Arktis - Die Decke wird dünner

Auch eine norwegische Winterexpedition zeigt: Das arktische Meereis schwindet, mit Folgen für die ganze Welt.

Von Andy Isaacson
Foto von Nick Cobbing

Zusammenfassung: Fünf Monate lang war ein Team von internationalen Wissenschaftlern mit dem Forschungsschiff „Lance“ in der Arktis auf einer Expedition. Sie wollten herausfinden was passiert, wenn die Eiskappe weiter schmilzt, da seit Beginn der Satellitenaufzeichnungen im Jahr 1979 bereits die Hälfte des Eisschilds geschrumpft ist. Spätestens 2040 könnte die Arktis im Sommer eisfrei sein.

Das Meereis auf dem Arktischen Ozean ist keine lückenlose weiße Decke, wie man sie für gewöhnlich auf den Landkarten sieht. Es ist ein Puzzle aus Eisschollen, die zusammenstoßen, ihre Form verändern, unter der Wucht starker Winde und in Strömungen zerbrechen.

Im Februar 2015 stand ich zitternd an Deck der „Lance“, eines norwegischen Forschungsschiffs, das sich einen Weg durch ein Labyrinth befahrbarer Rinnen im Eis bahnte. Der stählerne Schiffsrumpf bebte und ächzte, während er durch scharfkantige Eisbrocken pflügte. Die Mannschaft war auf der Suche nach einer weiteren großen, massiven Scholle, um daran festzumachen. In deren Schlepptau wollte sie sich durch den überfrorenen Ozean treiben lassen und die Entwicklung des Meereises kartieren. Die Eisplatte, mit der das Schiff bislang gedriftet war, war kurz zuvor weggetaut.

Die Luft über der Arktis hat sich im vergangenen Jahrhundert um drei Grad Celsius erwärmt. Das ist mehr als das Doppelte des weltweiten durchschnittlichen Temperaturanstiegs. Es ist heute deutlich weniger Meeresfläche mit Eis bedeckt, und viel mehr davon ist dünnes jahreszeitliches Eis anstelle mehrjähriger dicker Schollen wie früher. Eine Rückkopplungsschleife hat eingesetzt: Wo sonst im Sommer weißes Eis das Sonnenlicht reflektierte, nimmt jetzt dunkles Meerwasser Energie und Wärme auf, wodurch sich Wasser und Luft weiter erwärmen, was wiederum den Schmelzprozess verstärkt. Klimamodelle sagen voraus, dass es schon 2040 möglich sein könnte, im Sommer durch eisfreies Wasser zum Nordpol zu fahren.

Der Schwund des arktischen Meereises wird Folgen für den gesamten Planeten haben: Bislang trägt es zur Kühlung der Erde bei, indem es einen großen Teil des Sonnenlichts und die damit einfallende Energie in den Weltraum zurückspiegelt. Der Verlust an Eis wird unvermeidlich das Klima und das Wetter weit über die Arktis hinaus beeinflussen. Wie genau, ist allerdings noch unklar. Für bessere Voraussagen benötigt man präzisere Daten über das Meereis und seine unregelmäßige, sich ständig ändernde Verteilung.


„Aus dem Sommer haben wir viele Zahlen, denn bisher reisten die Forscher meist in dieser Jahreszeit in die Arktis“, sagt Gunnar Spreen. Der Meereisphysiker vom Norwegian Polar Institute forscht seit Kurzem an der Universität Bremen. „Was uns fehlt, sind Kenntnisse über den Übergang vom Winter zum Frühling.“

Auf der fünfmonatigen Forschungsreise der „Lance“ wollte das Team aus internationalen Wissenschaftlern nun einen kompletten saisonalen Zyklus des Eises überwachen, vom Zeitpunkt der Eisbildung im Winter bis zur Schmelze im Sommer. Das Ziel: die Ursachen und die Folgen des Eisverlusts zu untersuchen.

Der Fotograf Nick Cobbing und ich waren von Spitzbergen aus per Eisbrecher und Hubschrauber auf die „Lance“ gebracht worden. Nun stampfte das Schiff in Richtung 83 Grad nördlicher Breite, hart am westlichen Rand des russischen Territoriums.

Als Basis für ihre Studien wählten die Wissenschaftler schließlich eine Eisscholle von einem halben Kilometer Breite, sie bestand überwiegend aus einjährigem Eis. Die Mannschaft machte das Schiff an der Scholle fest, indem sie dicke Metallstangen ins Eis bohrte und die „Lance“ mit Nylonseilen daran vertäute. Dann wurde die Hauptmaschine abgeschaltet. Isoliert und in fast völliger Dunkelheit begann unsere einmonatige Schicht auf der unberechenbaren Drift durch die Eiswüste.

Die Forscher errichteten auf der Scholle Zelte und legten Stromkabel. Sie kartierten die Eisoberfläche und zeichneten Dicke und Temperatur der Schneedecke auf. Ozeanografen durchbohrten das Eis, um Daten über das Wasser und die Strömungen zu bekommen. Meteorologen stellten Masten mit Instrumenten auf, um Wetterdaten zu sammeln und die Treibhausgase zu messen. Biologen suchten nach Algen, die auf der Unterseite und in feinen Kanälen im Innern des Eises leben. In einigen Wochen würden die Forscher das erwachende Ökosystem beobachten können, dann würden die Schollen unter der Frühlingssonne schmelzen.

Jetzt aber fiel die Temperatur noch regelmäßig auf minus 30 Grad. Die Wissenschaftler plagten sich mit tauben Fingern, gebrochenen Kabeln und ausgefallenen Instrumenten, stets auf der Hut vor umherstreifenden Eisbären. „Das ist echte Extremwissenschaft“, sagte einer.

NG-Video: Wie das schmelzende Eis die Arbeit der NG-Kartographen verändert:

Der Weltklimarat der UNO hatte bereits 2007 gewarnt, dass die Auswirkungen des Klimawandels nirgendwo größere Folgen haben würden als in den arktischen Regionen. Die Prognose hat sich bestätigt. Der Permafrostboden taut, braunes Land begrünt sich, Baumgrenzen verschieben sich nach Norden, Büsche und Gräser dringen in die Tundra vor. Viele Bestände von Eisbären, Walrossen und Rentieren – Arten, die zum Überleben große Eisflächen brauchen – schrumpfen.

Seit Beginn der Satellitenaufzeichnungen im Jahr 1979 hat die Arktis mehr als die Hälfte ihres Eisvolumens verloren. Sein jährliches Minimum erreicht der gefrorene Bereich immer am Ende des Sommers. 2012 war die Fläche des Eises im September gerade einmal halb so groß wie im Durchschnitt der Achtziger- und Neunzigerjahre. Auch die maximale Eisbedeckung im Winter, die gewöhnlich im März erreicht wird, geht zurück. Und die durchschnittliche Dicke hat sich um die Hälfte verringert. Wo einst eine Schicht von drei bis vier Meter dicken Eisschollen lag, die sich jahrelang hielt, treibt heute auf großen Flächen dünnes Eis, das sich jedes Jahr neu bildet und wieder schmilzt.

Die Meereisbedeckung war schon immer natürlichen Schwankungen unterworfen. Doch unter Wissenschaftlern herrscht wenig Zweifel daran, dass die Treibhausgase, die der Mensch in die Atmosphäre bläst, den Schrumpfungsprozess beschleunigen.

Ein ganzes Ökosystem schmilzt weg. Der Verlust von Meereis bedroht Organismen, von denen fast die ganze maritime Nahrungskette abhängt: einzellige Algen, die unter dem Eis leben und im Frühjahr aufblühen, sobald das Licht zurückkehrt. Von diesen Algen ernähren sich die kleinen Ruderfußkrebse, die einen großen Teil des Zooplanktons ausmachen, das wiederum auf dem Speiseplan von Dorschen, Seevögeln und Walen steht. Säugetiere wie Eisbär, Walross und Ringelrobbe brauchen das Eis auch als Jagd- und Lebensraum. Für sie ist der Rückgang, „als würde ihnen der Boden unter den Füßen weggezogen“, sagt Kristin Laidre, Polarwissenschaftlerin an der Universität Washington.

Eisbären verbringen zwar manchmal Zeit an Land, wo sich einige in letzter Zeit sogar mit Grizzlys gepaart haben. Doch der Bärenfachmann Ian Stirling von der Universität Alberta hält die Vorstellung, dass Eisbären auf Dauer an Land überleben könnten für „reines Wunschdenken“. Wenn die Polarmeere längere Zeit eisfrei bleiben, würden wohl Tiere aus südlicheren Breiten – andere Arten von Plankton, Fischen und Robben – das bisherige arktische Leben verdrängen. An die Stelle der Eisbären könnten dann Schwertwale als die größten Raubtiere der Nordpolarregion treten. Viele der bisherigen Arten würden dort wohl aussterben.

Hinzu kommt die Versauerung der Ozeane. In wärmerem Wasser reagiert eine größere Menge von CO2 aus der Luft zu Kohlensäure als in kaltem. Durch diese Versauerung sinkt der Kalkgehalt des Wassers – der Baustoff für die Gehäuse und Panzer von Schnecken, Muscheln, Krebsen und Korallen wird zur Mangelware. Am Ende dieser Entwicklung „wird es das marine Ökosystem der Arktis, so wie wir es kennen, nicht mehr geben“, sagt Stirling.

Und auch kein Wetter, wie wir es gewohnt sind. Modelle der Klimaforscher zeigen, dass in diesem Jahrhundert mehr als 30 Prozent der Erwärmung der Nordhalbkugel und 14 Prozent des globalen Temperaturanstiegs durch den sommerlichen Eisschwund in der Arktis verursacht werden könnten. Das wird Folgen für das Wetter in allen Regionen der Erde haben, wenngleich noch niemand sagen kann, wie sie genau aussehen.

Möglicherweise verändert sich der Jetstream, und das könnte dazu führen, dass sich der „Polarwirbel“ verlagert. Der Jetstream ist ein Luftstrom, der sich in großer Höhe und mit schneller Geschwindigkeit um den Pol windet. Er sorgt dafür, dass die sehr kalte Luft des Polarwirbels über der Arktis bleibt. Seine Energie bezieht der Jetstream vor allem aus dem Temperatur- und Druckunterschied zwischen der eisigen Luft im Norden und der wärmeren im Süden.

Die amerikanische Atmosphärenforscherin Jennifer Francis hat dazu folgende These aufgestellt: Weil der Verlust von Meereis die Erwärmung in der Arktis verstärkt, wird der Temperatur- und Druckunterschied geringer. Dadurch wird der Jetstream geschwächt. Er wird langsamer, strömt weniger geradlinig, sondern mäandert stattdessen weit nach Süden und Norden. Weil der Strom so träge ist, halten die Wetterlagen, die er dabei über den Erdball schiebt, länger an.

In den USA hat sich dies in den vergangenen beiden Wintern womöglich besonders stark bemerkbar gemacht: Die arktischen Luftmassen luden extreme Schneemengen über Neuengland ab, während Kalifornien regenlos verdorrte. Auch in Ostasien, so vermuten südkoreanische Forscher, hängen die extremen Winter mit der veränderten Luftzirkulation zusammen. Über Europa wiederum könnte, der globalen Erwärmung zum Trotz, eine ausschweifende Schleife des Jetstreams wochenlang eisige Luft des Polarwirbels nach Süden tragen.

Die Theorie ist begründbar, aber noch nicht bewiesen, wie Francis zugibt. Andere Atmosphärenphysiker sehen die Ursache für den sich stärker windenden Jetstream und die südlichen Ausläufer des Polarwirbels im tropischen Pazifik, der eine wesentlich stärkere Energiequelle für die Luftströme ist als die Arktis (siehe Karte). Einig sind sich die Forscher darin, dass es noch Jahre dauern wird, bis man genügend Daten hat, um die Frage klären zu können.

Grafik: So funktioniert der Jetstream

Klar ist jedoch, dass die Erderwärmung fortschreitet. Selbst wenn man in den nächsten 20 Jahren massive Begrenzungen für den Ausstoß von Treibhausgasen beschlösse, wird sich das Meereis noch über Jahrzehnte zurückziehen. Bis 2050 gilt ein Temperaturanstieg um vier Grad Celsius in der Arktis als so gut wie sicher. Dann würde das Nordpolarmeer im Sommer mindestens zwei Monate eisfrei bleiben.

Ende Juni 2015, in der Endphase der Expedition, begann die letzte Eisscholle, an der das Schiff festgemacht hatte, sich aufzulösen. Die „Lance“ war 111 Tage im Eis gewesen und insgesamt etwa 4000 Seemeilen durch die Arktis getrieben. Manchmal hatten Eisbären vorbeigeschaut und neugierig mit den unbekannten elektronischen Instrumenten der Wissenschaftler gespielt. Bei einem Fußballmatch auf der Eisscholle hatte die Mannschaft der Seeleute die der Wissenschaftler geschlagen. Doch nun war die Fahrt vorbei. In den folgenden Jahren werden die 68 Forscher in ihren warmen Laboren hocken und all die gesammelten Daten interpretieren.

Womöglich werden die Ergebnisse sie nicht allzu optimistisch stimmen. Schon im Frühjahr hatte das amerikanische National Snow and Ice Data Center in Colorado bekannt gegeben, dass das arktische Meereis seine maximale winterliche Ausdehnung 2015 bereits im Februar erreicht hatte – einige Wochen früher als gewöhnlich. Und noch nie seit Beginn der Satellitenaufzeichnungen sei die maximale Eisfläche so klein gewesen.

Aus dem Englischen von Dr. Karin Rausch

(NG, Heft 01 / 2016, Seite(n) 122 bis 139)

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