Der weltweit erste „Menstruationszyklus aus der Petrischale“ simuliert den weiblichen Körper

Nach Jahrzehnten der Arzneimittelprüfung vorwiegend an Männern könnte ein neues Gerät dabei helfen, Behandlungen auf verschiedene Geschlechter zuzuschneiden.

Von Erika Engelhaupt
Veröffentlicht am 9. Nov. 2017, 03:30 MEZ
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EVATAR ist ein weiblicher Fortpflanzungstrakt, der in eine Hand passt. Jedes abgetrennte Fach des Würfels enthält ein 3D-Modell eines Teils des Fortpflanzungstrakts, zum Beispiel die Eierstöcke, Eileiter, Uterus, Gebärmutterhals, Vagina und Leber. Die blaue Flüssigkeit wird durch jedes Fach gepumpt und erfüllt die Aufgabe des Blutes. Das letztendliche Ziel ist es, Stammzellen einer einzelnen Patientin zu entnehmen und ein personalisiertes Modell ihres Fortpflanzungssystems nachzubilden, um neue Arzneien auf ihre Sicherheit und ihren Wirkungsgrad zu testen.
Foto von Northwestern Medicine

In einem Labor in Chicago hatte ein Gerät, das auf eine Handfläche passt, gerade seine erste Periode.

Die Vorrichtung erinnert an eine japanische Bento-Box, aber anstelle von Trennwänden für Sushi enthält jedes Fach lebendes Gewebe. Eines beherbergt ein Stück vom Eierstock einer Maus, die anderen enthalten Teile, die von einem menschlichen Uterus, einem Gebärmutterhals, einer Vagina, Eileitern und einer Leber stammen. Das Team hat die Vorrichtung EVATAR getauft, ein Wortspiel in Anlehnung an das Konzept eines Avatars, einer virtuellen Repräsentation einer Person, und den Namen der ersten biblischen Frau.

Wissenschaftler haben berichtet, dass die Vorrichtung zum ersten Mal einen vollständigen Menstruationszyklus reproduziert hat. Die Gewebe haben Hormone produziert, die durch das Mini-Fortpflanzungssystem gewandert sind, während ihre Konzentrationen über einen Zeitraum von 28 Tagen stiegen und fielen.

Der EVATAR, der diese Woche in der Fachzeitschrift „Nature Communications“ beschrieben wurde, wurde entwickelt, um Wissenschaftlern dabei zu helfen, die unterschiedliche Wirkung von Arzneien und Toxinen auf Männer und Frauen besser zu verstehen.

„Es handelt sich wirklich um eine ganz revolutionäre Technologie“, erzählt Co-Autorin der Studie Teresa Woodruff, Professorin für Geburtskunde und Gynäkologie an der Northwestern University.

Bis vor wenigen Jahren wurden die meisten Medikamente überhaupt nicht an Frauen getestet, was mitunter tragische Konsequenzen hatte. Ein Sedativ, das in den 1950ern entdeckt wurde, wurde beispielsweise basierend auf klinischen Studien als absolut sicher angepriesen. Es erfreute sich zunehmender Beliebtheit bei morgendlicher Übelkeit schwangerer Frauen, und um 1960 herum konnten sich seine Verkaufszahlen in manchen Ländern mit denen von Aspirin messen lassen.

Aber dann fingen Frauen sehr zur Überraschung der Ärzte an, Babys mit fehlenden oder deformierten Körperteilen zu gebären. Das Sedativ mit dem Namen Contergan verlangsamte das Wachstum von Blutgefäßen in den Gliedmaßen des Fötus während derselben Schwangerschaftsphase, in der die Frauen Contergan nahmen, um ihre Morgenübelkeit zu bekämpfen.

Die Ärzte hatten angenommen, dass das Medikament bei Frauen auf die gleiche Weise wirken würde wie bei Männern und dass es die Plazentabarriere nicht durchdringen könnte, um zum Fötus zu gelangen.

Ironischerweise hat das Medikament eine solche Hysterie ausgelöst, dass es die amerikanische Food and Drug Administration (FDA, dt. Behörde für Lebens- und Arzneimittel) dazu brachte, schwangere Frauen aus Angst vor einer erneuten Tragödie von klinischen Studien auszuschließen.

Das führte zu Jahrzehnten von Arzneimittelfreigaben nach nur minimalen Tests an Frauen. „Frauen erlitten so viel Schaden“, sagt Woodruff.

1993 wurde Frauen die Teilnahme an neuen Arzneimitteltests wieder gewährt. Trotzdem waren Frauen und Minderheiten bei klinischen Tests weiterhin unterrepräsentiert, was zu andauernden Problemen führte. 2001 fand eine Studie heraus, dass acht von zehn Medikamenten, die von der FDA vom Markt genommen wurden, für Frauen schädlicher als für Männer waren.

Es gab zum Beispiel den bizarren Fall von schlafwandelnden und sogar im Schlaf fahrenden Frauen, die das Schlafmittel Ambien nutzten.

In einem Fall wachte 2009 eine Flugbegleiterin in einem texanischen Gefängnis auf – sie hatte mit ihrem Auto drei Menschen überfahren, während sie unter Einfluss des Medikaments schlief. Es stellte sich heraus, dass Ambien aufgrund unterschiedlicher Leberfunktionen im weiblichen Körper länger verblieb als im männlichen und die Medikamentenrückstände Frauen in einer Art langanhaltendem „Ambient-Zombie“-Modus zurückließ.

Die einfache Lösung war, Frauen eine geringere Dosis zu verschreiben. Das wussten die Ärzte aber nicht, da der Arzneimittelhersteller Ambiens Wirkung nur an männlichen Probanden getestet hatte.

Systeme synchronisieren

Woodruffs neues Gerät zielt also darauf ab, Medikamententests in einem System, das den weiblichen Körper imitiert, einfacher zu gestalten. Dies sei ein Schritt in Richtung einer dringend benötigten Revolution in der Medizin, so Marianne Legato, Leiterin der Foundation for Gender-Specific Medicine (dt. Stiftung für geschlechterspezifische Medizin) in New York City.

„Ich glaube, wir befinden uns in einer neuen Ära der Erforschung“, erzählt sie.

Zusätzlich zu den Unterschieden zwischen Männern und Frauen gibt es auf die weibliche Physiologie auch die Auswirkungen, welche durch Schwankungen von Östrogen und Progesteron während der Menstruationszyklen verursacht werden, sagt Legato.

„Selbst die Zusammensetzung des Speichels ist auf dem Höhepunkt des Zyklus anders“, erklärt sie. So gäbe es eine höhere Konzentration von Enzymen zur Verdauung von Nahrung. „Diese hormonellen Schwankungen sind nicht nur in ihrer normalen Funktion ein wichtiger Faktor, sondern können als spezifische Ziele für die Tests neuer Arzneien isoliert werden.“

BELIEBT

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    Ein Forscher hält das vollständige EVATAR in der Hand.
    Foto von Northwestern Medicine

    Andere Labore haben „Organe auf Chips“ hervorgebracht, aber Woodruffs Gerät ist auf einem ganz neuen Level, so Christos Coutifaris, ein Reproduktions-Endokrinologe an der Universität von Pennsylvania, der kürzlich ein funktionierendes Modell einer menschlichen Plazenta entwickelt hat.

    „Sie ist gleich mehrere Schritte vorausgegangen, indem sie nicht nur ein einzelnes Organ, sondern ein ganzes System nachgebildet hat“, erklärt er.

    Woodruff hat Experten für jeden Bestandteil des Fortpflanzungssystems versammelt, um das Gerät zu bauen; ein Team hat beispielsweise an den Eierstöcken gearbeitet, ein anderes am Gebärmutterhals.

    Schlussendlich könnten diverse synthetische Systeme miteinander verbunden werden, um im Grunde einen „Menschen in der Petrischale“ zu erzeugen, so die Hoffnung einiger Wissenschaftler. Das könnte die Notwendigkeit mindern, direkt an Menschen oder Tieren zu experimentieren.

    Und Wissenschaftler hoffen, dass ein solches Gerät eines Tages das Gewebe von Patienten nutzen kann, um Behandlungen auf ein spezifisches Individuum abzustimmen. Woodruff stellt sich eine Zukunft vor, in der die ärztliche Versorgung eines Menschen mit Hilfe einiger personalisierter Avatar-Geräte auf ihn zugeschnitten werden kann, die seinen sich im Lauf der Jahre verändernden Metabolismus repräsentieren.

    „Ich glaube, dass uns eine glänzende Zukunft für die Gesundheit von Frauen bevorsteht“, sagt sie.

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