Epigenetik: Warum mögen wir, was wir mögen?

Essen, Partner, Politik: Unsere Gene, Mikroben und unsere Umwelt haben mehr Einfluss auf unsere Vorlieben, als uns klar ist.

Von Bill Sullivan
Veröffentlicht am 21. Aug. 2019, 13:33 MESZ
Jedes menschliche Verhalten ist in einem gewissen Maße in den Genen verankert. Sind wir also Sklaven unserer DNA?
Foto von David Plunkert

Womöglich definieren wir uns über nichts anderes so sehr wie über unsere Vorlieben. Ob es nun Essen, Wein, potenzielle Partner oder politische Parteien sind – unser persönlicher Geschmack ist ein Ausdruck unserer Identität. Daher erschien es mir durchaus logisch, dass meine Vorlieben und Abneigungen durch sorgfältige Überlegungen und rationale Entscheidungen entstehen – also durch eine Wahl, die ich bewusst treffe und kontrolliere.

Dann lernte ich Toxoplasma gondii kennen. Im Rahmen meiner Forschungen an der Indiana University School of Medicine beobachtete ich, wie der parasitäre Einzeller T. gondii das Verhalten des Wirts ändern kann, den er infiziert. Er kann dafür sorgen, dass Ratten ihre Angst vor Katzen verlieren, und einige Studien haben gezeigt, dass er bei Menschen zu Persönlichkeitsveränderungen (beispielsweise zu gesteigerter Nervosität) führen kann.

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Wie steuern Gene unsere Vorlieben?

Durch diese Studien begann ich mich zu fragen, ob es noch andere Dinge gibt, die unbemerkt unsere Identität formen und kontrollieren, was wir mögen oder nicht mögen. Ich vergrub mich in wissenschaftlichen Publikationen und stieß schließlich auf eine überraschende und beunruhigende Wahrheit: Unsere Handlungen werden von versteckten biologischen Kräften gesteuert. Anders ausgedrückt: Wir haben wenig bis keine Kontrolle über unseren persönlichen Geschmack. Unser Verhalten und unsere Vorlieben werden grundlegend von unserem Erbgut beeinflusst, aber auch von Umweltfaktoren, die sich auf unsere Gene auswirken, und von anderen Genen, die uns von den zahllosen Mikroben in unseren Körpern aufgezwungen werden.

Das mag erst mal nach einer lächerlichen Vorstellung klingen. Schließlich erzählt man uns von klein auf, dass wir alles tun und werden können, was wir wollen. Intuitiv fühlt es sich so an, als würden wir uns bewusst aussuchen, welches Kreuz wir in der Wahlkabine machen, wem wir unser Herz schenken und welches Essen auf unserem Teller landet. Der Gedanke, dass wir nur Fleischroboter sind, die von unsichtbaren Kräften gelenkt werden, ist geradezu absurd.

Vor einigen Jahren hätte ich dieser Aussage noch zugestimmt. Aber als mir auf einer Grillparty einmal zu oft entgeistert die Frage gestellt wurde, warum ich bestimmte Gemüsesorten nicht mag, begann ich mir so vorzukommen, als würde irgendetwas mit mir nicht stimmen. Ich beneide Leute, die genüsslich solche Dinge wie Brokkoli verzehren. Schon allein, wenn mir jemand einen Teller damit reicht, antwortet mein Körper darauf mit einer Abwehrreaktion. Aber warum mag ich keinen Brokkoli?

Ich habe nie beschlossen, dieses Gemüse zu hassen. Also machte ich mich auf die Suche nach einer Erklärung für meine Abneigung. Zum Glück hatte sich die Wissenschaft bereits mit diesem Fall beschäftigt. Forscher haben entdeckt, dass ungefähr 25 Prozent der Menschen Brokkoli aus demselben Grund wie ich nicht mögen. Wir verfügen über bestimmte Variationen jener Gene, die für die Bildung unserer Geschmacksrezeptoren verantwortlich sind. Eines dieser Gene, TAS2R38, erkennt bittere Substanzen wie Thioharnstoffe, die in Brokkoli in großer Menge vorhanden sind. Meine DNA hat mir also Geschmacksknospen beschert, die diese chemischen Verbindungen als besonders bitter wahrnehmen. Womöglich soll mich das davon abhalten, giftige Pflanzen zu essen.

Sind wir wirklich nur ein Haufen Gene?

Im Grunde schon. Aber in unserem Genom sind viele mögliche Versionen unserer selbst angelegt. Der Mensch, den wir im Spiegel sehen, ist eine davon, die durch die zahlreichen einzigartigen Erfahrungen in ihrem Leben geformt wurde. Die neue Wissenschaft der Epigenetik erforscht, wie sich Veränderungen an der DNA (zum Beispiel durch Proteine) auf die Genaktivität auswirken kann. DNA kann durch Umweltfaktoren auf eine Art und Weise modifiziert werden, die unsere Entwicklung und unser Verhalten grundlegend beeinflusst. Kürzlich hat sich auch gezeigt, dass das Mikrobiom in unserem Körper ein bedeutender Umweltfaktor sein kann, der sich auf zahlreiche Verhaltensweisen auswirkt, von der Überernährung bis zu Depressionen. In Summe sind wir also durchaus unsere Gene – aber unsere Gene können nicht getrennt vom Umweltkontext bewertet werden. Die Gene sind die Tasten des Klaviers, aber die Umwelt spielt die Melodie. – BS

Das Erbgut und die Liebe

Die Erklärung dafür, warum ich Brokkoli hasse, ist gleichermaßen erleichternd und verstörend. Ich bin froh, dass meine Abneigung gegen Kreuzblütengewächse nicht mein Fehler ist – ich konnte schließlich keine Gen-Shoppingtour machen, bevor ich gezeugt wurde. Aber die Erleichterung wandelte sich alsbald in Unbehagen und die Frage stieg in mir auf: Welche anderen Dinge, über die ich keine Kontrolle habe, bestimmen, wer ich bin? Wie viel meines Selbst verdanke ich tatsächlich meinen eigenen Entscheidungen?

Wie steht es beispielsweise um meinen Frauengeschmack? Das muss doch bestimmt in meiner Hand liegen. Fangen wir mal ganz am Anfang an: Warum fühle ich mich überhaupt zu Frauen hingezogen anstatt zu Männern? Das war keine bewusste Entscheidung, die ich eines Abends traf, als ich an einem Strand saß und über mein Leben nachdachte. Ich wurde so geboren. Die genetischen Einflüsse auf die menschliche Sexualität sind noch immer nicht genau erforscht, aber es scheint deutlich, dass die sexuelle Orientierung nichts ist, das man sich einfach aussucht.

Unabhängig davon scheinen wir eine angeborene Vorstellung davon zu haben, welche Eigenschaften wir bei einem potenziellen Partner attraktiv finden. Merkmale wie ein wohlgeformter Mund, leuchtende Augen und volles, glänzendes Haar gelten vielerorts als attraktiv. Studien zeigen, dass attraktivere Leute eher einen Job bekommen, mehr Geld erhalten, schneller einen Partner finden und selbst vor Gericht öfter als unschuldig eingestuft werden.

Während seiner 50-jährigen Musikkarriere wurde Ozzy Osbourne für seine Alkohol- und Drogenexzesse berühmt-berüchtigt. 2010 analysierten Forscher seine DNA, um herauszufinden, wie er jahrzehntelang mit Kokainfrühstück und vier Flaschen Cognac pro Tag überleben konnte. Sie entdeckten eine nie zuvor gesehene Mutation eines Gens, das am Abbau von Alkohol beteiligt ist. Außerdem entdeckten sie Genvariationen, die mit Medikamentenaufnahme, Suchterkrankungen und Alkoholismus in Verbindung stehen. Durch diese Variationen hatte er eine sechsmal höhere Wahrscheinlichkeit, eine Alkoholsucht zu entwickeln, und eine 1,3 Mal höhere Wahrscheinlichkeit, eine Kokainsucht zu entwickeln. – BS
Foto von Terje Dokken, Gonzales Photo, Alamy

Evolutionspsychologen verweisen darauf, dass praktisch alles, was wir tun, aus dem unterbewussten Drang heraus erwächst, zu überleben, unsere Gene weiterzugeben oder unsere Familie und andere Individuen zu unterstützen, die Gene wie die unsrigen in sich tragen. Außerdem vertreten sie die Annahme, dass viele körperliche Merkmale, die wir als attraktiv empfinden, Anzeichen einer guten körperlichen Gesundheit und Fitness sind – oder mit anderen Worten: gute Gene.

Die Wissenschaft hat auch eine etwas tröstliche Antwort darauf, warum unsere romantischen Annäherungsversuche mitunter erfolglos enden. In einer berühmten Studie sollten Frauen an den Achselschweißflecken von T-Shirts riechen, die zuvor von Männern getragen wurden. Im Anschluss sollten sie den Geruch bewerten. Das Ergebnis: Je mehr sich die Immunsystem-Gene der Männer und Frauen ähnelten, desto schlimmer stank das T-Shirt für die Frauen. Dafür gibt es eine einfache evolutionäre Erklärung: Wenn sich die Immunsystem-Gene der beiden Eltern zu sehr ähneln, wird der Nachwuchs bei der Bekämpfung von Krankheitserregern schlechter abschneiden. In diesem Fall nutzen die Gene gewissermaßen die Geruchsrezeptoren, um festzustellen, ob die DNA eines potenziellen Partners gut passen würde. Solche Studien bestätigen die alte Binsenweisheit, dass „die Chemie stimmen muss“. Womöglich sollten wir romantisches Desinteresse also nicht persönlich nehmen.

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Politische DNA

Etwas beunruhigt von dem Maß an Kontrolle, das die Gene über unser Leben auszuüben scheinen, befasste ich mich mit einem Bereich, von dem ich sicher war, dass er nicht von unserer DNA beeinflusst wird: Politik. Man kann sich zwar leicht vorstellen, dass unsere Gene sich darauf auswirken, ob wir Rechts- oder Linkshänder sind – aber ob unsere politische Gesinnung eher links oder rechts ist? Das hielte ich für sehr unwahrscheinlich. Aber auch hier wurde ich eines Besseren belehrt.

Wissenschaftler konnten einige Persönlichkeitsmerkmale ausmachen, die mit Personen an den entgegengesetzten Enden des politischen Spektrums assoziiert werden. Generell neigen links eingestellte Menschen dazu, eher unvoreingenommen und kreativ zu sein und sind auf der Suche nach neuen Erfahrungen. Konservative ziehen hingegen geordnete und stabile Verhältnisse vor und sind konventioneller. Mehrere Studien deuten darauf hin, dass Varianten unseres Gens DRD4 (Dopamin-D4-Rezeptor) sich auf unsere politische Einstellung auswirken. Dopamin zählt zu den wichtigen Neurotransmittern im Gehirn und spielt im Belohnungs- und Lustzentrum eine Rolle. DRD4-Variationen wurden mit einer gewissen Risikobereitschaft und der Suche nach neuen Erfahrungen in Verbindung gebracht – Verhaltensweisen, die eher mit links eingestellten Menschen assoziiert werden.

Andere Forschungen haben gezeigt, dass bestimmte Bereiche im Gehirn sich bei Linken und Konservativen unterscheiden. Diese Unterschiede könnten sich darauf auswirken, wie die entsprechenden Personen auf Stresssituationen reagieren. Konservative haben beispielsweise oft eine größere Amygdala, die eine wichtige Rolle für das Furchtempfinden spielt. Solche Personen zeigen stärkere körperliche Reaktionen auf unangenehme Bilder oder Geräusche. Insgesamt könnten diese biologischen Faktoren also zumindest teilweise erklären, warum es für Linke und Konservative so schwer ist, politische Gegner von ihrem jeweils eigenen Standpunkt zu überzeugen. Auf gewisse Weise fordert man Leute damit nicht nur auf, ihre Ansichten zu ändern, sondern auch, sich gegen ihre Biologie zu wehren.

Natürlich sind diese Beispiele nur die Spitze des Eisbergs. In Wahrheit ist jedes menschliche Verhalten in einem gewissen Maße in den Genen verankert. Das soll aber nicht heißen, dass wir nichts als Sklaven unserer DNA sind. Unsere DNA hat uns schließlich ein Gehirn beschert, das in seiner atemberaubenden Komplexität die Funktionsweise eben jener DNA entschlüsseln konnte.

Wissen ist Macht: Wenn wir verstehen, woher bestimmte Verhaltensweisen kommen, die uns nicht zusagen, kann es einfacher sein, sie zu beheben. Und wenn wir begreifen, dass manche Menschen keine oder wenig Kontrolle darüber haben, ob ihnen Brokkoli schmeckt oder nicht, kann man es zur Abwechslung vielleicht nicht mit Lob oder Vorwürfen, sondern einfach nur mit etwas Verständnis versuchen.

Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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