„Das Gehirn kann kleine Wunder vollbringen“

Mit einem Exoskelett, das Bewegungen vorausahnt, will der Informatiker Frank Kirchner Schlaganfallpatienten bei der Genesung helfen.

Von Kathrin Fromm
Veröffentlicht am 9. Nov. 2017, 03:42 MEZ
Reha-Exoskelett
Ein Exoskelett soll gelähmten Schlaganfallpatienten ermöglichen, einfache Bewegungen wieder selbständig auszuführen.
Foto von DFKI GmbH, Annemarie Popp

Sie forschen an einer neuen Rehabilitationsmöglichkeit für Schlaganfallpatienten. Um was geht es da?
Um ein Exoskelett für den Oberkörper, also eine Orthese, die man sich anziehen kann. Nach einem Schlaganfall hilft nur physiologisches Training. Der Mensch muss an bestimmte Bewegungen wieder heranführt werden, nur so können gesunde Bereiche des Gehirns die Funktionen der zerstörten Bereiche übernehmen. Das Gehirn wird gewissermaßen umprogrammiert. Weil der Patient die Bewegungen selbst nicht mehr machen kann, hilft ihm dabei normalerweise ein Physiotherapeut, doch der ist nur stundenweise da. Aber: Je intensiver und nachhaltiger die Übungen gemacht werden, desto schneller zeigt das Gehirn Erfolge. An der Stelle kommen unsere Exoskelette ins Spiel, weil sie stets verfügbar sind. Die Besonderheit ist nun, dass wir die Möglichkeiten eines Exoskeletts mit dem kombinieren, was wir Brain Reading nennen.

Sie lesen die Gedanken der Patienten?
Naja, wir wissen vielleicht nicht, was der Mensch denkt, aber wir können bestimmte Signale entschlüsseln. Nehmen wir an, jemand hat den Impuls, ein Glas Wasser zu greifen. Dann findet im Gehirn ein Prozess statt – und zwar lange bevor das dem Menschen bewusst wird. Der Planungsprozess geht ungefähr 800 bis 1200 Millisekunden früher los. Das können wir mit unseren Methoden erkennen. Wir leiten dann etwa 200 Millisekunden vorher über das Exoskelett die Bewegung ein. So verbessert sich die Lebenssituation der Patienten, weil sie Bewegungen, wie etwa ein Glas Wasser greifen und zum Mund führen, selbständig ausführen können. Das hat auch einen psychologischen Effekt. Je motivierter die Menschen sind, desto besser ist die Heilung. Das Gehirn kann kleine Wunder vollbringen.

Wie funktioniert Brain Reading?
Die Nervenzellen im Gehirn tauschen durch elektrische Signale Informationen aus. Diese messen wir über Elektroden auf der Kopfhaut. Das sind hochkomplexe Prozesse. Aber mit den Methoden der Künstlichen Intelligenz zum maschinellen Lernen können wir die Signale entschlüsseln. Wir lassen aufwendige Algorithmen auf hochspezialisierten Computerchips ablaufen, die so groß wie ein Handy sind. Noch vor zehn Jahren hätte man dafür einen riesigen Computer gebraucht. 

Frank Kirchner arbeitet am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz in Bremen an robotischen Systemen.
Foto von DFKI GmbH, Studio Banck

Wann könnten Exoskelette den ersten Patienten helfen?
Mit genügend Ressourcen und entsprechenden Programmen könnten wir in fünf Jahren so weit sein, diese Hilfsmittel auf den Markt zu bringen. Leider sind da in der Vergangenheit keine so riesigen Forschungssummen reingeflossen. Gesundheitspolitik ist ein schwieriges Thema in Deutschland. Das ärgert mich, denn wir hätten ja auch einen wahnsinnigen volkswirtschaftlichen Effekt. Jedes Jahr erleiden rund 100.000 Menschen einen Schlafanfall. Das sind Menschen in der Blüte ihres Lebens, meistens so 40 bis 60 Jahre alt und oft in fortgeschrittenen Positionen der Arbeitswelt. Diese Leute fallen raus. Sie fehlen – und müssen stattdessen unterstützt werden. Man könnte viel mehr machen, auch, um sie wieder ins Arbeitsleben zu integrieren.

Wie sind Sie auf das Thema Rehabilitation gekommen?
Das war schon im Studium der Informatik. Im Nebenfach habe ich Neurowissenschaften belegt. Ein Professor dort hat versucht, Querschnittsgelähmte zu rehabilitieren. Ich arbeitete als Hilfskraft und erlebte, wie eine Frau nach dreijähriger Betreuung wieder alleine aufstehen konnte. Das habe ich nie vergessen, und seither ist es mein Ziel, robotische Systeme zu entwickeln, die es Menschen ermöglichen, sich wieder zu bewegen. Deshalb sind die Exoskelette für die Rehabilitation mein Lieblingsthema.

Was wünschen Sie sich in diesem Bereich für die Zukunft?
Das wir neue Projektmittel bekommen, um daran weiter zu forschen. Wir müssen noch einiges leisten für funktionsfähige Prototypen. Theoretisch klappt alles. Jetzt müssen wir raus aus dem Labor und rein in reale Anwendungen. Die Exoskelette sollten zum Beispiel noch leichter werden, da könnte man mit verschiedenen Materialien experimentieren. Und die Elektroden könnten in ein Käppi oder in ein Stirnband eingebaut werden. Wir müssen diese Exoskelette so leicht und so günstig machen, dass man sie wie eine Krücke vom Arzt verschrieben bekommt.

Eine dreiteilige Serie zu Künstlicher Intelligenz steht in den Ausgaben 7/2017 bis 9/2017 von National Geographic. Jetzt ein Magazin-Abo abschließen.

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