Scheingesichter: Überall sehen wir Männer

Der Mensch erkennt im Alltag in den seltsamsten Gegenständen ein Gesicht. Laut einer neuen Studie ordnen wir diesen Scheingesichtern nicht nur eine Emotion zu, sondern auch meist das männliche Geschlecht.

Von Lisa Lamm
Veröffentlicht am 20. Okt. 2022, 09:25 MESZ
Löcher in einem Vögelhaus sehen aus wie ein Gesicht mit offenem Mund.

Schreiendes Vogelhaus: Manchmal erkennt das Gehirn Muster in Gegenständen, die es fälschlicherweise einem Gesicht zuordnet. Das Phänomen nennt man auch Gesichtspareidolie. 


 

Foto von Kathy / Adobe Stock

Das generische Maskulinum, der 50-Perzentil-Mann, der hauptsächlich bei Crashtests eingesetzt wird, oder männliche Erste-Hilfe-Dummies: In unserer Gesellschaft gelten Männer oft als allgemeingültiger Standard – und die Frau als Abweichung der Norm. Diese Weltanschauung, auch Androzentrismus genannt, wurde 1911 von der Soziologin Charlotte Perkins Gilman populär gemacht. Die Folgen des Phänomens sind für Frauen bis heute spürbar: schwerere Verletzungen bei Verkehrsunfällen oder eine spätere Erkennung von Herzinfarkten als bei Männern.

Nun hat eine Studie des US-amerikanischen National Institute of Mental Health (NIMH) eine weitere Eigenheit des Phänomens „Mann als Norm” entdeckt – und zwar bei der Erkennung von Scheingesichtern in Alltagsgegenständen. In der Studie, die in dem Fachmagazin PNAS veröffentlicht wurde, ließ das Team um Neurowissenschaftlerin Susan Wardle verschiedene Scheingesichter beschreiben – mit deutlichem Ausgang bei der Geschlechtsspezifikation: „Es gibt die starke Tendenz, Scheingesichter als männlich und nicht als weiblich wahrzunehmen, selbst wenn eine neutrale Option verfügbar ist.“ Doch woran liegt das? 

Der Schein trügt: Gesichtspareidolie

Das Phänomen, bei dem das Gehirn in willkürlich vorkommenden Mustern völlig beziehungslos lebendige Wesen oder vertraute Dinge erkennt, nennt sich Pareidolie. Erkennt der Mensch Gesichter in solchen eigentlich leblosen Gegenständen, spricht man von Gesichtspareidolie. Diese Scheingesichter können in den unterschiedlichsten Orten erkannt werden – im Gehäuse eines Apfels, den Astlöchern eines Baumes oder in den Trieben einer Kartoffel.

Eine Auswahl der Scheingesichter, die Wardle und ihr Team den Versuchspersonen vorlegten.

Foto von Wardle et. al

In ihrer Studie zeigte das Team des NIMH einer Gruppe aus Teilnehmerinnen und Teilnehmern insgesamt 256 Bilder, in denen Scheingesichter zu erkennen waren. Diesen Bildern sollten dann jeweils eine Emotion, ein Alter und ein Geschlecht zugeordnet werden, wobei jeweils eine neutrale Option verfügbar war. Dabei kam heraus, dass es bei allen drei Kategorien klare Favoriten gab. „Scheingesichter werden eher als glücklich, jünger und männlich wahrgenommen“, heißt es in der Studie. Besonders deutlich war der Unterschied bei der Geschlechterwahrnehmung: „90 Prozent der Bilder mit illusorischen Gesichtern wurden im Mittel als männlich bewertet während nur 9 Prozent der Bilder als weiblich bewertet wurden.“

Männer als Standard-Konzept

Doch wie entsteht diese Verzerrung? Laut den Forschenden kommt es auf die kognitive Verarbeitung des Scheingesichts an. Und diese sei vermutlich darauf zurückzuführen, dass das männliche Geschlecht in der sozialen Kommunikation das Standardgeschlecht ist – sowohl sprachlich als auch konzeptionell. So rufe ein Scheingesicht bei einem Menschen zunächst das Konzept „Person“ hervor, welches dann wiederum das Konzept „männlich“ hervorrufe. Das liege vor allem daran, dass Scheingesichter „nur die minimalen visuellen Informationen liefern, die für die Wahrnehmung eines Gesichts erforderlich sind“ und dadurch standardmäßig als männlich wahrgenommen werden.

BELIEBT

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    Damit ein Gesicht als weiblich wahrgenommen wird, sind laut der Studie dann weitere Informationen nötig. Darunter sind beispielsweise Muster, die an volle Lippen, Wimpern oder Augenbrauen erinnern. Das Gesicht muss also merklich vom Standard Mann abweichen, um als weiblich wahrgenommen zu werden. Dabei hatte das Geschlecht der Teilnehmerinnen und Teilnehmer selber keinen Einfluss auf die einzelnen Bewertungen.

    Wie genau diese Wahrnehmung eines männlichen Gesichts als Norm oder Standard letztendlich zustande kommt, muss laut Wardle und ihrem Team nun in weiteren Studien erforscht werden.

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