Interstitium: Unser neues Organ?

Das Interstitium befindet sich unter unserer Haut und zwischen unseren Organen und könnte neue Erkenntnisse über die Ausbreitung von Krankheiten wie Krebs liefern.

Von Sarah Gibbens
Veröffentlicht am 28. März 2018, 11:58 MESZ
Kollagenbündel, Zelle, Kollagenbündel, Elastin
Die Sternchen markieren Kollagenbündel (oben links). Ein Pfeil zeigt auf eine Zelle (oben rechts). Das dunklere Blau markiert Kollagenbündel, während das hellere Blau womöglich Elastin zeigt (unten links). Elastinfasern (schwarz) verlaufen durch Kollagenbündel (rosa) (unten rechts).
Foto von Neil Theise and David Carr-Locke, Scientific Reports

Unter unserer Haut könnte sich ein „neues“ Organ befinden, das zum ersten Mal als solches identifiziert wurde.

In einer Studie, die 2018 in „Scientific Reports“ erschien, beschreiben Forscher von der School of Medicine der Universität von New York das sogenannte „Interstitium“, das sich durch den ganzen menschlichen Körper zieht.

Es befindet sich direkt unter der Haut, umgibt unsere Venen, Arterien und das fibröse Gewebe zwischen den Muskeln, es kleidet unseren Verdauungstrakt, unsere Lungen und unsere Harnwege aus und wirkt wie ein riesiges Geflecht.

Das Interstitium ist eine Schicht aus mit Flüssigkeit gefüllten Kanälen, die in einem Netz aus Collagen und Elastin – ein Faserprotein – aneinandergereiht sind. Bisher hatten Wissenschaftler diese Schicht einfach für eine Art dichtes Bindegewebe gehalten.

Das Organ war die ganze Zeit vor ihrer Nase, dennoch blieb es lange unerkannt. Den Wissenschaftlern zufolge lag das nicht zuletzt an der Methode, mit der Gewebe für gewöhnlich untersucht wird. Bevor es unter dem Mikroskop landet, wird es in dünne Scheiben geschnitten und chemisch behandelt. Dadurch können die Forscher wichtige Bestandteile einfacher identifizieren. Dieser Prozess ist zwar hilfreich, wenn es darum geht, mehr Details zu offenbaren, allerdings entzieht es der Gewebeprobe auch das Wasser.

Ohne die Flüssigkeit kollabierten die Kanäle, sodass die Struktur unter dem Mikroskop flach und uninteressant wirkte.

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Um diese Flüssigkeit in den Zwischenräumen zu finden, sahen sich die Forscher lebendes Gewebe an. Das gelang ihnen mit Hilfe eines Verfahrens namens konfokaler Endomikroskopie. Dabei wird eine kleine Kamerasonde in den Körper eingeführt, um dort Aufnahmen zu machen. Das Gewebe wird durch den Laser des Endoskops erhellt, und die fluoreszierenden Muster, die es zurückwirft, werden dann von den Sensoren analysiert.

ZUFALLSFUND

Zunächst dachten sie, sie hätten einen Gallenkanal gefunden. Die Flüssigkeit in dem dichten Gewebe hielten sie für Tränen. Die Bilder wurden dann an Neil Theise geschickt, ein Professor an der School of Medicine der Universität von New York und Autor der Studie.

„Wir sprechen hier von der restlichen Extrazellulärflüssigkeit, deren Verbleib ungeklärt ist“, so Theise. Etwa 70 Prozent des menschlichen Körpers bestehen aus Wasser; zwei Drittel davon befindet sich in Zellen. Das verbleibende Drittel wurde Theise zufolge bisher nur teilweise ausfindig gemacht.

Die Kanäle im Interstitium könnten aber nicht nur Körperflüssigkeit enthalten, sondern auch auf eine wichtige Funktion des Organs hindeuten.

„Es funktioniert wie ein Stoßdämpfer“, sagt Theise. „Es ist kein hartes, steifes Material.“

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    Zu Theises Theorien über die Funktion des Interstitiums gehört auch, dass dort Lymphe entsteht. Die Flüssigkeit wird über das Lymphsystem durch den Körper geleitet und spielt eine wichtige Rolle im Immunsystem. Er hofft, dass Forscher mehr über das Krebswachstum im Körper lernen können, wenn sie sich eingehender damit beschäftigen, ob und wie sich Krankheiten über das Interstitium ausbreiten.

    „Können wir [Krankheiten] früher erkennen, indem wir Flüssigkeit aus diesem Bereich untersuchen? Können wir Mechanismen entwickeln, um die Ausbreitung zu stoppen?“

    TROTZ SKEPSIS VIELVERSPRECHEND

    Jennifer Munson ist eine Biomedizintechnikerin an der Virginia Tech, die sich mit der Flüssigkeit im menschlichen Körper beschäftigt. Sie hat an der Studie nicht mitgewirkt, findet die Ergebnisse aber vielversprechend.

    „Ich denke, die Studie zeigt, welche Vorteile es hat, Gewebe mit neuen Methoden abzubilden und zu untersuchen. Wenn man das Gewebe [wie bei früheren Methoden] dehydriert, verliert man viele Informationen über seine Struktur“, erklärt Munson.

    Sie ist zwar überzeugt, dass es diese Strukturen tatsächlich gibt, aber würde gern weitere Forschung dazu sehen, bevor sie über ihre Funktion spekuliert oder beurteilt, ob man sie tatsächlich als neues Organ bezeichnen kann.

    „Ich finde diesen Fund wirklich spannend, aber wie alle Wissenschaftler betrachte ich alles mit ein bisschen Skepsis“, sagt sie.

    Theise ist sich der Skepsis über seine neuen Erkenntnisse durchaus bewusst, scheut sich aber nicht davor, Neuland zu betreten. 2005 schrieb er ein Essay in „Nature“, in dem er die Bedeutsamkeit der Zelltheorie infrage stellte – das Konzept besagt, dass alle Organismen aus Zellen zusammengesetzt sind. 2001 veröffentlichte er eine Studie, in deren Rahmen er entdeckt hatte, dass man adulte Stammzellen dazu bringen, sich ähnlich wie embryonale Stammzellen zu verhalten.

    „Es wird immer etwas geben, das wir noch nie gesehen haben und nicht kennen“, sagt er. „Es versetzt mich wirklich in Ehrfurcht, dass die Natur so viel komplexer ist, als wir zu glauben wagen.“

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