Massensterben im Mittelalter: Wurde die Pest in Europa überbewertet?

Laut neuen Forschungsergebnissen sollen die Auswirkungen des Schwarzen Todes nicht in allen Regionen so verheerend gewesen sein, wie bisher angenommen.

Von Deborah Roth
Veröffentlicht am 18. Feb. 2022, 17:40 MEZ
Diese Hintergrundkarte mit den politischen Grenzen des Europas des 14. Jahrhunderts spiegelt die Farben der hundertjährigen ...

Diese Hintergrundkarte mit den politischen Grenzen des Europas des 14. Jahrhunderts spiegelt die Farben der hundertjährigen Veränderungen der Getreidepollenindikatoren wider.

Foto von Hans Sell, Michelle O’Reilly and A.I.

Der Schwarze Tod, der zwischen 1347-1352 über Europa, Westasien und Nordafrika einbrach, zählt zu den bekanntesten und gefürchtetsten Pandemien der Geschichte. Nahezu die Hälfte der europäischen Bevölkerung soll damals an der grassierenden Pest verstorben sein. Wie sich die Pest jedoch demographisch auswirkte, war bislang wenig erforscht – und kaum verstanden.

Eine Studie, die kürzlich im Fachmagazin Nature Ecology and Evolution veröffentlicht wurde, erforscht nun genau diesen demographischen Ansatz aus ökologischer Perspektive. Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Menschheitsgeschichte in Jena nahmen zusammen mit dem Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO) in Leipzig erstmals die Geschichte der Pest unter die paläoökologische Lupe.

Anhand von Pollen- und Sporendaten aus 19 europäischen Ländern konnten die fossilen Lebensräume untersucht werden. Erste Ergebnisse haben gezeigt, dass die Pest Menschen in Europa nicht etwa flächendeckend dahinraffte, sondern die Auswirkungen der Pandemie von Region zu Region variierte.

Der BDP-Ansatz zur Überprüfung der Sterblichkeitsraten der Pest.

Foto von A.I., T.N., Hans Sell and Michelle O’Reilly.

Die paläoökologische Big Data

Mithilfe des neuen wissenschaftlichen Ansatzes, genannt „Big-data paleoecology“ (BDP), analysierte das Forschungsteam 1.634 Pollenproben aus 261 radiokarbondatierten Seen und Feuchtgebiete quer durch Europa. Durch die Untersuchungen konnte das Team Veränderungen in der Landschaft und der landwirtschaftlichen Aktivität zwischen 1250 und 1450 erheben und berechnen, welche Pflanzen in welchen Mengen angebaut wurden – und anschließend auch bestimmen, in welcher Region der Ackerbau zum Stillstand kam oder weiterbetrieben wurde.

Skandinavien, Frankreich, Südwestdeutschland, Griechenland und Mittelitalien erlebten einen besonders starken Rückgang landwirtschaftlicher Aktivität, was mit den hohen Sterblichkeitsraten einhergeht, die auch in mittelalterlichen Quellen beschrieben werden. Zentral- und Osteuropa sowie Teile Westeuropas, darunter Irland und die Iberische Halbinsel, zeigten hingegen Anzeichen für Kontinuität und ununterbrochenes Wachstum – und lieferten damit ein klares Indizien, dass die Pest hier nicht in großem Ausmaß wütete.

Galerie: Die Pest: Wie die Menschheit eine ihrer tödlichsten Krankheiten besiegte

Stadt versus Land: Die Wendung in der Geschichte

Ein Grund für die überraschenden Ergebnisse liegt darin, dass viele der quantitativen Quellen aus urbanen Gebieten stammen, welche besonders durch beengte Räumlichkeiten und schlechte Hygiene gekennzeichnet waren. In der Mitte des 14. Jahrhunderts lebten jedoch mehr als dreiviertel der europäischen Bevölkerung in ländlichen Regionen.

„Es gibt kein einziges Modell für ‚die Pandemie‘ oder den ‚einen Pestausbruch‘, das für egal welchen Ort und egal zu welchem Zeitpunkt angewendet werden kann“, sagt Adam Izdebski, Leiter der Palaeo-Science and History-Gruppe am Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte. „Pandemien sind komplexe Phänomene, die jedoch auch regional und lokal unterschiedliche Ausprägungen aufweisen. Was wir schon für während der COVID-19-Pandemie erleben konnten, haben wir nun auch für die Pest gezeigt.“

Die Unterschiede in der Sterblichkeit in Europa zeigen, dass die Pest eine dynamische Krankheit war. Kulturelle, ökologische, ökonomische und klimatische Faktoren hatten einen entscheidenden Einfluss auf ihre Verbreitung und Folgen. Gerade für zukünftige Forschungen erhoffen sich die Wissenschaftler, insbesondere im Bezug auf Pandemien, mehr Studien, die sich auf paläoökologische Daten stützen. So wollen sie besser verstehen, auf welche Art und Weise unterschiedliche Variablen bei der Entstehung vergangener - und gegenwärtiger - Massenkrankheiten zusammenwirken.

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