Wahnsinnig weit

Hochfliegende Pläne: Der Flug zu den Sternen würde Jahrzehnte dauern. Aber er ist möglich. Sind wir verrückt genug, dorthin aufzubrechen?

Von Tim Folger
Foto von Stephan Martinière

Es war einmal eine Zeit, in der gab es keinen Zweifel daran, dass die Zukunft der Menschheit im All liegen wird. Ein Relikt jener Jahre steht heute auf dem Gelände des Marshall-Raumfahrtzentrums der Nasa in Huntsville, Alabama. «Das ist kein Modell», sagt der Nasa-Physiker Les Johnson und zeigt auf die Leitungen, Düsen und Hitzeschilde der zehn Meter hohen Konstruktion. «Das ist ein echter Raketenantrieb.»

Vor 40 Jahren plante die Nasa, ein Dutzend Astronauten in zwei Raumschiffen zum Mars zu schicken, jedes angetrieben von drei solcher Triebwerke. Damals leitete der deutsche Ingenieur Wernher von Braun das Raumfahrtzentrum. Er stellte das Projekt im August 1969 vor, zwei Wochen, nachdem die ersten Astronauten von einer „Saturn V“-Rakete („Apollo 11“) auf den Mond gebracht worden waren. Von Braun nannte als Termin für den Start zum Mars den 12. November 1981. Die Raketen sollten von Atomreaktoren angetrieben werden, die superheißen Wasserstoff ausstoßen. Am Boden hatten sie alle Tests bestanden. Sie waren bereit.

30 Jahre nach dem angekündigten Termin war immer noch kein Mensch auf dem Mars. Johnson leitet heute ein Team, das die Machbarkeit „fortgeschrittener Konzepte“ in der Raumfahrttechnik bewertet – und er hat NERVA, den alten Nuklearantrieb (Nuclear Engine for Rocket Vehicle Application) noch nicht abgeschrieben. «Falls wir Menschen zum Mars schicken, sollte man sich das noch einmal anschauen», sagt er. Allerdings setzt die Nasa derzeit auf konventionelle Raketen. Sie sucht einen Nachfolger für die „Saturn V“, die 1973 letztmals zum Einsatz kam. Wohin die neue Rakete einmal fliegen soll, ist bis heute nicht entschieden.

Das NERVA-Projekt wurde ebenfalls 1973 beendet. Seither haben sich Menschen nie mehr weiter als 600 Kilometer von der Erde entfernt. Die internationale Raumstation „ISS“ umkreist unseren Planeten in nur 370 Kilometer Entfernung. Und jetzt reden wir mit einem Mal wieder darüber, zu anderen Sternen zu reisen?

Reise zur Grenze des Sonnensystems

Warum hielt man das vor einem halben Jahrhundert eher für möglich als heute? «Weil wir auf gewisse Weise verrückt waren», sagt der heute 88-jährige Physiker Freeman Dyson vom Institute for Advanced Study in Princeton. Ende der fünfziger Jahre arbeitete Dyson am „Orion“- Projekt. Sein Ziel war es, ein bemanntes Raumschiff zu bauen, mit dem man zum Mars und zu den Monden des Saturn fliegen könnte. Das „Orion“-Raumschiff sollte jede Viertelsekunde eine kleine Atombombe hinter sich abwerfen und auf deren Explosionswellen durch das All surfen. «Das wäre natürlich riskant gewesen», sagt Dyson, der am liebsten persönlich zum Saturn aufgebrochen wäre. «Aber es war eine andere Zeit. Kein Abenteuer ohne Risiko, so dachten wir eben.»

Heute fällt es uns leichter zu begründen, warum wir so etwas nie tun würden: Die Sterne sind einfach zu weit weg, und das notwendige Geld haben wir sowieso nicht. Doch es gibt auch Argumente dafür, warum wir uns dennoch auf den Weg ins All machen sollten – und sie gewinnen an Gewicht. Astronomen haben bei vielen Sternen in unserer kosmischen Nachbarschaft Planeten entdeckt. Sie hoffen, darunter schon bald einen zu finden, der unserer Erde ähnlich ist, auf dem es Leben geben könnte. Das würde die Reiselust beflügeln.

Auch unsere Technik ist leistungsfähiger geworden, Atombombenantriebe würden wir wohl nicht mehr brauchen. Les Johnson gibt mir ein Stück Stoff in die Hand, leicht und dünn wie aus Spinnweben. Es besteht aus Kohlefasern, man könnte damit riesige Segel herstellen. Sie würden nicht vom Wind gebläht, sondern von Lichtteilchen – vom Sonnenwind – oder von Laserstrahlen. So ein Antrieb könnte ein Raumschiff bis an die Grenzen unseres Sonnensystems bringen.

Aber um zu den Sternen zu gelangen, brauchen wir nicht nur neue Materialien und Motoren, sondern auch etwas, das man nicht fassen kann. Etwas vom alten Geist. Er ist nicht verschwunden, er scheint sogar wieder stärker zu werden. Wer mit Raumfahrt-Enthusiasten redet – vor allem außerhalb der Nasa –, spürt wieder die alten Sehnsüchte, die Abenteuerlust, die Portion Verrücktheit, die notwendig ist, um in die Weite des Weltraums vorzudringen.

Beginn des Zeitalters der kommerziellen Raumfahrt

Im Frühjahr 2011 schoss das Privatunternehmen SpaceX, das seinen Sitz bei Los Angeles hat, mit einer Rakete eine unbemannte Raumkapsel ins All, die an der „ISS“ andockte. Nach der Ausmusterung der Spaceshuttles konkurrieren derzeit mehrere Firmen um den Bau eines Nachfolgemodells, das die Raumstation versorgen soll. In diesem Rennen hat SpaceX derzeit die Nase vorn. Einen Monat früher war das Unternehmen Planetary Resources an die Öffentlichkeit getreten. Dahinter stehen Milliardäre wie Larry Page und Eric Schmidt von Google. Die Firma will künftig mit Raumrobotern auf Aste- roiden nach wertvollen Metallen schürfen. «Wir hoffen, dass wir bis zum Ende des Jahrzehnts unsere ersten Zielobjekte identifiziert und mit der Erkundung begonnen haben werden», sagt Peter Diamandis, einer der Mitgründer.

«Spätere Generationen werden auf dieses Jahrzehnt als den Beginn des Zeitalters der kommerziellen Raumfahrt zurückblicken», glaubt der Nasa-Technologiechef Mason Peck. «Viele Firmen denken zurzeit darüber nach, wie man im Weltraum Geld verdienen kann.»

Der Vorstoß ins Unbekannte aus wirtschaftlichen Interessen – das war schon immer ein Motiv für Menschen. Die Händler im Mittelalter zogen über die Seidenstraße, um zu den Märkten in China zu gelangen, portugiesische Karavellen segelten im 15. Jahrhundert über die Grenzen der bekannten Welt hinaus, auf der Suche nach Gold und Gewürzen. «Wissensdrang und menschliche Neugier sind eher schwache Triebkräfte im Vergleich zum Streben nach Reichtum», sagt Diamandis. «In den Weltraum werden wir nur dann ernsthaft vorstoßen, wenn es Aussicht auf Profit gibt.»

Zwar sind die Technologien noch nicht reif, um Roboter auf einem Millionen Kilometer entfernten Asteroiden in annähernder Schwerelosigkeit Erze fördern und verarbeiten zu lassen. Auch einen Asteroiden näher zur Erde zu holen, ist noch nicht möglich. «Es besteht das Risiko, dass wir scheitern», sagt SpaceX-Mitbegründer Eric Anderson. «Doch wir sind überzeugt, dass da draußen unsere Zukunft liegt. Und natürlich hoffen wir, eine Menge Geld zu verdienen.»

Das hat der 41-jährige Milliardär Elon Musk, Gründer von PayPal und Tesla Motors, schon getan. Einen großen Teil seines Vermögens steckt er nun in das Raumfahrtprogramm SpaceX. Das Unternehmen hat eine neue Trägerrakete entwickelt, die „Falcon Heavy“. Sie kann angeblich doppelt so viel Nutzlast ins All tragen wie ein Spaceshuttle, für ein Fünftel der Kosten. Das reicht Musk aber nicht. Sein Ziel ist die Entwicklung einer vollständig wiederverwendbaren Trägerrakete. Sie würde die Transportkosten auf ein Fünfzigstel oder gar ein Hundertstel des heutigen Preises drücken. «Die meisten Leute halten das für unmöglich. Ich gehöre nicht zu denen», sagt Musk.

Menschen auf dem Mars

Für ihn ist dies sowieso nur Teil eines viel größeren Vorhabens: der Gründung einer dauerhaften Siedlung von Menschen auf dem Mars. Während die Nasa stolz darauf ist, ihr unbemanntes Forschungsfahrzeug „Curiosity“ auf dem Roten Planeten herumkurven zu lassen, glaubt Musk, dass SpaceX binnen 20 Jahren Astronauten auf den Mars bringen – und solche Marsreisen dann dauerhaft anbieten – kann.

«Menschen und hinreichend Ausrüstung zum Mars zu transportieren, um dort eine sich selbst tragende Zivilisation zu etablieren, wird das Schwierigste sein, was die Menschheit je getan hat – wenn wir es denn schaffen sollten», sagt Musk. «Aber ich betone, dass es nicht darum geht, von der Erde zu flüchten. Es geht darum, unseren Lebensraum auf andere Planeten auszuweiten; darum, die Sterne zu erforschen.»

Womit wir beim Thema Geschwindigkeit wären. Das schnellste jemals gebaute Raumfahr­zeug – die 1976 gestartete Sonnenmesssonde „Helios 2“ – flog 253000 Kilometer pro Stunde. Mit diesem Tempo würde sie schneller auf dem Mond sein, als ein Zugreisender von Hamburg nach Berlin braucht. Für die 40000 Milliarden Kilometer bis Proxima Centauri, dem unserer Sonne nächsten Stern, würde sie dennoch mehr als 17000 Jahre benötigen – etwa so viel Zeit, wie seit den Höhlenmalereien der Cro­Magnon­ Menschen vergangen ist. Diese Erkenntnis bringt selbst einige der unerschütterlichsten Befürworter der bemannten Raumfahrt zu dem Schluss, dass interstellare Reisen etwas für Ro­boter bleiben werden. «Wir schaffen es entweder zum Mars – oder nirgendwohin», sagt der Raumfahrtingenieur Louis Friedman.

Damit will sich Andreas Tziolas nicht abfin­den. Der Physiker ist einer der führenden Köp­fe bei Icarus Interstellar, einer Organisation, die sich dafür einsetzt, «vor dem Jahr 2100 inter­stellare Raumflüge zu verwirklichen». Die Aus­sicht, für immer auf zwei kleinen Planeten in einer nahezu endlosen Galaxie gefangen zu sein, findet er deprimierend. Er ist «überzeugt, dass wir innerhalb eines Jahrhunderts irgendeine Form der interstellaren Erkundung möglich machen können».

Zum Beispiel durch ein Raumschifftriebwerk, das die Kernfusion nutzt, die Energiequelle der Sterne. Wenn Atomkerne verschmelzen, setzen sie enorme Mengen Energie frei – viel mehr als eine Kernspaltung, mit der Atomkraftwerke Strom erzeugen. Die bisherigen Fusionsreaktoren verbrauchen zwar immer noch mehr Energie, als sie erzeugen. «Aber ich vertraue unserem Einfallsreichtum», sagt Tziolas. Er hält es für möglich, bis 2100 ein Fusionstriebwerk zu konstruieren, das ein Raumschiff auf 15 bis 20 Prozent der Lichtgeschwindigkeit beschleunigen kann. Damit würde man den nächsten Stern in nur wenigen Jahrzehnten erreichen – falls die Bordtechnik so lange durchhält. «20 Jahre ist schon ziemlich nahe an der Obergrenze für das zuverlässige Funktionieren eines Raumschiffs», gibt Les Johnson zu bedenken.

Mit Licht durchs All segeln

Doch derzeit sind Fusionsantriebe noch Technikerträume. Ein Antrieb, der auf Kernspaltung setzt wie NERVA, wäre zu teuer. Raketen mit chemischem Antrieb könnten zwar bis zum Rand unseres Sonnensystems gelangen, aber nie genug Treibstoff mit sich führen, um in einer realistischen Zeit einen anderen Stern zu erreichen. Die „Voyager“-Sonde zum Beispiel würde, flöge sie in die richtige Richtung, in 74000 Jahren bei Proxima Centauri ankommen.

Am weitesten gediehen ist bislang die Entwicklung der einfachsten Methode, ein Raumschiff zu beschleunigen: per Sonnensegel. Im luftleeren All tritt das Licht an die Stelle des Windes. Licht besteht aus Photonen, Teilchen, die auf alles ihnen im Weg Liegende Druck ausüben. Der Druck des Sonnenlichts auf die Erde beträgt etwa drei Gramm auf einer Fläche von der Größe eines Fußballfeldes. Doch diese zarte Kraft könnte ein Raumschiff langsam, aber sicher auf ein hohes Tempo beschleunigen – wenn das Segel nur groß genug ist.

Im Jahr 2010 testete die Nasa ein neun Qua- dratmeter großes Lichtsegel („Nanosail D2“). Es trieb einen Minisatelliten mehrere Monate lang in einer niedrigen Umlaufbahn um die Erde. 2014 wollen die Nasa-Techniker ein 1200 Quadratmeter großes Segel starten, das nur 30 Kilogramm wiegt. Bewegliche Ruder an den Ecken werden es der Bodenkontrolle ermöglichen, den „Sunjammer“ ferngesteuert zu manövrieren. Binnen einem Jahr soll die Sonde mehr als drei Millionen Kilometer Richtung Sonne segeln. Für eine Reise an die Grenzen unseres Sonnensystems – nach heutiger Schätzung eine Strecke von 23 Milliarden Kilometern – müsste das Segel einen Durchmesser von 450 Metern haben. Das würde ein Raumschiff nach ein oder zwei Jahren Flug auf eine Geschwindigkeit von mehr als 150000 Kilometer pro Stunde bringen.

Aber Proxima Centauri ist 1500-mal weiter entfernt. Um zu einem anderen Stern zu fliegen, brauchte man ein Segel von der Fläche ganz Westdeutschlands. «Wir wissen noch nicht einmal, wie man so etwas baut», räumt der Nasa- Pionier Les Johnson ein. Und überhaupt: Das Sonnenlicht allein würde nicht ausreichen, um das Segel bis zu einem anderen Stern zu treiben. Dafür wären im All stationierte Laser nötig. «Die müssten soviel Energie abstrahlen, wie derzeit die Menschen insgesamt auf der Erde erzeugen», sagt Johnson. «Damit wäre Proxima Centauri dann wohl in einer Flugzeit von einigen Jahrzehnten erreichbar.» Allerdings nur für eine unbemannte Robotersonde. Und Menschen? Johnson winkt ab. «Darüber nachzudenken, was für eine bemannte Reise nötig wäre», sagt er, «wie groß das Raumschiff sein müsste und wieviel Energie es benötigen würde, das wäre reine Science-Fiction.»

Aber genau hier liegt die Herausforderung für alle Wissenschaften. Es geht vorerst nicht darum, ein Raumschiff zu bauen, sondern eine Gesellschaft zu inspirieren, dass sie ein solches Raumschiff bauen will. So betrachtet scheint das Ziel erreichbar. Es wäre dennoch ein 100-Jahre- Projekt, vielleicht ein 500-Jahre-Projekt. Je nachdem, wie verrückt wir darauf sind.

Johnson selbst sieht sich ziemlich weit unten auf der Skala. «Ich weiß nicht, wie die Welt in 500 Jahren aussieht», sagt er. «Mit Fusionsreaktoren und Solarkollektoren im Weltraum, die Energie zur Erde strahlen, mit Bergbau auf dem Mond und Fabriken in der Erdumlaufbahn wäre die Gesellschaft vielleicht in der Lage, es anzupacken. Zunächst sollten wir aber anstreben, unsere Zivilisation auf das Sonnensystem auszudehnen. Dann können wir über den Aufbruch zu anderen Sternen nachdenken.»

(NG, Heft 1 / 2013, Seite(n) 172 bis 183)

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