Zwischen Druckverlust und WM-Fieber

Vor welchen Risiken und Herausforderungen steht Alexander Gerst bei seiner ISS-Mission? Im Gespräch: Reinhold Ewald, langjähriger ESA-Astronaut und Professor für Astronautik und Raumstationen an der Universität Stuttgart.

Von Jens Voss
Veröffentlicht am 6. Juli 2018, 11:10 MESZ
Schwerelos vor dem Bildschirm: Alexander Gerst verfolgt das WM-Spiel Deutschland gegen Mexiko.
Foto von Esa, NASA

Herr Ewald, Alexander Gerst ist inzwischen einen Monat im Weltraum. Sie selbst verbrachten im Jahr 1997 als Wissenschaftskosmonaut 18 Tage an Bord der Raumstation MIR. Wie gefährlich ist der Einsatz im All?


Wenn Sie im Flugzeug am Fenster sitzen, die Zeitung entfalten und Ihr Essen serviert wird, denken Sie nicht permanent daran, dass Sie nur durch ein paar Millimeter Aluminiumblech von der garstigen Umgebung der Stratosphäre geschützt werden. So ist das auch bei der ISS. Das Risiko eines Druckverlusts, eines Feuers oder einer Vergiftung ist da. Die antrainierten Reaktionen kommen aber erst dann zum Einsatz, wenn die Sirene ertönt.


Kann man also Vertrauen in die technischen Systeme trainieren?


Ja. Das Bewusstsein, mit der Sojus-Kapsel eine enorm robuste und sichergestellte Rückkehrmöglichkeit zu haben, gibt uns die Chance, bei genügender Reservezeit angemessen auf die Gefahr zu reagieren. Gleiches gilt auch für Start und Landung mit der Sojus – das Vertrauen in die Back-Up- und Reservesysteme ist antrainiert.


Welche besonderen Herausforderungen muss Alexander Gerst im Vergleich zu seinem ersten ISS-Einsatz im Jahr 2014 meistern?


Er hat ja enorm vorgelegt 2014. Hoffentlich wird er nicht daran gemessen, ob er „noch einen drauflegen“ kann. Der linke Sojus-Sitz – also der Pilotensitz – ist schon im Training eine Herausforderung gewesen. Diese Kenntnisse zu erhalten, ist auch im All zeitaufwendig. Und dann wird Gerst Kommandant. Das heißt, er hat nicht nur seinen Tagesplan im Blick, sondern auch den seiner fünf Kollegen an Bord. Wissenschaftlich hat er seine Aufgaben wie gewohnt im Griff, da hat er beim Training sicher genauso gut aufgepasst wie beim ersten Mal.


Welche speziellen Fähigkeiten und Aufgaben muss denn ein ISS-Kommandant im Vergleich zur normalen Crew meistern?


Die Kommandoperson ist gegenüber dem Flugdirektor in Houston für die Erfüllung des Tagesplans verantwortlich. Sie liefert also das Ergebnis der Crewleistung ab. Da es sich bei der ISS um ein wissenschaftliches Labor und nicht um eine Militäreinheit handelt, passiert das am besten durch kollegiale Aussprache und voreilende Planung. Der Kommandant oder die Kommandantin kann auch Gruppenimpulse setzen.


Welche Möglichkeiten bieten sich hierfür in einer engen Raumstation mehr als 400 Kilometer über der Erde?


Ob gemeinsame Aktionen wie zum Beispiel besondere Essen, WM-Schauen oder Auflockerungen wie ein Hawaii Shirt Day am Freitag: vieles ist denkbar.
 

Reinhold Ewald ist seit 2015 Professor für Astronautik und Raumstationen an der Universität Stuttgart. Der langjährige ESA-Astronaut verbrachte 1997 als Wissenschaftskosmonaut 18 Tage an Bord der Raumstation MIR.
Foto von ESA–Manuel Pedoussaut, 2016

Warum ist der ISS-Aufenthalt von Alexander Gerst auf ein gutes halbes Jahr angelegt? Gibt es spezielle Kriterien für die Einsatzdauer?


Technisch ist es die Lebensdauer des angekoppelten Sojus-Raumschiffs, die die Zeit bis zur Rückkehr begrenzt. Hinzu kommen die Notwendigkeit, die Aufgaben an Bord auch angemessen trainiert zu haben und die Erschöpfung, die automatisch bei der monatelangen konzentrierten Arbeit irgendwann einsetzt. Da ist ein halbes Jahr ein vertretbarer Kompromiss zwischen Motivation und Monotonie.


Während seiner Mission stehen zahlreiche Experimente auf dem Programm. Welche halten Sie für besonders wichtig?


Beispielhaft für viele Experimente in den jeweiligen Wissenschaftsdisziplinen: Myotones zur Messung der Muskelspannung, Cimon für die Nutzung von Künstlicher Intelligenz oder die Untersuchung des Mikrogravitationsverhaltens von Granularer Materie und anderer Stoffe. Als Physiker tendiere ich außerdem zu Experimenten, die so auf der Erde nicht möglich sind, wie zum Beispiel Untersuchungen von unstabilen Phasen- und Strukturumwandlungen durch den sogenannten Elektromagnetic Levitator EML. Nicht zu vergessen: die Simulation von planetaren Magnetfeldern durch MagVector oder die Vermessung von Schwarm- und Zugverhalten von Vögeln durch Icarus.


Liegt Ihnen ein Experiment besonders am Herzen?


Ganz besonders freue ich mich auf den Stuttgarter Photobioreaktor, in dem Algen das Kohlendioxid der Luft in Sauerstoff umsetzen und dabei auch noch Nahrung für Langzeitastronauten produzieren. Hier und bei anderen Experimenten sind Studierende direkt in die Weltraumforschung an Bord der ISS eingebunden. So wächst die nächste Generation von „Rocket Scientists“ heran, die dann auch den Hochtechnologiestandort Deutschland weiterführen wird.
 

 

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