren Investitionen als Garantie für eine stabile Skisaison gerechtfertigt. Winter mit wenig Schnee hielt man für Ausreißer.

Lejeunes Daten beweisen, dass sie das nicht waren. Er deutet auf ein Diagramm, das die Schneetiefe am Col de Porte in den vergangenen 30 Jahren mit den 30 Jahren davor vergleicht. Die abfallende Linie zeigt, dass die mittlere Schneehöhe um 37,7 Zentimeter zurückgegangen ist. „Das ist viel“, sagt Lejeune. „Wirklich viel.“ Inzwischen ist die Erderwärmung in höheren Lagen angekommen. „Hätte jemand mir früher erzählt, dass wir hier jemals Schneekanonen brauchen würden, hätte ich ihn für verrückt erklärt“, sagt Peter Leo, Leiter des Schneemanagements am Kitzsteinhorn. „Heute können wir ohne sie nicht mehr leben.“

Der Geograf Damien Filip paddelt über den Totensee, einen kleinen Stausee in der Schweiz, dessen Eisschicht im späten Juni aufbricht.

Foto von Ciril Jazbec

Alpengletscher auf dem Rückzug: Zwei Drittel bereits geschmolzen

Allein auf dem Kitzsteinhorn stehen 104 grasgrüne Schneekanonen strategisch an den Pisten verteilt. Jede wiegt und kostet so viel wie ein Kleinwagen. Als Leo eine von ihnen anwirft, ist er kaum noch zu verstehen. Mehrere ringförmige Kränze kleiner Düsen sprühen mit Luft vermischte Wassertröpfchen vor einen riesigen Ventilator. „Stark genug, um einen Menschen anzusaugen“, schreit er. Der Ventilator pustet sie in den Himmel. Beim Herabsinken heften sich Wassertröpfchen aus den inneren Kränzen an die Eiskristalle und bilden Schneeflocken.

Auf einem Gletscher wie dem am Kitzsteinhorn ist es schwer vorstellbar, dass winzige Schneeflocken so gewaltige Eismassen bilden konnten. Es war ein jahrhundertelanger Prozess: Jede frische Schneeschicht drückte auf die darunter liegenden, bis der Schnee sich zu Eis verdichtete und unter seinem eigenen Gewicht talwärts zu fließen begann. Im Winter häuft sich der Schnee an, und im Sommer schmelzen Schnee und Eis ab, überwiegend in niedrigeren Lagen. Wenn der Zuwachs im Winter den Verlust im Sommer übersteigt, kriecht die Gletscherzunge weiter ins Tal hinein; triumphiert der Sommer, zieht sich der Gletscher zurück.

Seit dem späten 19. Jahrhundert befinden sich die Alpengletscher nahezu durchgehend auf dem Rückzug. Seit 1850 haben sie insgesamt zwei Drittel ihres Volumens eingebüßt. Sie schmelzen immer schneller. „Wenn wir nicht handeln, werden sie alle verschwinden“, sagt Matthias Huss, Glaziologe an der ETH Zürich. Mit „handeln“ meint er eine drastische Senkung der CO2-Emissionen.

Durch ein Wunder wird sich der Winter in den Alpen nicht retten lassen. Künstlichen Schnee herstellen, lagern, auf Gletschern verteilen – all das wird bestenfalls an einigen Orten für Aufschub sorgen. Die Schönheit der Alpen, um die Außenstehende die Menschen hier beneideten, schon lange bevor sie ihr Leben um schneereiche Winter herum organisierten, sie wird bleiben. Aber das Schwinden von Schnee und Eis bringt nicht nur wirtschaftliche, sondern auch emotionale Einbußen sowie den Verlust von Kultur und Identität. Als der kleine Pizolgletscher südöstlich von Zürich derart zusammengeschmolzen war, dass er aus dem weltweiten Gletscher-Monitoring herausgenommen wurde, beklagten Einheimische und Umweltschützer seinen Untergang 2019 mit einer Trauerfeier.

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