Ältester Lederschuh der Welt ist überraschend modern

Der Schuh wurde aus einem einzigen Stück Rindsleder gefertigt – eine Technik, die noch heute für edles Schuhwerk verwendet wird.

Von Kate Ravilious
Veröffentlicht am 15. Jan. 2020, 16:39 MEZ
Der älteste Lederschuh der Welt
Der älteste bekannte Lederschuh der Welt wurde bei archäologischen Grabungen in einer Höhle in Armenien gefunden.
Foto von Gregory Areshian

Er ist der älteste bekannte Lederschuh der Welt. Und laut einem der bekanntesten Schuhdesigner der Welt ist er überraschend au courant. „Das ist unglaublich“, schrieb Manolo Blahnik in einer E-Mail an National Geographic, „wie sehr dieser Schuh einem modernen Schuh ähnelt!“

Der 5.500 Jahre alte, mokassinartige Schuh wurde 2010 bei einer Ausgrabung in einer armenischen Höhle gefunden. Dank einer großen Menge an Schafdung blieb er ungewöhnlich gut erhalten. In seinem Inneren befand sich getrocknetes Gras, das womöglich der Wärmedämmung diente oder als eine Art Vorläufer des Schuhspanners fungierte.

Er entspricht ungefähr einer heutigen Schuhgröße 37 und wurde vermutlich für den rechten Fuß des Trägers gefertigt. Ob das ein Mann oder eine Frau war, bleibt Spekulationen überlassen, denn so viel ist über die armenischen Füße jener Zeit nicht bekannt.

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Schusterhandwerk damals und heute

Der Schuh wurde aus einem einzigen Stück Rindsleder gefertigt – eine Technik, mit der heutzutage hochpreisige Schuhe unter dem Begriff Wholecut hergestellt werden – und wird mit einer Lederschnur entlang der vorderen und hinteren Ränder geschlossen.

„Das Leder wurde in zwei Lagen geschnitten und gegerbt, was damals vermutlich eine recht neue Technik war“, erklärt Ron Pinhasi, einer der Leiter der Ausgrabung vom University College Cork in Irland.

Die Schuhmacherin Yvette Worrall von der Conker Handmade Shoe-Company in Großbritannien erklärt, wie das Kleidungsstück ihrer Meinung nach vermutlich hergestellt wurde: „Ich würde sagen, dass das Leder zuerst nass gemacht und geschnitten wurde. Dann wurde es an den Fuß angepasst, der als Modellierform diente, um den Schuh direkt daran zuzunähen.“

Das Ergebnis sieht überraschend vertraut aus für so ein altes Artefakt. „Mir fiel sofort auf, wie sehr das einem traditionellen Schuhwerk vom Balkan ähnelt, das man Opanke nennt. Das wird heute auch noch bei Feierlichkeiten zu regionalen Trachten getragen“, erzählt Elizabeth Semmelhack, die Kuratorin des Bata Shoe Museum in Toronto, Kanada. „Ich dachte: Wow, so viel hat sich gar nicht verändert.“

BELIEBT

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    Mit der Radiokarbonmethode wurde der prähistorische Schuh auf etwa 3500 v. Chr. datiert und stammt damit aus Armeniens Kupferzeit. Er ist im Bereich der Ferse und der Zehen verdichtet – wahrscheinlich aufgrund der zahlreichen Kilometer, die der Träger darin zurückgelegt hat. Abgetragen ist er aber keineswegs.

    So altes Schuhwerk finden Archäologen äußerst selten, weil Leder- und Pflanzenteile für gewöhnlich sehr schnell verrotten.

    In diesem Fall wurde der Inhalt einer Grube in einer Höhle durch mehrere Schichten Schafdung versiegelt. Die Exkremente hatten sich dort angesammelt, nachdem die kupferzeitlichen Bewohner die Höhle verlassen hatten.

    „Durch die Bedingungen in der Höhle blieben die Artefakte kühl und trocken, während sie durch den Dung in der Grube quasi einbetoniert wurden“, erklärte Pinhasi, der Hauptautor der Studie zu den Funden, die in „PLOS ONE“ erschien.

    Warum tragen Menschen Schuhe?

    Der Schutz der Füße war wahrscheinlich einer der Hauptgründe dafür, warum Menschen begannen, Schuhe zu tragen. Im Falle des ältesten erhaltenen Lederschuhs der Welt schien das ebenfalls zuzutreffen.

    Das Terrain rund um die armenische Höhle „ist ziemlich schroff und es gibt viele scharfkantige Steine und Dornenbüsche“, sagte Gregory Areshian. Der Archäologe der University of California ist der Co-Autor der Studie und wurde von National Geographic gefördert.

    Solche Schuhe hätten den Menschen außerdem dabei geholfen, mit den Temperaturextremen in der Region fertig zu werden: Im Sommer wird es dort bis zu 45 °C heiß und im Winter fallen die Temperaturen unter den Gefrierpunkt.

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    Und natürlich lässt es sich mit geschützten Füßen auch weiter reisen. „Diese Menschen haben große Entfernungen zurückgelegt. Wir haben in der Höhle Obsidian gefunden, das aus einer Entfernung von mindestens 120 Kilometern stammt“, sagte Areshian.

    Blahnik kann sich gut vorstellen, dass das schlichte Design nicht nur aus praktischen Gründen getragen wurde.

    „Offensichtlich erfüllte der Schuh den Zweck, den Fuß zu schützen. Aber ich habe keinen Zweifel daran, dass das spezifische Aussehen auch anzeigte, dass man zu einem bestimmten Stamm gehört“, sagte Blahnik, der mit der Thematik von Identität und deren Ausdruck über Kleidung durchaus vertraut ist.

    Schuhwerk mit langer Geschichte

    Vor diesem Fund waren die ältesten bekannten Schuhe, die vorn geschlossen sind, die komplexen Treter von Ötzi, der vor etwa 5.300 Jahren starb.

    Sandalen haben eine deutlich längere Geschichte. Die ältesten Exemplare sind über 7.000 Jahre alt und wurden in der Arnold Research Cave im US-Bundesstaat Missouri entdeckt.

    Dabei ist aber fast sicher, dass Menschen Schuhe schon deutlich eher getragen haben. Forscher stellten beispielsweise an einem 40.000 Jahre alten menschlichen Fossil eine Knochenschwächung in den kleinen Zehen fest – ein Umstand, der als Beleg für das Tragen von Schuhen herangezogen wurde.

    Im Vergleich zu Ötzis Schuhen ist der bislang älteste Lederschuh der Welt ein ziemlich rudimentäres Kleidungsstück, sagt Jacqui Wood. Der unabhängige Archäologe aus Großbritannien untersuchte Ötzis Schuhwerk.

    „Die Schuhe des Mannes aus dem Eis sind eine ganz andere Liga“, so Wood. „Die Sohlen bestehen aus Braunbärenhaut, die Seitenteile aus Hirschleder. Im Inneren befindet sich ein Geflecht aus Baumrinde, das eng um den Fuß geschlossen wird. Im Gegensatz dazu ist der armenische Schuh sehr simpel und wurde vermutlich auf der ganzen Welt so hergestellt, seit Menschen Schuhe tragen.“

    Tatsächlich wurden ähnliche Schuhe schon an anderen Orten und aus anderen Epochen gefunden. Die Co-Autoren der Studie, Pinhasi und Areshian, halten es aber für plausibel, dass dieser spezielle Stil aus Armenien stammt.

    „Viele andere Erfindungen wie Töpferscheiben, Keilschrift und Wollproduktion stammen aus dem Alten Orient“, so Pinhasi. „Aus Armenien stammt also vielleicht der älteste Hinweis auf einen ‚Schuhprototypen‘, der sich später auch in Europa verbreitete.“

    Die auf Schuhe spezialisierte Historikerin Rebecca Shawcross von den Northampton Museums & Art Gallery in Großbritannien sieht das ähnlich: „Man kann durchaus argumentieren, dass dieses Schuhdesign ein Vorläufer der nordamerikanischen Mokassins ist, die vom Stil her auch heute noch sehr beliebt sind. Das zeigt sich in ihrem Einfluss auf heutige Schuhe: Bootsschuhe, weiche Slippers und so weiter.

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

     

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