Wie unser Gehirn bestimmt, was und wie wir wahrnehmen

Unsere Wahrnehmung bildet das Fundament für alles, was wir denken, tun, glauben, wissen oder lieben, sagt der Neurowissenschaftler Beau Lotto.

Von Simon Worrall
Veröffentlicht am 3. Nov. 2017, 15:23 MEZ
 Die „sehenden Instrumente“
Mit diesen Instrumenten hört man das, was man sieht. Sie wandeln das Licht, welches ihre eingebauten Kameras auffangen, in Musik um. Die „sehenden Instrumente“ wurden für eine Ausstellung von dem Neurowissenschaftler Beau Lotto und dem Künstler Nick Kary gebaut.
Foto von Lab of Misfits

Begriffe wie „Abweichler“ und „Sonderling“ sind normalerweise mit negativen Konnotationen besetzt. Aber der Neurowissenschaftler Beau Lotto erklärt in seinem neuen Buch „Deviate: The Science of Seeing Differently“ (dt. Andersdenker: Die Wissenschaft davon, Dinge anders zu sehen), dass unsere Fähigkeit, sich Konformität zu widersetzen, im Grunde fast jeden Vorstoß auf dem Weg des menschlichen Fortschritts bewirkt hat. Die nächste große Innovation wird vermutlich keine neue Technologie sein, sagt er, sondern eine neue Art, die Dinge zu betrachten.

National Geographic sprach mit dem Autor in dessen Zuhause in New York. Dabei erklärte er, wie ein blinder Junge sich mit Echoortung in der Welt zurechtfand, warum die Farbe Rot nicht existiert und wie wissenschaftliche Forschung zu Mitgefühl führen kann.

Cover des Buches „Deviate: The Science of Seeing Differently”
Foto von Hachette Book Group

Erzählen Sie mal, wie schafft es ein Neurowissenschaftler, einen Klappentext von Jerry Harrison von der Band Talking Heads für sein Buch zu bekommen?

[Lacht] Ich habe Jerry durch einen anderen Freund kennengelernt, Peter Baumann von Tangerine Dream. Peter hat ein Projekt namens Being Human ins Leben gerufen. Er hat eine Konferenz organisiert und zufällig war ich der erste Redner seiner allerersten Konferenz vor etwa vier Jahren. Seitdem sind Jerry und ich befreundet. In meiner Forschung bin ich auch zunehmend an Musik interessiert. Es liegt einfach etwas absolut Überirdisches in ihrer Fähigkeit, Dinge zu tun, die visuelle Kunst nicht kann. Ich denke, dass sich viele zukünftige Technologien weniger auf das Sehvermögen und mehr auf Klänge konzentrieren werden.

2015 ging ein Bild von einem Kleid durchs Internet, weil die Leute sich nicht darauf einigen konnten, welche Farben es hatte. Was sagt das über die menschliche Wahrnehmung aus?

Diese Geschichte nahm ihren Anfang in Schottland. Jemand hat ein Foto von einem Kleid gemacht und es dann herumgeschickt. Plötzlich konnten sie sich nicht auf die Farbe einigen. Das zeigt, dass zwei Menschen unterschiedliche Ansichten zu etwas so Grundlegendem wie Farben haben können.

Wenn man Dinge sagte wie „Wir sehen die Realität nicht“, dann denken die Leute gleich, man wäre so ein postmoderner Relativist. Aber das ist nicht der Fall. Es gibt eine physische Welt. Es ist eben nur so, dass wir sie nicht sehen. Rot existiert nicht, die Note „C“ existiert nicht. Das sind alles Dinge, die in unserem Kopf entstehen und die wir auf die Welt projizieren.

Was ich an der Geschichte mit dem Kleid so mochte, war, dass sie Zweifel geschürt hat – und ich bin jemand, der sehr an Zweifel glaubt. Ich bin natürlich ein Farbwissenschaftler, und deshalb haben viele Pressevertreter mich und andere Farbwissenschaftler angerufen, damit wir das erklären. Aber ich fand, dass es da noch eine andere Geschichte gab, über die nicht berichtet wurde: Warum verbreitete sich das Foto so viral? Die Menschen sind mit dem Konzept der [optischen] Täuschung sehr vertraut. Warum also verbreitete sich gerade diese Täuschung viral? Weil es um etwas so Grundlegendes wie Farbe ging und darum, dass sich zwei Menschen nicht einig werden konnten. Aber wenn das schon bei Farben so ist, denken Sie mal, was das noch alles impliziert. Wenn es auf dieser Ebene wahr ist, muss es den ganzen Weg hoch bis zu den Vorgängen im Gehirn wahr sein.

BELIEBT

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    Sie sagen, dass ihre größte Motivation für das Schreiben des Buches war, durch wissenschaftliches Verständnis zu Mitgefühl anzuregen. Können Sie diesen Zusammenhang erklären?

    Da gibt es einen deutlich stärkeren Zusammenhang, als die Menschen denken. Es geht darum, sich zu fragen, was es bedeutet, ein guter Wissenschaftler zu sein. Allzu oft glauben wir, dass Wissenschaft eine Methode, ein Prozess ist. Unserer Vorstellung nach ist es aber eine Lebensart, die es einem ermöglicht, sich in die Ungewissheit zu begeben. Und den Zweifel zu zelebrieren, das Ungewisse zu betreten, das ist fundamental für das Empfinden von Mitgefühl.

    Es ist nicht wirklich so, dass ich Mitgefühl wissenschaftlich untersuche. Ich hoffe, dass sich das Mitgefühl aus der Forschung ergibt, indem man Menschen zu einem Teil des Prozesses macht, ihre eigene Wahrnehmung zu begreifen. Wahrnehmung bildet das Fundament für alles, was wir denken, tun, glauben, wissen oder lieben. Sobald man das begreift, folgen Konsequenzen wie Mitgefühl, Respekt, Kreativität, Wahl und Gemeinschaft.

    Sie benutzen den Ausdruck „die Physik des Nein“. Erklären Sie uns, was das bedeutet und wie es sich in der „Ökologie des Gehirns“ manifestiert, wie Sie es nennen.

    Wir sagen so oft Nein zu Dingen, als wäre das eine physikalische Gesetzmäßigkeit, wie die Schwerkraft. Wir behandeln unsere Wahrnehmungen, als wären sie konstant und unnachgiebig, obwohl viele eigentlich flexibel sind und von irgendwo herkommen. Wenn wir verstehen, wo sie herkommen, dann können wir sogar beeinflussen, wo sie hingehen. Damit tritt man aus der Physik des Nein heraus und in die Biologie des Vielleicht und der Möglichkeiten hinein.

    Dort denken wir über die Ökologie des Gehirns nach. Das Gehirn sitzt nicht einfach nur in unserem Kopf herum. Es befindet sich in  Wechselwirkung zwischen dem, was sich im Schädel und seinem Körper befindet, und dem Körper in der Welt. Dort lebt die Wahrnehmung. Wir vergessen oft – besonders in der heutigen digitalen Welt –, dass wir uns in diesem Körper entwickelt haben, in diesem Körper in dieser Welt, und dort erzeugt das Gehirn Bedeutung. Wahrnehmung ist der Raum dazwischen.

    Illusionen und Täuschungen lassen uns an dem zweifeln, was wir sehen. Die beiden mittleren Quadrate auf diesem Würfel haben beispielsweise dieselbe Farbe. Wisst ihr, wie diese Täuschung funktioniert?
    Foto von Lab of Misfits

    Sie sagen, dass die nächste große Innovation keine Technologie, sondern unsere Art des Wahrnehmens sein wird. Verdeutlichen Sie uns diesen Gedanken ein bisschen.

    Da geht es um Kreativität. Wenn man die nächste große technologische Innovation erschaffen will, muss man sich an eine Lebensweise anpassen können, die es einem ermöglicht, den Bereich der Ungewissheit zu betreten. Innovation hat zwei Seiten: Kreativität und Effizienz. Aber bei so ziemlich allem, was wir in unserem Leben tun, konzentrieren wir uns nur auf die Effizienzseite der Gleichung. Unternehmen versuchen fortwährend, mehr für weniger zu bekommen. Sie fangen mit Kreativität an, haben eine großartige Idee, und dann versuchen sie, sie durch Effizienz zu maximieren. Und das ist ja auch ein gutes Konzept. Das Problem ist, dass sie den Zyklus nicht von Neuem beginnen. Sie versuchen einfach weiter, die Effizienz zu maximieren.

    Regierungen machen das genauso. Wir konzentrieren uns auf die Antworten statt auf die Fragen. In der Schule richten wir unsere Aufmerksamkeit darauf, dass Kinder ihre Stundenpläne auswendig lernen, anstatt das Konzept von Zahlen zu verstehen. Ich nenne das „Spiel mit Intention“. Das ermöglicht es einem, Fragen zu stellen und den Innovationszyklus von Neuem zu starten. Wenn man das nicht kann, veraltet man zunehmend und wird sich nicht anpassen können.

    Ben Underwood liest sein Braille-Mathebuch. Underwood war seit der Geburt blind und hat sich beigebracht, seine Umgebung durch Echoortung zu „sehen“.
    Foto von Kevin German, Sacramento Bee, MCT via Getty Images

    Ein besonders bewegender Abschnitt des Buches befasst sich mit einem blinden Jungen, der sich selbst die Echoortung beigebracht hat. Erzählen Sie uns etwas über Ben Underwood und die erstaunliche Wissenschaft, die seiner Leistung zugrunde lag.

    Es ist auf viele verschiedene Arten eine wundervolle Geschichte. Ben kam blind zur Welt und hatte Krebs in beiden Augen. Er hatte eine Art des Seins, die es ihm ermöglichte, fortwährend das Ungewisse zu betreten und Risiken auf sich zu nehmen.

    Die zugrunde liegende Wissenschaft ist, dass das Gehirn anpassungsfähig ist. Das Gehirn hat sich evolutionär entwickelt, um sich anpassen zu können, weil sich die Welt verändert. Die erfolgreichsten Systeme der Natur sind die, die sich anpassen. Weil sich das Gehirn anpassen kann, kann es Vorteile aus den lokalen Prinzipien und Regeln einer bestimmten Umgebung ziehen. Das ist einer der Gründe, weshalb Menschen im Vergleich zu anderen Tieren in der Lage waren, so eine große Bandbreite an Umgebungen zu bevölkern.

    Ben zog seinen Nutzen aus der Tatsache, dass sich das Gehirn entwickelt hat, um sich anzupassen. Aber um das zu schaffen, musste er eine Lebensweise haben, die seine Mutter ganz grundlegend ermöglicht hat. Sie gab ihm Sicherheit, was in diesem Fall Liebe war. Das ermöglichte es Ben, auf sehr unsichere Art [die Welt] zu erkunden.

    Dadurch war er in der Lage, diese Klickgeräusche mit seiner Zunge zu machen. Anfangs waren diese Geräusche völlig bedeutungslos, aber durch Herumprobieren war er in der Lage, Wahrnehmung zu erschaffen. Jedes Echo bekam plötzlich eine Bedeutung, die er wahrnehmen konnte. Das konnte er nur schaffen, indem er physisch mit der Welt interagierte. Er hat den Prozess der Wahrnehmung selbst verändert. Und so können auch wir unsere Wahrnehmungen neu gestalten.

    Sie sind der Leiter des Projekts mit dem wundervollen Namen Lab of Misfits (dt. Labor der Sonderlinge). Erzählen Sie uns von Ihrer Mission.

    Die Mission des Lab of Misfits ist es im Grunde, einen Raum zu schaffen, der die Prinzipien der Wahrnehmung nutzt, um es Leuten zu ermöglichen, anders wahrzunehmen. Wir machen die Menschen zu einem Teil des Entdeckungsprozesses. Einmal haben wir ein Event in einem unterirdischen viktorianischen Gefängnis in Clerkenwell in London veranstaltet. Bei diesem speziellen Event war Unsicherheit das Konzept. Wir ließen die Leute einen dunklen Gang entlanggehen, der immer dunkler und dunkler wurde. Dann wurden sie an die Hand genommen und auf ein Kissen am Boden gesetzt, in völliger Schwärze. Sie hatten keine Ahnung, wie groß [der Raum] war oder wie viele Leute sich um sie herum befanden.

    Ich wollte, dass sie ihre Sinne auf eine andere Art erleben. Sie empfanden zum Beispiel Klänge als Berührung. Der Raum war mit diesen unglaublich starken Subwoofern ausgestattet, die angingen und den ganzen Raum zum Zittern und Beben brachten. Wir drehten sie lauter und wieder leiser, als ob der Raum atmen würde, und dann führten wir sie durch den Geruchssinn und andere Sinne.

    Es ist im Grunde ein Experiment in Form einer Erfahrung. Wir bekommen Daten und messen alles, aber wir teilen unsere Entdeckungen mit ihnen. Wir nennen das „die Enthüllung“. Es wird zu einem Ort, an dem Verständnis geschaffen wird, sowohl in einem allgemeinen als auch in einem persönlichen Sinn.

    Für eine Ausstellung des Lab of Misfits wurden beleuchtete Kristallwürfel so geätzt, dass sie den Weg von Bienen aufzeigten, die in einem Experiment lernten, Farbe zu sehen.
    Foto von Lab of Misfits

    Wie können unsere Leser ihr eigenes Misfit Lab gründen?

    Das Buch heißt deshalb „Deviate“, weil es für die Menschen eine Verbildlichung des Andersdenkens sein soll – des Abweichens. Denken Sie mal an Politik. Das Konzept einer 180°-Wendung ist da sehr negativ belegt. Aber was für eine dumme Vorstellung es ist, Politikern ein Verbot aufzuerlegen, ihre Ansichten zu ändern, wenn sie neue Daten erhalten. Dass sie an einer Überzeugung festhalten nur um des Festhaltens willen. Das ist Religion und keine Wissenschaft. Man will sich doch anpassen können und die Sichtweisen anderer Menschen sehen können.

    Es geht darum, ein Andersdenkender zu sein und sein eigenes Gefühl der Abweichung zu zelebrieren. Damit ich Sie kennen kann, müssen Sie und ich irgendeine Schnittmenge in der Vorstellung davon haben, was es heißt, männlich zu sein. Aber der Teil von uns außerhalb dieser Schnittmenge macht uns aus. Es ist unsere Abweichung, die bestimmt, wer wir sind. Wenn man seine Frau liebt, liebt man also die Art, auf die sie anders ist, und nicht die Art, auf die sie eine ganz gewöhnliche Frau ist.

    Das Interview wurde zugunsten von Länge und Deutlichkeit redigiert.

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