Bruder oder Schwester: Hat das Geschlecht der Geschwister Einfluss auf die Persönlichkeit?
Wäre unser Charakter anders, wenn wir statt mit einem Bruder mit einer Schwester aufgewachsen wären?
Manche Menschen sind eher vorsichtig, andere risikofreudig, manche offenherzig, andere introvertiert. Doch welche Faktoren bestimmen, wie sich eine Persönlichkeit entwickelt? Die Vermutung, dass die Familienstruktur, in der wir groß werden, eine Rolle spielt, ist naheliegend. Darum untersucht die psychologische Forschung bereits seit den Fünfzigerjahren unter anderem den langfristigen Einfluss, den das Aufwachsen mit Brüdern oder Schwestern auf unser Wesen hat.
Abgrenzung oder Angleichung
Dabei haben sich zwei gegensätzliche Theorien herausgebildet. Die Theorie der Geschwisterdifferenzierung geht davon aus, dass sich bei Personen mit gegengeschlechtlichen Geschwistern die spezifischen Merkmale des eigenen Geschlechts verstärken – ein Mädchen mit Brüdern entwickele demnach vor allem weibliche Persönlichkeitsmerkmale.
Die Theorie des sozialen Lernens hingegen besagt, dass Geschwister ihre soziale Interaktion einander angleichen und so geschlechtsspezifische Verhaltensmerkmale vom anderen übernehmen – eine Erklärung für das altbekannte Klischee des besonders einfühlsamen Mannes, der mit Schwestern aufgewachsen ist, oder der abenteuerlustigen Frau, die durch einen älteren Bruder geprägt wurde.
Trotz einer Vielzahl von Studien zu dem Thema, gab es bisher noch keinen Konsens darüber, welchen Unterschied das Geschlecht der Geschwister in der Persönlichkeitsentwicklung macht. Das könnte sich nun ändern: In einer neuen Studie, die in der Zeitschrift Psychological Science erschien, analysierten Forschende der Universitäten Leipzig und Zürich sowie der Victoria University of Wellington in Neuseeland Datensätze aus verschiedenen Umfragen und Erhebungen mithilfe eines eigens dafür entwickelten Statistikmodells.
“Insgesamt legt die aktuelle Studienlage nahe, dass Geschwister einen überraschend geringen Einfluss auf die Persönlichkeit im Erwachsenenalter haben.”
Statistische Forschung mit großen Stichproben
Die der Studie zugrundeliegenden Daten stammen aus zwölf nationalen Langzeitstudien, darunter – mit dem Sozio-oekonomischen Panel von 2007 – auch eine Erhebung aus Deutschland. Berücksichtigt wurden nur Datensätze, die eine große Stichprobengröße aufwiesen und in denen die Teilnehmer ihr eigenes und das Geschlecht ihrer Geschwister angegeben hatten.
Die Forschenden werteten Daten von 85.887 Personen im Alter von zehn bis 60 Jahren mit biologischen, Adoptiv- oder Stiefgeschwistern hinsichtlich mehrerer Persönlichkeitsmerkmale wie Risikotoleranz, Vertrauen, Geduld, Offenheit oder Gewissenhaftigkeit aus. Außerdem erstellten sie einen Index für typisch weibliche Persönlichkeitsmerkmale (TFP), der auf fünf Eigenschaften basiert, für die in den Erhebungen die größten geschlechtsspezifischen Unterschiede festgestellt wurden. Mithilfe des TFP-Index war es den Forschenden möglich, die Daten der Befragten systematisch auf geschlechtskonforme Merkmale zu untersuchen.
Das Ergebnis: Bei der Analyse der Datensätze konnten keine systematischen Muster festgestellt werden. Die Abweichungen in der Persönlichkeit von Befragten, die in unterschiedlichen Geschwisterkonstellationen aufgewachsen waren, waren so gering, dass sie als nicht signifikant eingestuft werden mussten. Die Studienautoren interpretieren dies als Beweis dafür, dass das Geschlecht der Geschwister keine weitreichenden und bedeutsamen Auswirkungen auf den Charakter hat.
Ob Bruder oder Schwester ist überraschend egal
„Unsere Ergebnisse widerlegen die Idee, dass das Aufwachsen mit Brüdern oder Schwestern dazu führt, dass wir langfristig bestimmte Persönlichkeitseigenschaften entwickeln, die in einer Gesellschaft als ‚typisch weiblich‘ oder ‚typisch männlich‘ gelten“, sagt Studienautorin Julia Rohrer von der Fakultät für Lebenswissenschaften an der Universität Leipzig. „Insgesamt legt die aktuelle Studienlage nahe, dass Geschwister einen überraschend geringen Einfluss auf die Persönlichkeit im Erwachsenenalter haben.“
Diese Erkenntnis untermauert eine Reihe vorangegangener Studien – unter anderem von der Universität Leipzig –, in denen untersucht wurde, welchen Effekt die Geburtsreihenfolge auf die Persönlichkeitsentwicklung hat. Auch hier zeigte sich: Ob man als Erstgeborene, Sandwichkind oder Nesthäkchen aufwächst, wirkt sich zwar auf die Intelligenz, nicht aber auf die langfristigen Persönlichkeitsmerkmale aus.
Die Suche nach den Faktoren, die unseren Charakter bestimmen, geht also weiter. Den Studienautoren zufolge sind die Umwelteinflüsse, die uns prägen – und zu denen auch die Geschwisterkonstellation zählt – von ebenso großer Vielfalt, wie die genetischen Einflüsse. Das heißt: Unsere Persönlichkeit ist das Produkt unzähliger, subtiler Effekte unterschiedlicher Größe. Ob wir also mit einem Bruder oder einer Schwester aufwachsen, ist nur einer von vielen Aspekten, die uns prägen – und in der Summe bei weitem nicht so relevant, wie angenommen.