Zentralasien - Es war einmal ein See
Er war eines der größten Binnengewässer der Erde. Doch dann nutzten die Sowjets sein Wasser für den Baumwollanbau. 50 Jahre später ist der Aralsee weitgehend ausgetrocknet. Die Geschichte einer menschengemachten Katastrophe im Zeitraffer.
Zusammenfassung: Der Aralsee an der Grenze von Kasachstan zu Usbekistan gehörte einst zu den größten Binnengewässern der Erde . Doch nachdem die sowjetische Regierung das Wasser des Sees umleitete, um Baumwollplantagen zu bewässern, trocknete der See nach und nach aus. Während der kasachische Teil durch einen Staudamm gerettet werden konnte, verlandet der Südteil immer weiter. Heute kämpfen die Menschen in der Region mit den Folgen dieser Entwicklung: Die Luft wird schlechter, giftige Sandstürme häufen sich und die Fischer verlieren ihre Einkommensgrundlage.
„So wird es nach dem Jüngsten Gericht aussehen“, sagt Yusup Kamalow und deutet auf die mit Gestrüpp bedeckte Ödnis. „Sollte das Armageddon irgendwann kommen, werden wir als Einzige übrig bleiben. Denn wir hier in Karakalpakistan haben schon gelernt, mit dem Ende der Welt zu leben.“
Der Blick von einer sandigen Anhöhe im Norden von Usbekistan könnte über eine beliebige Wüste gehen – wären da nicht diese Haufen von Muschelschalen und die gestrandeten Fischerboote, die im Sand vor sich hin rosten. Früher bildete der Hügel, auf dem Kamalow steht, die Spitze einer Halbinsel, die in einen See hineinragte – in den Aralsee, bis vor 50 Jahren das viertgrößte Binnengewässer der Welt. Der See bedeckte eine Fläche von rund 67.000 Quadratkilometern, fast so groß wie Bayern. Hinter Kamalow stehen die Häuser von Muinak, einst ein florierendes Fischerdorf mit einer riesigen Konservenfabrik. Noch bis vor 30 Jahren wurden dort jedes Jahr Tausende Tonnen Fisch verarbeitet. Heute liegt das Ufer des Sees 90 Kilometer entfernt.
Yusup Kamalow leitet eine Forschungsgruppe im Bereich Windenergie an der Usbekischen Akademie der Wissenschaften, er ist aber auch Umweltaktivist und Vorsitzender der Vereinigung zur Rettung des Aralsees und des Flusses Amu Darja. Der 64-Jährige entstammt einer einflussreichen usbekischen Familie: Sein Vater war ein angesehener Historiker, sein Großvater der letzte gewählte Khan – der Nomadenfürst – der halbautonomen Republik Karakalpakistan, ehe sie 1936 der Usbekischen Sowjetrepublik zugeschlagen wurde.
Mit wehender weißer Haarmähne steht Kamalow am ehemaligen Ufer und zeigt, was von dem riesigen, einst von Leben wimmelnden Aralsee geblieben ist. Und was das zurückweichende Wasser hinterlassen hat. Manches davon ist hochgefährlich.
Der Aralsee liegt an der Grenze von Kasachstan zu Usbekistan. Er wurde über Jahrtausende hinweg von zwei großen Flüssen gespeist, dem Amu Darja und dem Syr Darja. Der See hatte nie einen Abfluss; das Wasser floss hinein und es verdunstete, auf diese Art blieb der Wasserstand im natürlichen Gleichgewicht.
Schon als Alexander der Große das Gebiet 334 v. Chr. eroberte, hatten die beiden Flüsse eine lange Geschichte als Lebensadern Zentralasiens. Später waren der Aralsee und sein ausgedehntes Flussdelta ein wichtiger Streckenpunkt an der Seidenstraße, die von China nach Europa führte. Tadschiken, Usbeken, Kasachen und andere Volksgruppen siedelten dort seit antiken Zeiten, und bis in die jüngste Vergangenheit lebten sie auch nicht schlecht als Bauern, Fischer, Hirten, Händler und Handwerker. Das änderte sich, als aus dem vormaligen Turkestan im Jahr 1925 die Usbekische Sowjetrepublik wurde. Damals beschloss Josef Stalin, die mittelasiatischen Sowjetrepubliken in riesige Baumwollplantagen zu verwandeln. Die Region war jedoch zu trocken für den Anbau einer solch durstigen Pflanze. Die Sowjets machten sich deshalb an eines der ehrgeizigsten Ingenieurprojekte der Weltgeschichte: Auf Tausenden von Kilometern hoben Millionen Hände Bewässerungskanäle aus, um das Wasser der Flüsse Amu Darja und Syr Darja in die umgebende Wüste umzuleiten.
1987 war der Wasserspiegel des Aralsees so weit gesunken, dass er sich in zwei Gewässer teilte: einen nördlichen See in Kasachstan und einen viel größeren südlichen im usbekischen Karakalpakistan. Der südliche See verlandete 2002 so stark, dass aus ihm noch mal zwei wurden, ein östlicher und ein westlicher See. Im Juli 2014 war der östliche See völlig ausgetrocknet.
„Bis Anfang der Sechzigerjahre war das System relativ stabil“, sagt Philip Micklin. Der Professor für Geografie an der Western-Michigan-Universät beschäftigt sich schon sein ganzes Berufsleben lang mit der Wasserwirtschaft in der ehemaligen Sowjetunion. Seit den Achtzigerjahren war er etwa 25-mal in Mittelasien und hat das Sterben des Aralsees mit eigenen Augen beobachtet. „Es begann damit, dass immer mehr Bewässerungskanäle gebaut wurden, die dem See das Wasser entzogen“, sagt er. „Sie kennen das Bild: Man lädt einem Esel eine Last auf und noch eine, bis ein einziger Zweig zu viel ihn zusammenbrechen lässt. Die Verantwortlichen wussten, was sie taten. Nicht im Klaren waren sie sich über die Kettenreaktion an Umweltfolgen, die sie auslösten – und auch nicht darüber, wie schnell der See verschwinden würde.“
Video: Das Austrocknen des Aralsees im Zeitraffer
Immerhin: Der kasachische Teil des Aralsees scheint mittlerweile gerettet. Mit Unterstützung der Weltbank errichteten die Kasachen 2005 im Norden einen 13 Kilometer langen Staudamm. Der dadurch entstandene separate See wird durch den Syr Darja gespeist. Seit der Fertigstellung des Damms haben sich dieser See und sein Fischbestand schneller erholt als erwartet. So rettete der Damm zwar einen Teil des Sees, zugleich schnitt er den Rest endgültig von einer der wichtigsten Wasserquellen ab. Das Ende des südlichen Sees war besiegelt.
„Besonders traurig und frustrierend ist, dass die Planer der Bewässerungssysteme im sowjetischen Wasserministerium genau wussten, dass sie den Aralsee dem Untergang weihten“, sagt Kamalow. In der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts beriefen sich die Sowjets auf die Arbeit des russischen Klimatologen Alexander Wojeikow (1842–1916). Der hatte den Aralsee als „nutzlosen Verdampfer“ bezeichnet, als „Fehler der Natur“. Den Behörden war es recht, sie versprachen sich von der Landwirtschaft mehr als von der Fischerei.
Baumwolle wird auch heute noch geerntet. Jeden Herbst bringen zwei Millionen usbekische Staatsbürger als „freiwillige“ Erntehelfer rund drei Millionen Tonnen Baumwolle ein. Beamte, Schüler, Lehrer, Ärzte, Ingenieure und sogar Rentner werden mit Bussen zu den Feldern gebracht, wo sie ihre Norm erfüllen. „Usbekistan gehört zu den Ländern, in denen Zwangsarbeit staatlich organisiert und kontrolliert wird. Der Präsident ist quasi der oberste Menschenhändler“, sagt Steve Swerdlow, Direktor des Mittelasien-Büros der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch.
„Kaum vorstellbar, oder“, sagt Kamalow und dreht sich auf dem Beifahrersitz des Land Cruisers um. „Noch vor 40 Jahren war das Wasser an dieser Stelle 30 Meter tief.“ Der Fahrer deutet durch die Windschutzscheibe auf eine dicke braune Wolke, die durch die Wüste zieht. Noch vor einer Minute war die Luft klar, jetzt wird es höchste Zeit, das Fenster hochzukurbeln. Sekunden später umhüllt giftiger Staub den Wagen und dringt durch alle Ritzen. Er brennt in den Augen, der starke Salzgeschmack erzeugt Übelkeit.
Auf einer Insel befand sich ein Testgelände für Biowaffen. Sie ist heute keine Insel mehr.
Der Sandsturm ist nur eine von vielen ökologischen Folgen der Sowjetzeit. „Die Geochemiker dachten, dass sich nach dem Austrocknen des Sees eine harte Kruste aus Salz bilden würde“, sagt Micklin. „Sie haben sich geirrt.“
Der umherwirbelnde Staub enthält nicht nur hochgiftige Konzentrationen von Salz, sondern auch Pestizide wie DDT, Hexachlorcyclohexan, Toxaphen und Phosalon, alles krebserregende Substanzen. Diese Chemikalien sind jetzt über all in der Nahrung. Ein Zusammenhang ist nicht bewiesen, aber Speiseröhrenkrebs kommt heute in Karakalpakistan 25-mal häufiger vor als im Weltdurchschnitt. Weitverbreitet sind hier zudem multiresistente Tuberkulose, Atemwegserkrankungen, Immunkrankheiten und Missbildungen bei Neugeborenen.
Vielleicht noch erschreckender ist die Tatsache, dass sich früher im Aralsee ein Testgelände für Biowaffen befand. Standort war die Wosroschdenije-Insel – die jetzt allerdings keine Insel mehr ist. Das Amt für Mikrobiologische Kriegsführung der Roten Armee brachte damals Tausende von Tieren auf die Insel und infizierte sie für seine Versuche mit Pocken, Pest, Brucellose und anderen Krankheitserregern. Auch mit Milzbrandbakterien (Anthrax) wurde dort experimentiert.
Um zu verhindern, dass die rostenden Fässer in falsche Hände geraten, sandte die amerikanische Regierung im Jahr 2002 ein Spezialteam auf die Insel. Seit der Reinigungsaktion sind im Staub keine biologischen Erreger mehr nachgewiesen worden. Jedoch erkranken in der Region ab und an noch Menschen an der Pest.
Die Straße zum See flankieren Dutzende Öl- und Erdgasplattformen in der sonnengebleichten Sandwüste. Die ersten Bohrtürme, erzählt Kamalow, wurden errichtet, als der See anfing zu verlanden. Jetzt werden es jedes Jahr mehr. „Natürlich erhöht das für die Regierung nicht den Anreiz, sich für die Wiederauffüllung des Sees einzusetzen.“
Die Fahrt über rumpelige Feldwege dauert Stunden. Nur ab und zu bricht das blasse Grün vereinzelter Saxaul-Büsche und hin und wieder auch das Rosa blühender Tamarisken durch das Weiß des Sandes unter dem blauen Himmel.
Schließlich funkelt am Horizont eine silberne Linie. Der Wagen nähert sich dem Ufer des Sees. Direkt am Wasser stehen Zelte. In den Jurten leben Chinesen, die hier nach Artemia parthenogenetica, einem Salzwasserkrebs, fischen. Sonst lebt im See nichts mehr. Der Salzgehalt ist von einst zehn Gramm pro Liter auf mehr als 110 Gramm angestiegen, dreimal so viel wie in den Weltmeeren. Das überlebt kein Fisch.
In der Nähe des Ufers ist der schlammige Sand feucht, so wie ein Strand bei Ebbe. Der Aralsee hat keine wahrnehmbaren Gezeiten, das Wasser verschwindet wie auf magische Art.
„Hier darf man keinen Moment stehen blei ben“, brüllt Kamalow, während er sich nur in Unterhose Richtung See voranarbeitet. Er stapft durch den knietiefen Treibsand, der jeden verschlingt, der sich nicht weiterbewegt. Irgendwann steht das Wasser schenkelhoch. Schwimmen kann man hier aber nicht, der hohe Salzgehalt drückt Arme und Beine an die Oberfläche. Kamalow empfiehlt, sich einfach auf den Rücken zu legen. Es fühlt sich an, als hätte man eine Luftmatratze unter sich, der Kopf ruht wie auf einem kühlen Kissen.
„Statt Nebel haben wir jetzt giftigen Staub in der Luft“, sagt Yusup Kamalow und leert grimmig ein Glas Wodka.
Abends im Zeltlager, nach einer Mahlzeit am offenen Feuer, schenkt Kamalow Wodka ein und erzählt von früher, als der See noch im Gleichgewicht war und Fischer prallvolle Netze aus dem Wasser zogen. Damals verdunsteten täglich Millionen Kubikmeter Wasser und feuchteten die Luft an. „Jetzt haben wir statt Nebel Giftstaub in der Atmosphäre“, sagt Kamalow und leert grimmig sein Glas.
Wasser ist der wertvollste Rohstoff der Region. Der Amu Darja und der Syr Darja fließen durch mehrere Länder. Dass die fünf „Stans“ (neben Kasachstan und Usbekistan auch Kirgisistan, Tadschikistan und Turkmenistan) unterschiedliche Strategien verfolgen, macht es nicht leichter. Seit 1992 versucht die Zwischenstaatliche Kommission für Wasserkoordination, Konzepte gegen den Wassermangel in Mittelasien zu erarbeiten. Die wichtigsten Fragen sind: Wem gehört das Wasser? Und welche Verantwortung haben die Länder an den Oberläufen der Flüsse für den Schutz der Wasserressourcen der Länder am Unterlauf ?
Die Menschen in Karakalpakistan können indes kaum mitbestimmen, was am Oberlauf des Amu Darja geschieht. „Das ist Diskriminierung per geografischer Lage“, sagt Kamalow. „Das Wasser gehört dem Aral.“ Doch dass der usbekische Teil des Sees in absehbarer Zeit wieder aufgefüllt werden könnte, daran glaubt er nicht mehr.
Die Politik macht dem See seiner Heimat den Garaus, und das macht ihn wütend. Aber wenn es Zeit für die Baumwollernte ist, wird auch er, wie jeden Herbst seit 50 Jahren, wieder seinen Dienst an der Nation leisten. „Niemand ist befreit“, so Kamalow. „Man kann 90 Jahre alt sein und nur noch ein Auge und ein Bein haben, in die Ernte muss man trotzdem.“ Steve Swerdlow sagt, Kamalow könnte, falls er sich dem „freiwilligen“ Einsatz entzieht, seine Stelle verlieren oder ins Gefängnis kommen. Die Angst vor der Zentralregierung in Taschkent und ihren Repressionen ist überall groß.
Kamalow sagt dennoch, man dürfe ihn mit seinen kritischen Worten über das Schicksal des Aralsees gern zitieren. „Hier in Karakalpakistan fürchten wir uns alle vor Taschkent“, sagt er. „Aber ich persönlich habe die Angst satt.“
(NG, Heft 6 / 2015, Seite(n) 138 bis 153)