Interview: "Über Essen kann man immer streiten"

Essen ist mehr als eine Notwendigkeit – das steht fest. Warum uns dieses Thema so bewegt, erklärt der Ernährungssoziologe Daniel Kofahl im Interview.

Von Lisa Srikiow
Foto von Privat

Essen ist mehr als eine Notwendigkeit – das steht fest. Warum uns dieses Thema so bewegt, erklärt der Soziologe Daniel Kofahl im Interview.

Herr Kofahl, was bedeutet uns das Essen?
Es verbindet und trennt uns. Alle Menschen müssen essen und trinken. Zu den Mahlzeiten kommen wir immer wieder zusammen. Diese Regelmäßigkeit ist wichtig. Zudem wirkt Essen kulturstiftend, unsere Vorfahren jagten in Gruppen und betrieben gemeinsam Landwirtschaft.

Inwiefern trennt uns die Ernährung?
Das fängt schon bei Tischmanieren an. Wenn sich jemand bei Tisch anders benimmt als ich, fällt uns das auf – ob positiv oder negativ. Wir ordnen diese Menschen anderen sozialen Gruppen zu. Da wäre außerdem die immer wieder aufflammende Diskussion zwischen Vegetariern und Fleischliebhabern, da tun sich große Gräben auf. Über Ernährung kann man immer streiten und diskutieren, denn jeder muss essen – nur gibt es eben viele unterschiedliche Esskulturen.

NATIONAL GEOGRAPHIC berichtete im September darüber, dass Menschen sich weltweit zunehmend einheitlich ernähren. Entspricht das auch Ihrer Beobachtung?
Es stimmt, dass einige Produkte in der ganzen Welt stärker nachgefragt werden, zum Beispiel Milch oder Fleisch. Oder dass bestimmte Marken wie Coca-Cola auch in sehr entlegenen Ecken der Welt bekannt sind. Gleichzeitig steigt aber die Bandbreite an Produkten und Ernährungsstilen wie der Vollwertkost, der Paläodiät oder der Molekularküche. Ein weiterer interessanter Gegensatz: In nahezu jedem Ort findet man zwar ein italienisches, griechisches oder chinesisches Restaurant, aber die regionalen Küchen haben ebenfalls eine große Bedeutung. In Hamburg isst man Franzbrötchen und in München Butterbrezeln. Dieser Mix aus globalen und lokalen Ernährungskulturen ergänzt sich zu einer größeren, von Vielfalt geprägten Ernährungskultur.

Verunsichert diese Vielfalt die Verbraucher?
Ich denke schon, dass viele Menschen das Gefühl haben, immer weniger über ihre Ernährung zu wissen. Das ist allerdings ein Trugschluss, tatsächlich wächst das kulinarische Wissen vieler Menschen. Allerdings zeigt gerade diese Entwicklung, wie komplex das Thema Ernährung ist, denn selbstverständlich gibt es auch solche Personengruppen, die alles, was mit Essen und Trinken zu tun hat, von sich wegdelegieren.

Wie meinen Sie das?
Wer nur von Außerhausverpflegung und Convenience-Produkten lebt und auch sonst kein Interesse an dem Thema Ernährung hat, der schult seine kulinarische Intelligenz sicherlich nicht. Aber man muss die Vergangenheit diesbezüglich auch nicht romantisieren: Früher konnte auch nicht jeder kochen, und schon gar nicht immer gut und gesund. Eine gute Ernährungskultur ist zumindest keine Frage der sozialen Herkunft. Auch in weniger gut verdienenden Haushalten wird Kochen geübt. Problematisch sind vor allem die begrenzten finanziellen Spielräume unter denen untere Schichten leiden.

Welchen Ernährungstrend finden Sie derzeit besonders spannend?
Mich interessieren die konkurrierenden Ernährungsstile, zwischen denen wir uns täglich entscheiden müssen. Dadurch geben wir Statements ab. Wir zeigen, wer wir sind und welche Werte uns wichtig sind: Kaufen wir nur Bio-Produkte oder ernähren wir uns vor allem von Tiefkühlpizza? Ein Aspekt ist besonders bemerkenswert: Ernährung wird immer mehr ein gesundheitsfördernder Einfluss zugeschrieben, die Nähe zur Medizin wird größer. Dieser Trend beginnt schon im 19. Jahrhundert, als es Überlegungen gab, wie man Soldaten oder Arbeiter am besten ernährt, um sie leistungsstärker zu machen.

Wer steckte dahinter?
Das waren ernährungspolitische Maßnahmen, die sich zusammen mit der modernen, naturwissenschaftlich basierten Ernährungsforschung entwickelten. Forscher wie Rudolf Virchow, Justus Liebig oder Max Rubner ermittelten, welche Nährstoffe unterschiedliche Teile der Bevölkerung benötigten – zum Beispiel den Eiweiß- und Kalorienbedarf der Proletarier. Daraufhin wurden Mindesteinkommen, aber auch Kostsätze eingeführt. Ziel war es, die Bevölkerung effektiv und günstig zu ernähren sowie Hungerunruhen vorzubeugen.

Heute setzt sich diese Entwicklung gesundheitsbezogener Ernährungskonzepte fort, sie verlagern sich jedoch zum Einzelnen hin: Wir haben verinnerlicht, bis zu drei Liter Wasser am Tag trinken, weil es gut für uns zu sein scheint, weil es uns leistungsfähiger machen soll, und wir reduzieren unseren Zuckerkonsum, um gezielt unser Wohlbefinden zu steigern und vermessen uns mit Gesundheits-Apps und intelligenten Uhren, um vermeintlich objektive Daten über unseren Körper und den Einfluss unserer Ernährung zu erhalten.

Woran liegt das?
Das geht einher mit dem Trend zur Selbstoptimierung. Die gesellschaftlichen Normen und Institutionen verlangen von uns, dass wir selbst für unsere Gesundheit und Fitness verantwortlich sind.

Warum ekeln wir uns dann davor, Insekten zu essen? Sie sind reich an Proteinen, aber fettarm. Außerdem ist es viel umweltfreundlicher, sie zu produzieren.
Wir entwickeln Ekel vor bestimmten Produkten, weil wir von Erziehung, sozialen Bezugsgruppen oder den Medien beeinflusst werden. Warum es aber nun gerade die Insekten trifft, ist noch ungeklärt. Es gibt keinen vernünftigen Grund, Insekten nicht zu essen. Zumal ganz ähnliche Gerichte schon längst auf unserem Speiseplan stehen, zum Beispiel Hummer oder Garnelen. Sie gelten sogar als Delikatessen. In Deutschland aß man übrigens noch im vergangenen Jahrhundert Gerichte wie Maikäfersuppe. Warum die meisten von uns keine Insekten essen mögen, ist also wirklich merkwürdig.

Daniel Kofahl, ist Ernährungssoziologe und beschäftigt sich damit, wie Esskulturen unsere Gesellschaft beeinflussen. Kofahl lehrt an den Universitäten Kassel und Köln und leitet das Büro für Agrarpolitik und Ernährungskultur. 2013 veröffentlichte er den Sammelband „Kulinarisches Kino – Interdisziplinäre Perspektiven auf Essen und Trinken im Film“.

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