Dieses Neandertaler-Kind wuchs genauso wie heutige Menschenkinder

Ein 49.000 Jahre altes Skelett stützt die These, dass eine lange Kindheit – die ein größeres Gehirn ermöglicht – kein rein menschliches Merkmal ist.

Von Michael Greshko
Veröffentlicht am 9. Nov. 2017, 03:42 MEZ
Das bemerkenswerte Skelett eines Neandertaler-Kindes, das in der spanischen Höhle El Sidrón gefunden wurde, liefert Hinweise auf die Frühentwicklung dieses alten menschlichen Verwandten.
Foto von Paleoanthropology Group MNCN-CSIC

Vor etwa 49.000 Jahren starb im heutigen Spanien ein Neandertaler-Junge ein paar Monate vor seinem achten Geburtstag. Wissenschaftler haben sein Skelett nun im Detail untersucht und behaupten, dass sein Wachstum im Großen und Ganzen dem heutiger menschlicher Kinder entsprach.

Die Befunde wurden vergangenen Donnerstag in „Science“ veröffentlicht und liefern weitere Hinweise darauf, dass eine langsame und langfristige Entwicklung – die vermutlich auch zur Entwicklung eines größeren Gehirns beiträgt – nicht unbedingt ein einzigartiges Merkmal des Homo sapiens ist.

„Wir haben gedacht, dass unsere Art zu wachsen sehr spezifisch und sehr charakteristisch für unsere eigene Art ist“, sagt der Studienleiter Antonio Rosas vom Landesmuseum der Naturwissenschaften in Madrid, Spanien. „Wir begreifen jetzt, dass wir dieses Muster des langsamen Wachstums, welches uns dieses große Gehirn ermöglicht, [...] mit verschiedenen Verwandten des Menschen teilen.“

Mehr als 200.000 Jahre lang bereiteten sich die Neandertaler in Europa aus und lebten einst von Großbritannien fast bis zur Grenze der Mongolei. Unsere ausgestorbenen Cousins, die früher stereotyp als wüste Rohlinge dargestellt wurden, waren in Wahrheit wahrscheinlich gedankenvoll, sogar raffiniert.

Sie benutzten Feuer, sie begruben mit großer Wahrscheinlichkeit ihre Toten und sie behandelten sich selbst mit einheimischen Pflanzen und Pilzen. Eine aktuelle Studie fand zudem heraus, dass Neandertaler einen geheimnisvollen Steinkreis in einer französischen Höhle angelegt hatten. Welchem symbolischen Zweck er diente, ist allerdings unbekannt.

Jahrelang debattierte man hitzig darüber, ob die Neandertaler den Menschen auch in ihrer körperlichen Entwicklung glichen. Entwickelten sich ihre Körper eher schnell, wie es bei heutigen Primaten wie Gorillas der Fall ist? Oder schritt die Entwicklung langsam voran – ein Merkmal, das man einst ausschließlich den modernen Menschen zuschrieb.

Ein besonders geeigneter Ort für die Suche nach Antworten ist El Sidrón, ein Höhlensystem im Nordwesten Spaniens. Dort wurden bisher mehr als 2.500 Einzelstücke von Neandertaler-Überresten gefunden, die etwa 49.000 Jahre alt sind. Die sieben Erwachsenen und die sechs Kinder, zu denen die Knochenfragmente gehören, lebten vermutlich in derselben sozialen Gruppe.

DIE GESCHICHTE EINES JUNGEN

Eines der Kinder – vermutlich ein Junge, der die Bezeichnung El Sidrón J1 erhielt –, weist noch ein recht vollständiges Skelett auf und ermöglicht Forschern so einen Blick in sein Leben und seinen Tod.

J1 war vermutlich fast 1,20 Meter groß und wog etwa 26 Kilogramm. Er war Rechtshänder und imitierte wohl die Erwachsenen aus seiner Gruppe: Seine Zähne weisen die gleichen Abnutzungsspuren auf wie die der Erwachsenen von El Sidrón, was darauf schließen lässt, dass auch er sie bei alltäglichen Aufgaben als eine Art „dritte Hand“ benutzt hat.

BELIEBT

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    Der Studienleiter Antonio Rosas steht in der El-Sidrón-Höhle.
    Foto von Joan Costa-CSIC Communication

    Bis auf den leicht angegriffenen Zahnschmelz hatten noch keine Krankheiten ernsthafte Spuren oder Verletzungen an seinem Skelett hinterlassen. Allerdings hat jemand nach dem Tod des Jungen Schnittspuren an seinen Knochen hinterlassen – womöglich ein Hinweis auf Kannibalismus. Die Überreste geben auch das Alter von J1 preis, wodurch Rosas und sein Team Schlüsse über seine körperliche Entwicklung ziehen können.

    Wenn sich die Zähne bilden, bildet sich Schicht um Schicht auch neuer Zahnschmelz. Dessen Linien können die Forscher ebenso wie Baumringe zählen. Nachdem sie einen Backenzahn von J1 untersucht hatten, der noch nicht durchgebrochen war, konnten die Forscher schätzen, dass der Junge zu seinem Todeszeitpunkt etwa 7,7 Jahre alt gewesen ist.

    Das Team verglich J1s Skelett mit Tausenden Skeletten moderner Menschenkinder und stellte fest, dass es dem von Sieben- und Achtjährigen am ähnlichsten war. Kurz gesagt: J1 wuchs auf eine Art, die von der heutiger Kinder nicht zu unterscheiden ist.

    Sein Schädel hingegen unterscheidet sich laut Rosas Team leicht von heutigen Schädeln. Dessen Innenseite zeigt Anzeichen dafür, dass ein wachsendes Gehirn Druck auf den Knochen ausgeübt haben könnte. Zudem hatte das Gehirn etwa 88 Prozent der Größe eines durchschnittlichen ausgewachsenen Neandertaler-Hirns.

    Diese Differenz lässt vermuten, dass das Gehirn des Jungen noch gewachsen wäre, sagen die Forscher. Falls das zutrifft, hätte sich das Gehirn von J1 langsamer entwickelt als das moderner Menschen, deren Gehirne ihre volle Größe vor dem siebten Lebensjahr erreichen.

    EINE VERKOPFTE DEBATTE

    Nicht alle Forscher sind von Rosas Logik jedoch überzeugt. Zum Teil liegt das daran, dass seine Stichprobe nur ein einziges Individuum umfasst.

    Die Paläoanthropologen Marcia Ponce de León und Christoph Zollikofer von der Universität Zürich haben ebenfalls argumentiert, dass Neandertaler eine menschenähnliche Entwicklung durchmachten. Obwohl sie die Studie im Großen und Ganzen loben, sagen sie, dass es keinen statistischen Beweis dafür gibt, dass sich das Gehirn von J1 langsamer als das eines modernen Menschen entwickelt hat.

    Schließlich hatten auch Neandertaler keine identischen Gehirne. Das Gehirn von J1 war für Erwachsene eher klein, aber nicht beispiellos, sagen Ponce de León und Zollikofer. Einige ausgewachsene Neandertaler hatten sogar ein noch kleineres Gehirn als J1, während einige, die jünger als J1 waren, ein größeres Gehirn hatten.

    „Wir kennen zwar das Hirnvolumen von El Sidrón [J1] zum Zeitpunkt seines Todes, aber wissen nichts über das adulte Volumen, das es erreicht haben könnte“, schrieben die Forscher in einer gemeinsamen E-Mail. „Insgesamt liefert die Studie aber überzeugende Beweise für eine langsame Entwicklung der Neandertaler (mindestens so langsam wie die unsrige) und setzt dieser Idee der ‚menschlichen Einzigartigkeit‘ ein Ende!“

    Tanya Smith, eine Expertin für die Zähne der Neandertaler, die an der Harvard Universität und der Griffith Universität arbeitet, hat ebenfalls ihre Zweifel. Laut ihr stützten sich die Schlussfolgerungen der Forscher letztlich auf die Exaktheit des Alters der Zähne. Ihre Datierungsmethoden würden jedoch auf diversen Annahmen basieren. Sie stimmt aber auch mit Zollikofer und Ponce de León überein: Nur, weil das Gehirn von J1 unterdurchschnittlich groß war, bedeutet das nicht automatisch, dass es noch gewachsen wäre.

    „Ich denke, wir wissen mittlerweile genug über die Variation bei der Entwicklung lebender Arten, um keine pauschalen Schlussfolgerungen aus einem einzigen Fossil zu ziehen“, sagt sie.

    Michael Greshko auf Twitter folgen.

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