Die Revolution der Evolution

Wie konnte sich das Leben plötzlich von einfachen Mikroben zu komplexen Wesen entwickeln? Forscher suchen die Antwort in 570 Millionen Jahre alten Fossilien.

Von David Quammen
Veröffentlicht am 21. Feb. 2018, 13:05 MEZ
Fossilienfunde der ersten größeren, komplexen Lebewesen sind etwa 570 Millionen Jahre alt – also lebten sie noch vor der kambrischen Explosion, in einer weitgehend unerforschten Periode namens Ediacarium. Organismen wie dieser Fractofusus misrai aus Neufundland weisen keinerlei Ähnlichkeit mit heutigen Tieren auf.
Foto von David Liittschwager

Mistaken Point heißt eine zerklüftete Landspitze an der Küste Neufundlands, nicht weit vom östlichsten Punkt Nordamerikas entfernt. Ihren Namen verdankt sie dem Umstand, dass Kapitäne früher oft den nebelverhangenen Ort mit einem anderen Kap verwechselten und ihre Schiffe gegen die Felsen steuerten. Heute soll ausgerechnet dieses „Kap des Irrtums“ die Lösung zu einem der größten Rätsel der Erdgeschichte liefern: Wieso entfaltete sich das Leben, nachdem es mehr als drei Milliarden Jahre lang in Form von winzigen Einzellern vor sich hin geplätschert hatte, plötzlich zu einer Fülle komplexer Kreaturen – groß, mehrzellig und in faszinierender Formenvielfalt?

Vor 570 Millionen Jahren haben sich diese Lebewesen auf dem Planeten ausgebreitet, und der früheste Nachweis stammt von hier: Am Mistaken Point wurden außergewöhnliche Fossilien gefunden. Zwar untersuchen Paläontologen das Gebiet schon seit Jahrzehnten, doch was sie jetzt glauben, entdeckt zu haben, ist radikal neu. Endlich können sie wichtige Details der Funde interpretieren – mit weitreichenden Folgen.


An einem kalten Herbsttag mache ich mich mit Marc Laflamme und Simon Darroch auf den Weg zum Mistaken Point. Von St. John’s, der Hauptstadt Neufundlands, fahren wir im Jeep Richtung Süden durch Wälder voller Fichten und Tannen. Die beiden Wissenschaftler sind seit Jahren Kollegen; Laflamme forscht an der University of Toronto in Mississauga, der Brite Darroch an der Vanderbilt University in Nashville.

Die Fahrt führt über eine Schotterstraße durch das Naturreservat Mistaken Point und endet am zerklüfteten Gestein des Meeresufers, das die Forscher nun entlangklettern. Laflamme zeigt auf eine glatte, abschüssige Steinplatte in Violettgrau. Ein Abdruck darauf, zart wie ein Schatten, erinnert an das Skelett einer Schlange, ein sich wiederholendes Muster aus Rippen und Wirbelsäule, circa einen Meter lang. Allerdings ist das hier kein Skelett, kein einziger Knochen ist im Stein konserviert: Ein Weichkörper hat den Abdruck hinterlassen, ein Lebewesen, das vor sehr langer Zeit tief unten auf dem Meeresboden lebte und dann von Sediment begraben wurde. Es konnte weder schwimmen noch kriechen und stammt aus einer Zeit, über die bisher nur wenig bekannt ist. Bevölkert war sie von seltsamen Tieren, die viele Wissenschaftler nicht einmal so bezeichnen würden und von deren Existenz die meisten Menschen nichts ahnen. „An diesem Ort wurde das Leben zum ersten Mal wirklich groß“, sagt Laflamme, während er auf dem Felsen kniet.

Und nicht nur am Mistaken Point fand man diese mysteriösen Geschöpfe, die heute als Ediacara-Fauna bekannt sind. Das Rätsel um sie begann in der südaustralischen Flinderskette, als im Jahr 1946 der junge Geologe Reginald Sprigg die verlassenen Minen der Ediacara-Hügel für das Bergbauamt begutachten sollte. Statt Kupfer und Silber entdeckte er merkwürdige Abdrücke im Sandstein. Auf den ersten Blick erinnerten sie ihn an Quallen – doch das waren sie nicht. Außerdem gab es noch andere Formen, zum Teil ohne jede Ähnlichkeit mit allen bisher bekannten Lebewesen, ob gegenwärtig lebend oder ausgestorben. Eine sah aus wie ein Fingerabdruck im Sand.

Sprigg erging es wie anderen vor ihm, die ähnliche Abdrücke gefunden hatten und nichts damit anfangen konnten. Er konnte nicht wissen, dass die Fossilien etwa 550 Millionen Jahre alt waren – und damit bereits mehr als zehn Millionen Jahre vor der Zeit existierten, in der man bis vor Kurzem den Ursprung komplexen Lebens vermutete: in der berühmten kambrischen Explosion. Die meisten Wissenschaftler waren und sind der Meinung, die kambrische Explosion sei der Punkt, an dem das Leben auf der Erde mit einem Knall seine ganze Pracht entfaltete: mit komplexen Wesen ansehnlicher Größe – wir nennen sie Tiere –, deren Nachkommen größtenteils noch heute existieren. Spriggs Fund ist ein erstes wichtiges Indiz dafür, dass die Geschichte des komplexen Lebens auf der Erde nicht erst im Kambrium begann, sondern schon in der als Ediacarium bekannten Periode davor.

Inzwischen sind mehr als 50 ediacarische Formen bekannt, es gibt fast 40 Fundorte auf allen Kontinenten außer Antarktika. Zuvor war der Erdball Milliarden Jahre ausschließlich von einfachen Mikroben bewohnt. Was hat dazu geführt, dass Lebewesen plötzlich so groß wurden und sich weltweit ausbreiteten?

Bevor sich die Ediacara-Fauna auf dem Planeten entwickelte, verlief die Evolution in mikroskopisch kleinen Schritten – vor allem, weil es an Sauerstoff mangelte, der Voraussetzung für tierischen Stoffwechsel. Vor etwa zwei Milliarden Jahren reicherte sich Sauerstoff in der Atmosphäre an, als Abfallprodukt aus der Fotosynthese von Bakterien im Meer. Doch danach blieb sein Gehalt eine weitere Milliarde Jahre lang auf einem relativ niedrigen Niveau. Vor 717 bis 635 Millionen Jahren kam es zu einer Folge von Eiszeiten, in denen der gesamte Planet zufror. Als „Schnellball-Erde“ bezeichnen Wissenschaftler diesen Zustand. In der Folge stieg das Sauerstoffniveau extrem an, die Ursachen dafür sind allerdings bis heute nicht genau erforscht.

Der große Frost endete, als Vulkanausbrüche Kohlendioxid in die Atmosphäre spuckten und so für einen frühen Treibhauseffekt sorgten, der die Erde erwärmte und die Ozeane auftaute. Eine weitere kurze Eiszeit vor 580 Millionen Jahren, die Gaskiers-Eiszeit, führte wahrscheinlich zu keiner globalen Vereisung, versetzte aber unter anderem das Gebiet, zu dem das heutige Neufundland gehörte, in Froststarre. Waren diese Veränderungen die Ursache für das, was danach kam? Das Auftauen des Eispanzers, der zunehmende Sauerstoffgehalt und die Evolution komplexerer Zellen – sie könnten dafür verantwortlich sein, dass die Ediacara-Fauna erblühte wie die ersten Krokusse im Frühling.

Dieser Artikel wurde gekürzt und bearbeitet. Die ganze Reportage steht in der Ausgabe 3/2018 des National Geographic Magazins. Jetzt ein Magazin-Abo abschließen!

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