Frischluft fürs Klassenzimmer

Lüftungssysteme sind in Schulen immer noch selten. Ein engagierter Physiker entwickelte eine Anlage zum Selberbauen, um Schüler vor dem Coronavirus zu schützen.

Von Simone Einzmann
bilder von Michael Hulder
Veröffentlicht am 17. Nov. 2021, 12:43 MEZ
Ein Wissenschaftler arbeitet an der Decke eines Raumes an einer Lüftungsanlage.

Frank Helleis installiert in einer Schule seine Lüftungsanlage. Detaillierte Informationen zur Anlage finden Interessierte im Internet: ventilation-mainz.de

Foto von Michael Hulder

Ein krakenartiges Gebilde aus Rohren und Plastikschalen baumelt von der Decke einer Gesamtschule in Mainz-Bretzenheim – von den Schülern liebevoll „unser Ufo“ getauft. Die ungewöhnliche Konstruktion aus günstigen Verpackungsmaterialien soll Schüler und Lehrer wirkungsvoll vor dem Coronavirus schützen. Ausgedacht hat sich die innovative Lüftungsanlage der Physiker Frank Helleis vom Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz. „Wir wussten, dass die Schulen bis zum bitteren Ende offengelassen werden, und suchten daher nach einer schnellen, unbürokratischen Lösung“, erklärt der Forscher.

Eigentlich verbringt der 60-Jährige seine Arbeitszeit nicht damit, in Klassenzimmern Plastikrohre zusammenzuschrauben. Normalerweise bastelt er an Geräten für Spionageflugzeuge, um damit den indischen Monsun zu studieren. Oder er entwirft Instrumente, die auf Schiffen im Arabischen Meer Luftschadstoffe kartieren. Doch während der Coronapandemie ist eben nichts normal. „Wir hatten ein paar Neuronen frei und wollten unser Wissen über Aerosole dort einsetzen, wo es jetzt gebraucht wird“, sagt Helleis.

Im Kampf gegen das Coronavirus helfen uns Grundlagen der Physik

Derzeit gibt es in gerade einmal zehn Prozent der deutschen Schulen fest verbaute Lüftungsanlagen. Mobile Luftfilter, derzeit als Interimslösung im Gespräch, sind teuer und führen keine Frischluft zu. „Wir überlegten uns also, wie ein System aussehen muss, das allen bau- und brandschutzrechtlichen Anforderungen entspricht und preiswert ist.“ Die Forscher wurden schnell fündig, doch nicht dort, wo sie es zuerst erwarteten.

Ihr Low-Budget-Modell nutzt ein Prinzip, das momentan nur in großen Konzerthallen und Vorlesungssälen eingesetzt wird. Über ein spaltbreit geöffnetes Fenster gelangt frische, kühle Luft in den Raum, die sofort auf den Boden sinkt und sich dort mit hoher Geschwindigkeit ausbreitet. „Die Schüler sitzen mit ihren Füßen in einem Frischluftsee“, erklärt Helleis. „Der warme Körper der Kinder zieht die kältere Luft wie eine Pumpe nach oben in Plastikhauben an der Decke.“ Mögliche Viren aus der ausgeatmeten Luft werden so einfach mitgerissen. Von den Hauben gelangt die Luft über ein Rohrsystem zu einem Ventilator am Fenster. „Das ist simple Physik“, erklärt Helleis begeistert. „Wir nutzen die natürliche Luftströmung, sodass im Winter nicht einmal ein Ventilator nötig wäre.“ Alle Materialien sind im Internet erhältlich, kosten pro Klassenzimmer rund 300 bis 500 Euro und wiegen gerade einmal zehn Kilo. Designvorschläge stehen frei verfügbar im Internet. Eltern und Lehrer können die Anlage in einem halben Tag selbst installieren.

In Tests fängt der unkonventionelle Plastiklüfter bis zu 90 Prozent der infektiösen Aerosole auf. „Er wirkt damit mindestens so gut wie das vorgeschriebene dreimalige Stoßlüften pro Stunde“, so Helleis, „ohne dass der Unterricht ständig unterbrochen werden müsste oder die Schüler frieren.“ Netter Nebeneffekt: Da die Luft ständig ausgetauscht wird, reduziert sich der CO2-Gehalt in der Luft deutlich, sodass sich die Kinder besser konzentrieren können. So erfüllt die Anlage auch nach der Pandemie noch einen Zweck. Sie eignet sich übrigens auch für Büros und Restaurants, so der Forscher.

Vom Erfolg seiner Erfindung war Helleis selbst ganz überrascht. Deutschlandweit nutzen bereits 1.500 Schulen die Anlage des Max-Planck-Instituts. Täglich bekommt er Mails interessierter Lehrer und Eltern. Für seine Verdienste während der Coronapandemie wurden Helleis und sein Team inzwischen vom Bundespräsidenten ausgezeichnet. Doch der unkonventionelle Forscher wünscht sich mehr als einen präsidentialen Handschlag. „Wir brauchen einen Paradigmenwechsel“, sagt er. „Jeder Schüler sollte das Recht auf saubere Luft haben.“

Dieser Artikel erschien in voller Länge in der November 2021-Ausgabe des deutschen NATIONAL GEOGRAPHIC Magazins. Keine Ausgabe mehr verpassen und jetzt ein Abo abschließen! 

 

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