Uncanny Valley: Warum uns KI das Fürchten lehrt

Roboter, die aussehen wie Menschen, Chatbots wie ChatGPT, die sich wie wir ausdrücken: Wenn Künstliche Intelligenz uns zu ähnlich ist, wird sie uns unheimlich. Wie ist dieses Phänomen zu erklären?

Von Natalia Mesa
Veröffentlicht am 25. Okt. 2023, 09:06 MESZ
Das Gesicht eines KI-Roboters an einer Apparatur aus Kabeln.

Nicht nur menschenähnliche Roboter wie dieser auf einem Foto aus dem Jahr 2010 rufen in uns Befremdung und sogar Angst hervor – schon die einfache Unterhaltung mit einer KI kann in uns das Gefühl in uns auslösen, dass etwas nicht stimmt.

Foto von MAX AGUILERA-HELLWEG, Nat Geo Image Collection

Wenn Aussehen und Verhalten von Künstlicher Intelligenz (KI) dem menschlichen in so starker Weise gleichen, dass sie ein ungutes, ängstliches Gefühl in uns auslösen, steckt dahinter das sogenannte Uncanny Valley. Das „Phänomen des unheimlichen Tals“ ist bereits seit den Siebzigerjahren bekannt – doch noch immer hat die Wissenschaft keine konkrete Antwort auf die Frage gefunden, warum künstliche Figuren in uns Unbehagen auslösen.

Für KI-Forschende, deren Ziel es ist, Roboter zu entwickeln, die sich in unseren sozialen Alltag integrieren lassen, ist die Überwindung des Uncanny Valleys eine der größten Herausforderungen. Bald schon sollen intelligente Maschinen uns im Restaurant bedienen, Aufgaben in der Altenpflege übernehmen oder Kindern das Lesen beibringen. Damit das funktioniert, dürfen sie uns keine Angst machen. Roboter aus dem unheimlichen Tal herauszuführen ist also wesentlich, wenn wir in Zukunft verstärkt mit ihnen interagieren sollen.

Was ist das Uncanny Valley?

Der Begriff Uncanny Valley und das Konzept dahinter prägte der japanische Robotiker Masahiro Mori im Jahr 1970. Er beschrieb in einem Essay, wie Roboter durch die Annahme menschlicher Eigenschaften an Liebenswürdigkeit gewinnen – ein gutes Beispiel hierfür ist WALL-E aus dem gleichnamigen Film aus dem Jahr 2008. Dieser Effekt ist jedoch nur bis zu einem gewissen Grad zu beobachten. Erhöht man den menschlichen Anteil zu sehr, kommt es irgendwann zum Bruch: einer Akzeptanzlücke, die dazu führt, dass uns die Maschinen unheimlich erscheinen – unheimlicher, als wenn sie gar keine menschlichen Eigenschaften hätten.

Moris Theorie beruhte stark auf seinen eigenen Erfahrungen. Laut Karl MacDorman, Robotiker an der Indiana University in Bloomington, der Moris Essay übersetzte, hatte sie aber trotzdem einen weitreichenden Einfluss. Wissenschaftlich sei Moris Uncanny Valley aber nicht uneingeschränkt akzeptiert und sollte, so MacDorman, eher als Ansatz denn als feststehende Regel betrachtet werden.

Seitdem das Phänomen erstmals beschrieben wurde, haben Forschende es in vielen Bereichen festgestellt. Das Uncanny Valley existiert zwischen menschlichen und künstlichen Stimmen, zwischen echten und Robotertieren und sogar in Bezug auf Gebäude.

Auf diesem Bild aus dem Jahr 2010 wird ein Roboter in Pittsburgh so gestaltet, dass er menschenähnlicher aussieht. Nach wie vor versuchen Forschende, eine Brücke über das Uncanny Valley zu schlagen, damit künstliche Menschen von echten Menschen besser akzeptiert werden.

Foto von MAX AGUILERA-HELLWEG, Nat Geo Image Collection

Instinktive Angst vor künstlichen Menschen

Im Rahmen einer Studie hat MacDorman gemeinsam mit dem Kognitionspsychologen Alex Diel Belege für das Uncanny Valley untersucht und das Phänomen mit der Theorie der konfigurierbaren Verarbeitung erklärt. Dahinter verbirgt sich die Idee, dass die unbehagliche Reaktion auf unserem Empfinden für die Größe und Positionierung menschlicher Gesichtsmerkmale beruht. Das damit verbundene Konzept der Wahrnehmungsfehlanpassung besagt, dass Merkmale, die für uns nicht zusammenpassen, in uns ein seltsames Gefühl auslösen. Ein Beispiel hierfür ist die Kombination aus lebensecht aussehenden Augen und unrealistischer Hautstruktur – ein Problem, das häufig auftaucht, wenn Bilder mithilfe von Text-zu-Bild-Generatoren von KI erstellt werden.

Evolutionär betrachtet könnte man unsere Befremdung auch dadurch erklären, dass die seltsam menschenähnlichen Figuren Instinkte in uns wecken, die uns vor möglichen Gefahren schützen wollen. Diel zufolge interpretieren wir ihr seltsames Aussehen unterbewusst als ein Zeichen für Krankheit. Um uns vor dieser zu schützen, reagieren wir mit Ekel. Die Theorie zur Partnerwahl schlägt in dieselbe Kerbe: Ihr zufolge lehnen wir menschenähnliche Roboter ab, weil wir instinktiv wissen, dass sie keine guten Partner wären. Möglicherweise beunruhigen uns künstliche Menschen aber auch, weil sie, vergleichbar mit Zombies, auf unnatürliche Weise lebendig geworden sind – und uns dadurch unsere eigene Sterblichkeit vor Augen führen.

Eine kognitive Erklärung für das Uncanny Valley ist die Verwirrung, die in uns entsteht, wenn künstliche Menschen über menschenähnliche Eigenschaften oder einen Verstand verfügen. Dies führt dazu, dass wir nicht wissen, ob wir sie wie Menschen behandeln sollen oder ob wir erwarten können, dass sie sich wie Menschen verhalten.  

Zudem wurden inzwischen Belege dafür gefunden, dass künstliche Menschen uns Angst machen, weil sie unsere Überzeugung in Zweifel stellen, dass der Mensch in seinen Fähigkeiten einzigartig ist. Vernunft, Logik und Emotionen sind Eigenschaften, von denen wir denken, dass nur unsere Spezies darüber verfügt. Teilnehmende einer aktuellen Studie gaben jedoch an, dass sie sich nach der Interaktion mit menschenähnlichen Androiden die Frage gestellt haben, was es überhaupt bedeutet, ein Mensch zu sein. „Vielleicht lernen wir durch Roboter mehr über uns selbst als über sie“, sagt Dawid Ratajczyk, Psychologieprofessor an der polnischen Adam-Mickiewicz-Universität in Posen und Hauptautor der Studie.

BELIEBT

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    Links: Oben:

    Dieser Roboter aus Osaka, Japan, fotografiert im Jahr 2010, wurde so entworfen wurde, dass er kindlich erscheint.

    Rechts: Unten:

    Der Roboter sieht nicht nur einem Kind ähnlich sondern lernt auch wie ein Kind, indem er Menschen beobachtet und mit ihnen interagiert.

    bilder von MAX AGUILERA-HELLWEG, Nat Geo Image Collection

    Chatbot oder Roboter: Wer ist gruseliger?

    Im Dezember 1988 kam der später Oscar-prämierte Kurzfilm Tin Toy in die Kinos. Es war der erste Film, in dem eine menschlich wirkende Figur computeranimiert dargestellt wurde. Für MacDorman ist er ein Paradebeispiel für das Uncanny Valley, weil der Anblick des CGI-animierten Babys im Zuschauer automatisch ein verstörendes, unkontrollierbares Bauchgefühl auslöst. Die Reaktion sei anders als bei der Interaktion mit einem Chatbot, die eher auf geistiger Ebene verläuft und demzufolge „nicht dem Konzept entspricht, das Mitsuhiro Mori mit seinem Uncanny Valley beschrieben hat“.

    Ratajczyk widerspricht dem. Er ist der Meinung, dass jeder künstliche Akteur, egal ob Roboter oder Chatbot, in der Lage ist, Uncanny Valley-Reaktionen hervorzurufen. Um seine These zu belegen, weist er auf eine Studie hin, die gezeigt hat, dass einfache Text-Chatbots weitaus weniger starke Befremdung verursachen als virtuelle, menschenähnliche Avatare, die mit einem Nutzer sprechen. Je vermeintlich menschlicher die Avatare erschienen, desto abstoßender wirkte der Chatbot auf die Nutzer.

    In Neuroimaging-Studien wurde nachgewiesen, dass im Gehirn je nach Art der Interaktion andere Regionen aktiviert werden – und dass der analytische Teil des Gehirns bei der sozialen Interaktion mit Robotern möglicherweise stärker beansprucht wird als bei der Interaktion mit echten Menschen.

    Je mehr KI im Alltag, desto größer das Uncanny Valley?

    Der soziale Roboter Nadine sieht einem Menschen sehr ähnlich und ist in der Lage dazu, sich an frühere Unterhaltungen zu erinnern. Seit er vor fast sieben Jahren der Weltöffentlichkeit präsentiert wurde, ist er bei einer Versicherungsgesellschaft in Singapur im Einsatz. Unterdessen haben seit Februar 2023 mehr als 100 Millionen Menschen den sprach- und textbasierten Chatbot ChatGPT genutzt. KI nimmt in unserem Alltag einen immer größeren Platz ein und wird uns dabei immer ähnlicher – doch wird sie dadurch auch weniger unheimlich?

    Laut Bilge Mutlu, Computerwissenschaftler an der University of Wisconsin-Madison, ist diese Frage schwer zu beantworten. Während manche Forschende davon ausgehen, dass wir uns durch den intensiveren Kontakt mit KI zunehmend an sie gewöhnen und die Effekte des Uncanny Valley nachlassen, hat Mutlu den Eindruck, dass sich das Angstgefühl eher noch gesteigert hat.

    MacDorman zufolge könnte das Phänomen durchaus auch eine Generationenfrage sein. Er erinnert sich an eine Situation, die entstand, als im Jahr 2020 der Android Geminoid H1 präsentiert wurde, den der Robotiker Hiroshi Ishiguro nach seinem eigenen Vorbild erschaffen hatte. Ein älterer Mann betrat den Raum und fragte, wo dieser Android denn sei – während er direkt neben ihm stand.

    Die Zukunft der Künstlichen Intelligenz

    Moris Vorschlag, wie das Uncanny Valley zu umgehen sei, war einfach: Man solle einfach keine menschenähnlichen Roboter bauen. Doch für viele heute tätige Robotiker*innen wie MacDorman ist das eine unbefriedigende Lösung. Denn ihr Ziel ist es gerade, Roboter zu bauen, die Menschen maximal ähneln – zum einen, um grundlegende Fragen über das Menschsein zu beantworten, zum anderen, damit sie sich nahtlos in das menschliche Leben integrieren lassen.  

    Doch damit sind ethische Fragen verbunden: Wie menschlich darf ein Roboter sein? Müssen echte Menschen informiert werden, wenn sie mit einem künstlichen Menschen interagieren? Wie viel darf künstliche Intelligenz von und über uns wissen?

    Mutlu zufolge ist es gar nicht nötig, dass alle Roboter Menschen in Aussehen und Verhalten ähneln. Es sei darum wichtig, sich erst sorgfältige Gedanken über ihre Funktion zu machen und sie dann entsprechend zu gestalten.

    Seiner Meinung nach gibt es keinen Grund, Künstliche Intelligenz wichtige Entscheidungen treffen zu lassen, die wir selber treffen könnten. Trotzdem käme sie heute bei Entscheidungen über Versicherungsfälle und Haftstrafen zum Einsatz. Mutlu hofft, dass KI-Forschende sich in Zukunft stärker darauf konzentrieren werden, helfende KI zu entwickeln, die entweder verlorene menschliche Fähigkeiten wiederherstellt oder dort eingesetzt wird, wo die Menschheit an ihre Grenzen stößt.

     

    Einblicke in noch mehr unheimliche Phänomene gibt es im Rahmen des „Bloody Halloween“ am Dienstag, den 31.10.2023, ab 22:30 auf National Geographic. National Geographic und National Geographic WILD empfangt ihr über unseren Partner Vodafone im GigaTV Paket.  

     

    Dieser Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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