Prokrastination: Wann Aufschieben krankhaft wird

Hinter ständigem Aufschieben kann viel mehr als eine faule Ausrede stecken. Wann das Verhalten zum Problem wird und was man tun kann, erklärt die Expertin im Interview.

Von Anna-Kathrin Hentsch
Veröffentlicht am 3. Nov. 2020, 17:38 MEZ, Aktualisiert am 6. Nov. 2020, 15:40 MEZ
Aufschieberitis - Prokrastination

Was ich heute muss besorgen, das verschiebe ich auf morgen: So verhalten sich viele Menschen, wenn sie prokrastinieren und zu erledigende Aufgaben aufschieben.

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Es gibt Dinge im Leben, die müssen einfach erledigt werden, auch wenn sie nicht besonders Spass machen: Die Steuererklärung steht an, die Abgabe für die schriftliche Hausarbeit, ein Prüfungstermin rückt näher oder im Job muss eine wichtige Präsentation vorbereitet werden. Doch anstatt sich an den Schreibtisch zu setzen und loszulegen, wird das Bad geputzt, der Keller aufgeräumt und Wäsche gewaschen. Wer prokrastiniert, verschiebt die Dinge lieber auf morgen.

So ein Verhalten wird oft als „Aufschieberitis“ heruntergespielt. Lächelnd wird das Phänomen, unangenehme Arbeiten erst „auf den letzten Drücker“ machen zu können, mit der Tatsache begründet, „nur unter Druck“ arbeiten zu können. Was von aussen wie Faulheit oder Willensschwäche aussieht, ist für die Aufschieber meistens alles andere als lustig. Mit der näherrückenden Deadline wird der Leidensdruck immer größer, im schlimmsten Fall drohen negative (berufliche) Folgen. Weil dieses Verhalten weit verbreitet ist, hat es in der Psychologie einen Namen: Prokrastination. Es handelt sich um ein ersthaftes Problem der Selbststeuerung, für das es professionelle Hilfe gibt:. Im Interview erklärt M. Sc. Psych. Laura Thomas von der Prokrastinationsambulanz der Westfälische Wilhelms-Universität Münster, warum Prokrastination nichts mit Faulheit zu tun hat und was Betroffene tun können.

Frau Thomas, was unterscheidet das Störungsbild der Prokrastination von Faulheit?

Aufschieben wird häufig als Faulheit angesehen. Sieht man sich das Phänomen Prokrastination jedoch genauer, hat es nichts mit Faulheit zu tun. Eigentlich ist es das Gegenteil, da Prokrastination ein aktiver Prozess ist. Unter Faulheit würden wir vielleicht verstehen, dass jemand faul in der Sonne liegt und nichts tut. Jemand der unter Prokrastination leidet, befindet sich aber in einer aktiven Phase. Zwar wird nicht die Aufgabe erledigt, die gemacht werden muss. Aber dafür wird sich mit einer anderen Aufgabe beschäftigt, die in Relation angenehmer erscheint. Ein Klassiker ist, dass ich eine Hausarbeit fertigstellen muss, es aber nicht schaffe mich daranzusetzen und stattdessen die WG-Küche putze. Die meisten würden vermutlich sagen, dass Putzen nicht ihre größte Leidenschaft ist. In dem Moment erscheint es jedoch in Relation zur Textarbeit angenehmer. Zudem haben Prokrastinierer beim Erledigen einer Alternativaufgabe in der Regel ein schlechtes Gewissen und genießen die Zeit weniger bis gar nicht. Es ist also das Gegenteil von Faulheit.

Seit wann gilt Prokrastination als psychische Störung?

Prokrastination als Störungsbild und die Behandlung werden erst seit einiger Zeit erforscht. In den anerkannten Diagnosesystemen ICD-11 und DSM-5 ist Prokrastination kein Bestandteil. Die Gründe sind das junge Forschungsgebiet und die ziemlich hohen Prävalenzzahlen. In der Literatur lassen sich Angaben finden, dass bis zu 20% der Bevölkerung betroffen sind. Bei diesen Zahlen werden jedoch meist weniger harte Kriterien für Prokrastination angesetzt, als bei uns. Wir haben bisher in eigenen Studien mit Studierenden 10% Prävalenz festgestellt, was wir auch in der Gesamtbevölkerung für realistisch halten.

Anmerkung: Die Westfälische Wilhelms-Universität Münster orientiert sich an den DKP-Kriterien (Diagnose-Kriterien Prokrastination, entwickelt von der Arbeitsgruppe der Prokrastinationsambulanz der Westfälische Wilhelms-Universität Münster), die strenger sind als andere Definitionen: „Das wiederholte (unnötige) Aufschieben notwendiger/wichtiger Tätigkeiten in den letzten sechs Monaten an mind. der Hälfte der Tage, obwohl Zeit zur Erledigung zur Verfügung gestanden hätte. Stattdessen werden Ersatztätigkeiten durchgeführt, die aber nicht immer per se angenehmer sein müssen. Das führt zur starken Beeinträchtigung persönlicher Ziele und erzeugt relevantes Leiden. Es kann zur Beeinträchtigung des Leistungspotenzial, zur körperlichen und psychischen Beeinträchtigung führen, bis hin zur Selbstabwertung sowie persönlichen und beruflichen Konsequenzen.“

Schiebt nicht jeder unangenehme Aufgaben vor sich her?

Zunächst ist es wichtig, alltägliches Aufschieben von pathologischen Aufschieben zu unterschieden. Aufschieben heißt zunächst nur, dass Aufgaben, die zu einem bestimmten Zeitpunkt erledigt werden sollten, zu einem späteren Zeitpunkt erledigt werden. Sporadisches Aufschieben ist ein normales Verhalten und weit verbreitet. Das ist per se nicht schlimm. Eine eigene Studie ergab, dass lediglich zwei Prozent der Studierenden Aufschieben als Verhalten überhaupt nicht kennen. Die meisten Personen kennen das Verhalten bei unangenehmen Aufgaben. Prokrastination grenzt sich davon ab, denn sie meint die pathologische Form des Aufschiebens. Es handelt sich dann um eine Störung der Selbststeuerung, die relevantes Leiden erzeugt. Wir empfehlen sich Hilfe zu holen, sobald man merkt, dass man unter dem eigenen Verhalten leidet und sich Konsequenzen ergeben. Wichtig ist, sich frühzeitig zu melden und auch diesen Schritt nicht allzu lange aufschieben.

Sind prokrastinierende Verhaltensweisen erlernt? Zeigt sich schon im Kindesalter aufschiebendes Verhalten?

Grundsätzlich gehen wir davon aus, dass Prokrastination erlerntes Verhalten ist. Es kann also jeder bekommen. Die gute Nachricht ist, dass erlerntes Verhalten auch wieder verlernt werden kann. Viele Studierende berichten, dass sie bereits in der Schule aufgeschoben und für Klausuren erst auf den letzten Drücker gelernt haben. Unsere Kriterien für Prokrastination sind damit jedoch noch nicht erfüllt, da der Leidensdruck fehlt. Außerdem sind Schule und Universität völlig anders aufgebaut und erwarten andere Fertigkeiten im Bereich des Selbstmanagements.

Wie erfolgt eine Behandlung?

Wir gehen davon aus, dass Prokrastination erlerntes Verhalten und wieder verlernbar ist. Für die Behandlung eignen sich die Ansätze der kognitiven Verhaltenstherapie am besten, da sie genau darauf abzielen. In diesem Rahmen bietet unsere Spezialambulanz für Prokrastination der Universität Münster Kurzberatungen in Form von Trainingsprogrammen mit fünf Sitzungen an, entweder einzeln oder in Gruppen.

Welche Methoden nutzt die Behandlung?

Zum einen haben wir eine Ritualtechnik entwickelt: Dabei wird ein bestimmter Zeitpunkt festgelegt, zu dem man mit der Arbeit beginnen möchte. Ein Signal erinnert daran, dass man gleich anfangen möchte. Dafür kann man zum Beispiel einen Wecker nutzen. In der Viertelstunde davor bereitet man sich auf die Arbeitseinheit vor - das nennen wir Ritual. So kann man noch durchlüften, etwas trinken und die Arbeitsmaterialen zurechtlegen. Zudem arbeiten wir mit Planungstechniken bspw. einer ganz konkreten Arbeitseinheit: Wann möchte ich beginnen? Wie lange möchte ich arbeiten? Welches Ziel nehme ich vor? Welche Schritte sind notwendig? Dabei spielt die 50%-Regel eine Rolle: Wir neigen dazu uns zu überschätzen. Daher ist es ratsam, zu Beginn die Hälfte meiner geplanten Inhalte für die Arbeitseinheit zu streichen.

Eine weitere wirksame, etwas paradoxe Methode ist die sogenannte „Arbeitszeitrestriktion“: Der Betroffene darf nur in einem zuvor festgelegten, realistischen Zeitfenster arbeiten. Darüber hinaus ist das Arbeiten verboten. Das Fenster kann ausgedehnt werden, wenn der Betroffene es schafft seine Zeitfenster effektiv mit Arbeit zu verbringen. Das verhindert, dass man sich zu viel vornimmt und schafft Erfolgserlebnisse. Neue Verhaltensweise zu erlernen benötigt Zeit und Anstrengung, ist aber möglich. Wir können mit unseren Kurzzeitinterventionen bereits sehr gute Ergebnisse erzielen. Die Prokrastinationszeit verringert sich meist schnell und auch andere Symptome, die mit Prokrastination einhergehen, reduzierten sich signifikant. Tritt Prokrastination mit anderen Störungsbildern zusammen auf, wie einer Depression, dann ist es sinnvoll eine Psychotherapie zu machen. Eine Prokrastinationsbehandlung lässt sich oft gut integrieren.

Welche positiven Veränderungen erwarten den Aufschieber, wenn er nicht mehr aufschiebt?

In erster Linie sollte sich durch den verringerten Leidensdruck eine Verbesserung des Wohlbefindens einstellen. Werden die Konsequenzen der Prokrastination erst während der Behandlung bewusst, wird das besprochen. Wendet man die neu erlernten Strategien an, wird man die Aufgaben beginnen und durchzuziehen. Wichtig ist, dass man sich am Ende der Aufgabe auch lösen kann und die Arbeit nicht mehr im Hinterkopf hat. So kann man klare Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit schaffen und Freizeit auch wieder mehr genießen.

Welches erstes Warnzeichen darf ich nicht ignorieren?

Eine pauschale Antwort ist hier schwierig. Ich denke, dass stärkste Zeichen ist Leidensdruck. Wer merkt, dass er zunehmend unter seinem Aufschieben leidet und sich Konsequenzen einstellen, sollte sich Unterstützung suchen. Wer sich unsicher ist, ob er unter pathologischem Aufschieben leidet, dem empfehle ich unseren Selbsttest. Am Ende erhält man ein ausführliches Feedback zu Prokrastination und verwandten Bereichen wie Depression oder ADHS. Zudem werden erste Anlaufstellen genannt.

Sind bestimmte Menschen oder Berufsgruppen mehr betroffen als andere? Wie weit verbreitet ist Prokrastination?

Die Ursachen, die zur Prokrastination führen, sind sehr unterschiedlich, schwer zu bestimmten und wissenschaftlich noch nicht vollends erforscht. In der Forschung gibt es unterschiedliche Ansätze: Ein Ansatz dabei ist bspw. die Untersuchung von Zusammenhängen mit Persönlichkeitsmerkmalen. Wir fanden in einer Studie heraus, dass Perfektionismus gepaart mit Versagensangst zu Prokrastination führen kann. In den USA gibt es einer Forschergruppe, die sich auch mit genetischen Zusammenhängen beschäftig. Dort wurde allerdings herausgefunden, dass es sich vielmehr um einen Zusammenhang mit Impulsivität handelt. Es gibt auch Hinweise darauf, dass es an der zu erledigenden Aufgabe selbst liegen kann, also dass bestimmte Prädiktoren ein Auftreten von Prokrastination wahrscheinlicher machen, wie bspw. eine freie und wenig vorstrukturierte Tätigkeit, unklare Aufgabenstellungen, keine vorhandene Deadline oder eine sehr aversive Aufgabe.

Prokrastination betrifft vor allem Menschen, die viel selbstständig arbeiten müssen, ohne feste Fristen oder Druck vom Chef. Das können selbstständige Handwerker, aber auch Lehrer sein. Zu uns in die Ambulanz kommen vor allem Studierende. Wir unterliegen der Schweigepflicht und Dozent*innen oder Kolleg*innen erfahren nicht, dass jemand bei uns ein Angebot wahrnimmt.

Darf ich also Prokrastination als Entschuldigung benutzen, beispielsweise beim Verpassen einer Frist?

Prokrastination gilt an der Universität Münster nicht als Entschuldigungsgrund, wenn eine Frist verpasst wurde. Liegt eine psychische Erkrankung vor und der Betroffene ist in Therapie, dann kann es Unterstützung geben. Bei der Prokrastination ist dies jedoch nicht der Fall. Ich vermute, dass es an den meisten Universitäten so gehandhabt wird.

M.Sc. Psych. Laura Thomas arbeitet seit 2019 an der Prokrastinationsambulanz der Psychotherapieambulanz (PTA) an der WWU Münster. Sie ist für die Koordination der Ambulanz, sowie die Durchführung der Einzelberatungen und Gruppentrainings zuständig und forscht im Rahmen ihrer Dissertation zu Prokrastination. Die Angebote der Ambulanz richten sich an Studierende der WWU, sowie an Berufstätige aus dem Münsterland. Betroffene können sich aber an Studierendenberatungen und Verhaltenstherapeuten in ihrer Nähe wenden. Zudem hat die PTA den Ratgeber "Heute fange ich wirklich an" von Anna Höcker, Margarita Engberding und Fred Rist herausgebracht. Dabei handelt es sich nicht um ein Therapeutenmanual, sondern eine Ratgeber direkt für Betroffene, der mitunter auch die Methoden enthält, die in den Trainings der WWU Münster angeboten werden.

Foto von WWU Münster
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