Ekelgarant und Wunderwaffe – so könnte Schleim die Zukunft der Medizin beeinflussen

Lange Zeit als ekelerregend und peinlich verkannt, könnten Schleimstoffe – sogenannte Mucine – schon bald einen Siegeszug in der Medizintechnik antreten.

Von Heidrun Patzak
Veröffentlicht am 19. Dez. 2024, 12:15 MEZ
Mucine auf Kontaktlinsen

An der Technischen Universität München (TUM) arbeiten Forschende an medizinischen Anwendungen aus Mucinen, etwa an den Beschichtungen von Kontaktlinsen.

Foto von Andreas Heddergott / TUM

Rotz, Speichel, Auswurf – die Formen von Schleim in unseren Körpern sind vielfältig und sorgen vor allem für eines: Ekel. Dabei ist Schleim ein wahres Wunderwerk der Natur und besitzt Eigenschaften, die seit einigen Jahren immer mehr in den Fokus der Forschung rücken. Besonders tief in der Schleimforschung steckt Prof. Oliver Lieleg, Physiker und Professor am Munich Institute of Biomedical Engineering. Er beschäftigt sich mit Mucinen und ihren vielfältigen Einsatzmöglichkeiten in der Medizintechnik.

Wichtige Barriere: Diese Rolle spielt Schleim in unseren Körpern

Schleim ist häufig verkannt als Krankheitsträger, dabei erfüllt er genau das Gegenteil: Er ist enorm wichtig für unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden. In der Nase zum Beispiel schützt er den Körper vor dem Eindringen von Erregern, denn Schleim kann Viren sehr gut binden. 

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    Foto von nicoletaionescu - stock.adobe.com

    In der Hauptsache besteht „Mucus“, also der Schleim, den unser Körper produziert, aus Wasser. Verantwortlich für die vielfältigen Eigenschaften von Mucus sind aber nicht der hohe Wasseranteil, sondern die darin enthaltenen Mucine. „Sie gehören zu den größten Molekülen, die der menschliche Körper produziert“, erklärt Prof. Lieleg. Sie bilden Flüssigkeiten und Gele, etwa in der Tränenflüssigkeit, der Magenschleimhaut oder im Speichel. Damit erleichtern sie uns zum Beispiel einen unserer wichtigsten Reflexe: das Schlucken.

    Allerdings befinden sich in Schleim noch eine Vielzahl anderer, kleinerer Moleküle sowie verschiedene Salze„Je nach Art des Mucus, also wenn man etwa Tränenflüssigkeit, Speichel und Magenschleim vergleicht, ist der Gehalt dieser Komponenten unterschiedlich, sodass man dann auch andere Konsistenzen und leicht andere Funktionen erhält“, sagt Prof. Lieleg.

    Einsatzmöglichkeiten in der Medizintechnik: Mucine auf Oberflächen

    Mucine sind also quasi körpereigenes Material – und deshalb in der Medizintechnik vielseitig einsetzbar. Prof. Lieleg hat es sich zur Aufgabe gemacht, aus Mucinen neue Materialien zu entwickeln, um die Oberflächen von Medizinprodukten zu verbessern – mit Erfolg. „Wenn wir nur eine einzige Schicht unserer im Labor gereinigten Mucine auf bestimmte Objekte auftragen, finden wir einen ganzen Blumenstrauß von Eigenschaften“, schwärmt der Biophysiker.

    Prof. Lieleg (TUM)

    Prof. Lieleg und sein Team entwickeln aus Mucinen Beschichtungen, etwa für Kontaktlinsen und Intubationsschläuche oder Wundheilungspflaster.

    Foto von Andreas Heddergott / TUM

    Einsatzmöglichkeiten für Mucine fanden er und sein Forschungsteam etwa bei der Beschichtung von Kontaktlinsen. Durch sie wird die Reibung zwischen Hornhaut und Kontaktlinsen verringert und die Linse kann besser mit der Tränenflüssigkeit benetzt werden. Zudem können Hornhautschäden vermieden werden. Auch auf Intubationsschläuchen findet eine Mucinbeschichtung Anwendung. Sie kann das Gleitverhalten auf Gewebe verbessern, Gewebeschäden reduzieren und die daraus folgende Infektionsgefahr senken.

    Die Pflasterrevolution: Mucine bei Wundheilung und Medikamentengabe

    Mithilfe von Mucinen konnten die Forschenden der TU München auch ein multifunktionales Wundheilpflaster entwickeln. Es kann vor allem bei Verletzungen des Weichgewebes wie Zunge oder Darm, etwa nach Operationen, eingesetzt werden. Herkömmliche Pflaster eignen sich dafür nicht. Pflaster auf Mucin-Basis hingegen bieten verschiedene Vorteile: Sie haften auf feuchtem Weichgewebe, ohne es zu beschädigen und beugen Entzündungen vor. „Wenn wir möchten, können wir auch noch gezielt Wirkstoffmoleküle wie Antibiotika in den Mucin-haltigen Film integrieren, die dann fast ausschließlich in Richtung der Wunde freigesetzt werden.“ Am Ende lösen sich die Wunderpflaster von selbst auf.

    Beschichtung von Intubationsschläuchen

    Bernardo Miller Naranjo testet die Beschichtung von Intubationsschläuchen im Versuchsaufbau im Labor.

    Foto von Andreas Heddergott / TUM

    Zukünftig sollen auch Medikamente so in Partikel verpackt werden, dass sie ganz gezielt erst an der Mucusschicht im Körper freigesetzt werden – so etwa in medizinischen Sprays. Die Dimensionen für diese Partikel und Medikamente sind winzig: Extrem kleine Wirkstoffträger (Nanopartikel) werden dafür in Kügelchen (Mikropartikel) eingepackt, die dann nach dem Einatmen kontrolliert wieder freigesetzt werden.

    Die Superpower von Schleim: Bakterien und Viren haben es schwer

    Einen Vorteil, den Beschichtungen aus Mucin in verschiedenen Tests gegenüber anderen verwendeten Stoffen wie Hyaluronsäure oder Polyethylenglycol hatten: Es bilden sich deutlich weniger Ablagerungen aus Zellen, Fetten oder Bakterien an den Oberflächen, etwa bei Intubationsschläuchen.

    Die Gründe dafür werden aktuell von Prof. Lieleg und seinem Team erforscht. Er vermutet, dass das an der chemischen Struktur des Glykoproteins liegen könnte. Definitive Antworten haben er und sein Team aber noch nicht, denn Mucine sind biochemisch sehr komplex aufgebaut.  „Fragen Sie mich hierzu gerne in ein bis zwei Jahren noch einmal, dann haben wir dieses Rätsel vielleicht gelöst“, meint er augenzwinkernd.

    Auch andere Forschende beschäftigen sich mit der Thematik. Biophysikerin Katharina Ribbeck vom Massachusetts Institute of Technology in den USA veröffentlichte einen Artikel in der Fachzeitschrift "Nature Microbiology" über Mucine. Das Team fand heraus, dass isolierte Mucine bestimmte Virulenzwege unterdrücken und Infektion abschwächen können. Die These der Forschenden war, dass Zuckermoleküle in Mucinen die Signalübertragung von Keimen stören könnten. Mucine können also Mikroorganismen „zähmen“, schreibt Ribbeck, und sie für den Wirt weniger schädlich machen.

    Schwachstellen identifizieren: Störungen der Schleimbarriere

    Doch auch Mucus ist nicht unbesiegbar. Die lebenswichtigen Barrieren, die sie für unsere Körper bilden, können gestört werden. Etwa, wenn Feinstaub- oder Mikroplastikpartikel darauf treffen. Das konnten Lieleg und sein Team in Versuchen herausfinden. „Wenn die Mucinschicht mit Feinstaub durchsetzt ist, verschlechtert sich ihre Barrierewirkung. Die winzigen Partikel besetzen im Mucingel Bindestellen, die dafür gedacht sind, andere Moleküle abzufangen.“ Die Folge: Die Schutzwirkung ist geschwächt. 

    Mucusschichten, die mit Nano- oder Mikropartikeln in Kontakt kommen

    Im Modellsystem (Microfluidic-Chips) wird untersucht, was an den Mucusschichten passiert, wenn sie mit Nano- oder Mikropartikeln in Kontakt kommen. 

    Foto von Andreas Heddergott / TUM

    Neue Produkte mit Hürden: Wann bekommen wir Wunderpflaster und Co.?

    Als Basis für Lielegs Forschungen dienen Mucine aus Schweinemägen. Hierzu wird der Mucus zunächst stark verdünnt und dann chemisch gereinigt. „Die gereinigten Mucine haben in etwa die Konsistenz von Zuckerwatte“, erklärt er. Dennoch sind sie sehr widerstandsfähig. „Selbst Standard-Sterilisationsverfahren halten die neuartigen Mucinbeschichtungen inzwischen aus. So eine Mucin-Schicht ist schon ein kleiner Tausendsassa!“

    Noch können wir mit den Produkten, die Lieleg erforscht, allerdings nicht auf dem Markt rechnen. „Einige der spannenden Eigenschaften, die wir in unserer Forschung mit Mucinen gefunden haben, treten nur mit unserem im Labor gereinigten Mucin auf – kommerziell erhältliche Mucine sind hier im Vergleich teils stark unterlegen.“ Unter anderem liegt das daran, dass die Forschenden sehr darauf achten, die Mucine während der verfahrenstechnischen Aufbereitung nicht chemisch zu beschädigenFür einige der Anwendungen ist eine bessere Verfügbarkeit von hochfunktionalem Mucin nötig. „Aber da sind wir dran“, stellt Lieleg in Aussicht.

    Allerdings liegt es nicht nur an der Forschung, dass die Produkte auch wirklich auf den Markt kommen. „Natürlich braucht es auch ein entsprechendes Interesse seitens der Industrie. Nicht immer sind neue, innovative Produkte sofort für die Industrie finanziell interessant.“ Um das zu erreichen, müssten erst die bisher aufwendigen Verfahrensschritte vereinfacht, die Prozesszeit reduziert und die Ausbeute gesteigert werden. Doch auch hier lässt sich die Begeisterung von Prof. Lieleg nicht bremsen: „Wir sind auf einem guten Weg“, sagt er optimistisch.

    Cover National Geographic 12/24

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