Fossile Zähne aus deutscher Fundstelle gehörten vermutlich mysteriösem Primaten

Trotz der Behauptungen über eine neue Entstehungsgeschichte der Menschheit gehören die Fossilien wahrscheinlich zu einem sehr entfernten Verwandten.

Von Michael Greshko
Veröffentlicht am 9. Nov. 2017, 03:46 MEZ
Laut Forschern ist dieser Zahn, der kürzlich an einer Fossilfundstelle in Deutschland entdeckt wurde, der linke obere Eckzahn eines alten eurasischen Primaten. (Aus diesem Winkel zeigt die Spitze des Zahns nach außen.)
Foto von Lutz, H., Engel, T, Lischewsky, B. & Berg, A. von

Zwei gut erhaltene Zähne, die in Deutschland entdeckt wurden, liefern interessante Hinweise darauf, wie einige unserer entfernten Primatenverwandten im heutigen Nordeuropa einst ihr Leben lebten. Aber schreiben diese Zähne wirklich die Geschichte der Menschheit neu, wie es viele Nachrichtenportale behaupten? In einem Wort: nein.

Die dramatisch präsentierte Entdeckung kommt in Form von zwei karamellfarbenen, versteinerten Zähnen daher, die einem Primaten gehörten, der vor neun bis zehn Millionen Jahren lebte. Einer der Zähne ist ein Eckzahn, der andere ein oberer Backenzahn.

Die Wissenschaftler gruben die Zähne im September 2016 in Eppelsheim aus, einer prähistorischen Fundstelle in der Nähe von Frankfurt, die berühmt für ihre Primatenfossilfunde ist. Ein versteinerter Oberschenkelknochen, der in 1820ern in Eppelsheim gefunden wurde, half dabei, die wissenschaftlichen Felder der Paläontologie und Paläoanthropologie anzukurbeln. Leider gingen viele der Fossilien während des Zweiten Weltkriegs verloren, und seither wurden dort nur wenige neue Entdeckungen gemacht.

Sind dies die ältesten Fossilien moderner Menschen, die je gefunden wurden?

Die zwei Zähne, die letzte Woche beschrieben wurden, sind laut den Forschern die ersten neuen Fossilien ihrer Art aus Eppelsheim seit 80 Jahren.

Der Studienleiter Herbert Lutz, der stellvertretende Museumsleiter des Naturhistorischen Museums Mainz, sagte, dass er und seine Kollegen das letzte Jahr über völlig verblüfft von den Zähnen waren. In ihrer Abhandlung, die sie am Freitag auf der Plattform ResearchGate veröffentlicht haben, schreiben sie, dass die Zähne eine große Ähnlichkeit mit denen einiger ausgestorbener afrikanischer Verwandten des modernen Menschen haben.

Im Speziellen der seltsam gedrungene Eckzahn ähnele dem der ausgestorbenen menschlichen Verwandten Ardipithecus ramidus und Australopithecus afarensis – der Art, die durch das Fossil Lucy besondere Bekanntheit erlangte.

Laut Lutz sind die Zähne ein einzigartiger Fund in ganz Eurasien, aber was ihre generelle Bedeutung angeht, gibt er sich vorsichtig.

„Wir wollen noch nicht spekulieren. Die Funde zeigen definitiv, dass die Lücken in unserem Wissen und dem Fossilbericht deutlich größer sind, als wir bisher dachten“, sagte er in einem Interview mit ResearchGate. „Es ist völlig unbekannt, woher dieses Individuum kam und warum bisher niemand zuvor so einen Zahn gefunden hat.“

Womöglich waren der eurasische Primat, dem die Zähne gehörten, und sein entfernter afrikanischer Verwandter einem ähnlichen Selektionsdruck ausgesetzt, trotz ihrer räumlichen Trennung. Dies könnte unabhängig voneinander zu ähnlichen Zahnformen geführt haben – ein weit verbreitetes Phänomen in der Evolution, das man als Konvergenz bezeichnet.

VIEL LÄRM UM NICHTS?

Basierend auf der Veröffentlichung von Lutz‘ Team sind andere Experten allerdings der Meinung, dass die Zähne „uns wohl kaum dazu nötigen, die Theorie des menschlichen Ursprungs in Afrika neu zu überprüfen“, wie im Interview von ResearchGate versichert wird.

Zum einen müssten wir vorsichtig sein, moderne Menschen nicht mit den Hominini zu verwechseln, dem Tribus in der Familie der Menschenaffen, dem Menschen und unsere nächsten ausgestorbenen Verwandten angehören. Selbiges gilt für die Überfamilie der Hominoidea (Menschenartige), zu der die Hominini sowie Gorillas, Schimpansen und andere Primaten gehören.

BELIEBT

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    Eine überwältigende Vielzahl an fossilen und genetischen Belegen deutet auf den afrikanischen Ursprung des modernen Menschen hin, der Afrika vor nicht mehr als 120.000 Jahren verließ, am wahrscheinlichsten aber vor 50.000 bis 80.000 Jahren. Die Zähne aus Eppelsheim sind etwa hundertmal älter. Wenn sie überhaupt etwas über die menschliche Evolution aussagen, dann können sie verdeutlichen, wo und wie die frühsten Hominoidea lebten und sich entwickelten.

    Aber einige Experten auf diesem Gebiet stellen infrage, ob die Zähne tatsächlich zu einem Vertreter der Hominoidea gehören.

    Der Eckzahn, der in der Abhandlung beschrieben wird, hat eine ungewöhnliche und spannende Form, so Bence Viola. Der Paläoanthropologe der Universität von Toronto ist ein Experte für die Zähne ausgestorbener menschlicher Verwandter. Der Backenzahn jedoch – der ihm zufolge wichtiger für den Zweck der Klassifizierung sei – widerspreche jedem Plädoyer für eine Verbindung zum Menschen.

    „Ich glaube, das ist viel Lärm um nichts“, schrieb er in einer E-Mail. „Der zweite Zahn (der Backenzahn), der ihnen zufolge eindeutig von demselben Individuum stammt, ist definitiv kein Zahn eines Hominini-Vertreters, [und] ich würde sagen, er gehört auch keinem Mitglied der Hominoidea.“

    Stattdessen waren sich die meisten Experten, die wir kontaktierten, darin einig, dass der Backzahn wahrscheinlich zu einer Art der Pliopithecoidea gehörte. Dabei handelt es sich um eine ausgestorbene Überfamilie von Primaten, die vor etwa sieben bis 17 Millionen Jahren in Europa und Asien lebte.

    Pliopithecoidea sind sehr entfernte Verwandte des Menschen. Einige Paläontologen argumentieren, dass sich diese Gruppe von dem gemeinsamen Vorfahren der Altweltaffen und der Menschenartigen (Hominoidea) abspaltete, noch bevor sich die beiden genannten Zweige herausbildeten. Mit anderen Worten: Es ist wahrscheinlich, dass moderne Menschen enger mit Pavianen verwandt sind als mit der Art, zu der die Zähne gehören.

    Und wie Lutz und sein Team in ihrer Abhandlung zugeben, weist der Backenzahn eine große Ähnlichkeit zu dem der Art Anapithecus auf, die zu den Pliopithecoidea zählt. Laut dem Paläoanthropologen David Begun von der Universität von Toronto ist diese Art durch einen Kieferknochen bekannt, der in Ungarn ausgegraben wurde.

    „Der Backenzahn ist wichtig, weil er die Anschauung diverse Forscher bestätigt, dass der Oberschenkelknochen aus Eppelsheim aus den 1820ern höchstwahrscheinlich zu einem Pliopithecoidea-Vertreter gehört und nicht zu einem Menschenartigen“, so Begun.

    Der Anthropologe der George Washington Universität Sergio Almécija, der ebenfalls Pliopithecoidea untersucht, stimmt dem zu. Was den Eckzahn angeht, der eine vermeintliche Ähnlichkeit zu den Zähnen anderer Hominini aufweist, reichen die Meinungen der Experten von Interesse bis zu Ablehnung. Begun hat sogar Zweifel daran, dass es sich um einen Eckzahn handelt.

    „Dieser ‚Eckzahn‘ sieht mir eher wie ein Stück eines Wiederkäuerzahns aus“, schrieb er in einer E-Mail.  „Er hat so eine eigentümliche Bruchstelle, die ihn wie einen Eckzahn aussehen lässt, aber er ist definitiv kein Eckzahn und er stammt auch nicht von einem Primaten.“

    Lutz weist darauf hin, dass er und seine Kollegen gerade erst mit ihrer Analyse beginnen, die auch hochauflösende Röntgenscans und eine Untersuchung der Abnutzungsspuren beinhalten wird. Damit könnten die Wissenschaftler Rückschlüsse auf die Ernährungsgewohnheiten des Primaten ziehen.

    „In ein oder zwei Jahren wissen wir hoffentlich viel mehr darüber, was wir da haben“, sagte Lutz gegenüber ResearchGate. „Es ist definitiv eine fantastische und spannende Geschichte.“

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