Wir sind schön! Wie soziale Medien unsere Ästhetik verändern

Der Schönheitsbegriff hat sich drastisch gewandelt. Die Macht sozialer Medien und die Globalisierung der Modeindustrie schaffen eine Kultur, in der jede Frau schön sein kann.

Von Robin Givhan
Veröffentlicht am 21. Feb. 2020, 10:38 MEZ
Puppen Diversity
Schönheit war schon immer das Maß für den gesellschaftlichen Wert der Frau. Endlich befindet sich unser Verständnis von Schönheit im Wandel. Auf den Wunsch nach Diversität hat auch die Puppen-Industrie reagiert.
Foto von Hannah Reyes Morales

Auf dem Cover der US-Ausgabe der Zeitschrift Elle stand im November 1997 das sudanesische Model Alek Wek. Sie war damals alles andere als ein herkömmliches Covergirl. Mehr als 20 Jahre später hat sich unser Verständnis von Schönheit gewandelt.

Im Jahr 1997 war solch ein Anblick für die Augen der Leserinnen von Modezeitschriften mehr als ungewöhnlich: Auf dem Cover der US-Ausgabe der Zeitschrift Elle stand im November 1997 das sudanesische Model Alek Wek.
Foto von Elle USA

Was ist schön?

Schönheit ist ein Sammelbecken geworden, ein kultureller Raum, in dem jede willkommen ist, in dem alle schön sind. Wir sind offener geworden, weil die Menschen es gefordert, dafür protestiert und den Druck der sozialen Medien genutzt haben, um die Gralshüter der Schönheit dazu zu bringen, ihre Tore ein Stück weiter zu öffnen. Wek stand für eine neue Vision von Schönheit,  dieser ewig weiblichen Tugend. Schönheit war schon immer das Maß für den gesellschaftlichen Wert der Frau. Sie ist ein Instrument, mit dem man manipulieren kann. Dabei ist Schönheit natürlich kulturell unterschiedlich. Schönheit ist persönlich. Und zugleich universell. Und es gibt internationale Schönheiten – das sind diejenigen, die den Standard vorgeben.  Über Generationen bedeutete Schönheit eine schlanke Statur mit großem Busen und schmaler Taille. Die Kieferpartie sollte markant sein, die Wangenknochen hoch und ausgeprägt, die Nase gerade. Die Lippen voll, aber nicht übermäßig. Die Augen im Idealfall blau oder grün, groß und glänzend. Das Haar lang, dick, wallend und am liebsten golden. Symmetrie war erwünscht. Und Jugendlichkeit, klar.

Alte Schönheitsideale

Das war der Standard seit den frühen Tagen der Frauenmagazine, als Schönheit kodifiziert und kommerzialisiert wurde. Die sogenannten klassischen Schönheiten,  Frauen wie Catherine Deneuve oder Grace Kelly, kamen dem Ideal am nächsten. Je mehr eine Frau von dieser Version der Perfektion abwich, desto exotischer war sie. Wich sie zu sehr ab, galt sie als weniger attraktiv, begehrenswert oder wertvoll. Und für manche Frauen, schwarze oder braune, dicke oder alte, war die öffentliche Kategorie Schönheit überhaupt nicht vorgesehen. Anfang der Neunzigerjahre lockerten sich die Verhältnisse dank Kate Moss mit ihrer zierlichen Figur und ihrer vage an einen Straßenjungen erinnernden Ästhetik. Mit einer Körpergröße von 1,70 Meter war sie ziemlich klein für ein Mannequin. Sie war nicht besonders grazil und ihr fehlte die noble Haltung, die vielen anderen Models etwas Majestätisches verlieh. Moss war ein Aufreger. Und doch bewegte sich die Britin weiterhin sicher in der Komfortzone der Branche, die Schönheit als weiß und europäisch definierte. Ebenso verhielt es sich mit den Youthquake-Models der Sechzigerjahre wie Twiggy mit ihrer schlaksigen, kurvenlosen Figur eines zwölfjährigen Jungen. In den Siebzigerjahre wurde Lauren Hutton bekannt, die einen Skandal verursachte, weil zwischen ihren Schneidezähnen eine Lücke war. Selbst die ersten schwarzen Models waren noch auf der sicheren Seite: Frauen wie Beverly Johnson, das erste afroamerikanische Model auf dem Cover der US-Vogue, die in Somalia geborene Iman, Naomi Campbell und Tyra Banks. Ihre Gesichtszüge waren wie gemeißelt und sie trugen wallendes Haar, Perücken oder Haarverlängerungen

Schönheitsideale im Wandel

Alek Wek war eine Offenbraung. Ihre Schönheit war etwas völlig anderes. Das feine Kraushaar schmiegte sich dicht an ihren Kopf. Ihre Nase war breit, die Lippen voll, ihre Beine unendlich lang und unglaublich schlank. Ihr ganzer Körper war von der gestreckten Sehnigkeit einer zum Leben erwachten afrikanischen Holzstatue. Nach den Schönheitsmaßstäben westlicher Kultur wirkte Wek zunächst verstörend. Schwarze Betrachter machten keine Ausnahme. Viele fanden sie nicht schön. Alles an ihr war das Gegenteil dessen, was vorher gegolten hatte.

BELIEBT

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    Im Salon und Kollektiv Coletivo Cabeças in São Paulo lässt sich eine junge Frau stylen. Angepasste Frisuren gibt es hier nicht. Der alternative Salon will seinen Kundinnen Akzeptanz und Wertschätzung vermitteln. Er soll ein Ort sein, an dem die Brasilianerinnen ihre Gefühle frei ausdrücken.
    Foto von Hannah Reyes Morales

    Utopie von bedeutungsloser Schönheit

    Heute hat sich die Lage gebessert, aber Utopia ist noch lange nicht erreicht. Viele der vornehmsten Bereiche der Schönheit bieten für fülligere Frauen, Frauen mit Behinderungen oder Seniorinnen immer noch keinen Platz. Aber ehrlich gesagt: Ich weiß gar nicht, wie genau diese Utopie aussehen sollte. Ist es eine Welt, in der jede die Tiara und die Schärpe einer Schönheitskönigin bekommt, nur fürs Dabeisein? Oder eine, in der das Verständnis von Schönheit derart erweitert wird, dass sie bedeutungslos wird? Vielleicht besteht ja der Weg zur Utopie darin, die Definition des Wortes selbst neu zu fassen, damit sie besser widerspiegelt, was wir jetzt darunter verstehen – etwas mehr nämlich als ein rein ästhetisches Vergnügen.

    Werbetafeln am Times Square in New York bombardieren die Passanten mit ästhetischen (Vor-)Bildern. In der oberen Reihe ist eine Kampagne von Dove zu sehen, unten Sängerin Rihanna, die Werbung für ihre Kosmetiklinie macht. Die Werbung zeigt, wie die Schönheitsindustrie diverse Zielgruppen anspricht, um Marktanteile zu gewinnen.
    Foto von Hannah Reyes Morales

    Der Wert der Schönheit

    Wir wissen, dass Schönheit einen finanziellen Wert hat. Wir wollen uns mit schönen Menschen umgeben, weil sie das Auge erfreuen – aber auch, weil wir glauben, dass sie an sich bessere Menschen sind. Es heißt, dass attraktive Menschen besser verdienen. Tatsächlich ist es etwas komplizierter. Das Rezept für höheres Einkommen ist nämlich eine Kombination aus Schönheit, Intelligenz, Charme und Kollegialität. Dennoch, Schönheit ist fester Bestandteil der Formel. Aber es gibt eine tiefere, emotionale Ebene der Schönheit. Als attraktiv wahrgenommen zu werden, bedeutet, im kulturellen Diskurs vorzukommen. Man ist Teil der Zielgruppe für Werbung und Vermarktung. Man ist begehrt. Man wird gesehen und akzeptiert. Inzwischen setzen wir Schönheit mit Menschlichkeit gleich. Sehen wir die Schönheit in einem Menschen nicht, sind wir für dessen Menschlichkeit blind.

    Modemagazine setzen Schönheitsstandarts für Frauen, oft kulturübergreifend. Zugleich sind sie eine gigantische Werbefläche für alle Branchen, deren Erfolg davon abhängt, dass Konsumentinnen diese Schönheitsideale akzeptieren.
    Foto von Vogue UK

    Facetten des Ideals

    Früher gab es Abstufungen für die Beschreibung des weiblichen Idealbilds: hausbacken, auf unkonventionelle Weise schön, attraktiv, hübsch und schließlich unwiderstehlich schön. Eine hausbackene Frau machte das Beste daraus. Sie war es gewöhnt, dass nicht ihr Aussehen ihr hervorstechendes Merkmal war. Dafür war sie die mit der tollen Ausstrahlung. Markante Frauen hatten ein bestimmtes Merkmal, durch das sie sich abhoben: ein üppiger Mund, eine aristokratische Nase, ein herrliches Dekolleté. Auf diese Weise konnte man viele Frauen als attraktiv bezeichnen. Sie waren das statistische Mittel. Hübsch war noch eine Stufe höher. Hollywood ist voll mit hübschen Menschen. Ach, aber Schönheit! Sie war den Sonderfällen vorbehalten, den Gewinnern der Gen-Lotterie. Schönheit konnte sogar eine Last sein, weil sie den Leuten auffiel, sie einschüchterte. Schönheit war außergewöhnlich. Aber die Fortschritte der plastischen Chirurgie, bewusste Ernährung, der Boom der Fitness-Branche und das Aufkommen von Selfie-Filtern auf Smartphones haben neben Botox, Hautfillern und der Erfindung figurformender Unterwäsche dazu beigetragen, dass wir besser aussehen – und dem außergewöhnlich guten Aussehen ein bisschen näher rücken.

    In São Paulo nehmen Flávia Carvalho und Júlia Maria Vecchi an einer Party teil, die Diversität und Vielfalt feiert. Die „Body Positivity”-Bewegung in Brasilien ruft über die sozialen Netzwerke Menschen dazu auf, „frei in ihrem Körper zu leben”, so Carvalho.
    Foto von Hannah Reyes Morales

    Neue Körperpositivität

    Therapeutinnen, Bloggerinnen, Influencerinnen, Stylistinnen und wohlgesinnte Freundinnen stimmen ein in den Mantra-Chor der Körperpositivität: Hey, super! Du rockst! Läuft! Ihre Aufgabe ist es nicht, uns knallhart die Wahrheit zu sagen, damit wir unsere Eigenwahrnehmung schärfen und an uns arbeiten. Sie sollen uns ständig darin bestärken, dass wir genau richtig sind, so wie wir sind. Und die Globalisierung von, tja, allem bedeutet, dass es da draußen irgendwo ein Publikum gibt, das einen in großartiger … was auch immer … zu schätzen weiß.

    Das Model Halima Aden wurde als Kind somalischer Migranten in Kenia geboren. In den USA wurde sie bei einer Misswahl die erste Kandidatin in Kopftuch und Burkini. Bahnbrechend waren Aufnahmen von ihr in Hijab auf dem Cover der britischen Vogue und in der Bikini-Ausgabe von Sports Illustrated. Das Foto zeigt sie beim Make-Up auf der Istanbul Modest Fashion Week.
    Foto von Hannah Reyes Morales

    Revolution im Mainstream

    In den traditionellen Modehauptstädten der Welt, haben sich die Schönheitsstandards in den letzten zehn Jahren drastischer geändert als in den hundert Jahren davor. Historisch gesehen gab es Veränderungen immer nur in kleinen Schritten. Der Wandel in der Ästhetik verlief langsam und nicht linear, obwohl Mode eine Schwester der Rebellion ist. Revolutionen dagegen ließen sich in Zentimetern messen.  Die Durchschnittskleidergröße der Mannequins schrumpfte, entsprechend jeweiligem Designer-Ideal, von 36 auf 30; auf dem Laufsteg dominierten die blassen Blondinen aus Osteuropa, bis sie von den sonnengebräunten Blondinen aus Brasilien abgelöst wurden. Dann zeigte Miucca Prada, deren Catwalk voller fast einheitlich blasser, weißer, dünner Models richtungsweisend gewesen ist, plötzlich Models mit Sanduhrfigur. Das Übergrößen-Model Ashley Graham schaffte es 2016 auf das Cover der Bikini-Ausgabe von Sports Illustrated. 2019 war Halima Aden im selben Magazin das erste Model mit Kopftuch. Und plötzlich redete alle Welt von bedeckender Mode und Schönheit und fülligeren Figuren. Der Fortschritt ist atemberaubend. In den letzten zehn Jahren ist die Schönheit in Gebiete eingedrungen, die zuvor als Nischen galten. Nichtbinär und Transgender gehören jetzt zum Mainstream des Schönheitsnarrativs. So wie die Rechte von LGBTQs (Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgendern und queeren Personen) gesetzlich festgeschrieben worden sind, ist auch die ihnen eigene Ästhetik Teil des Schönheitsdialogs geworden. Transgender-Models erobern Laufstege und Werbekampagnen. Auf dem roten Teppich werden sie für ihren Glamour und guten Geschmack bewundert, aber auch für ihre Körper, die heute als erstrebenswert gelten.

    Adisa Steele posiert in Los Angeles beim Fotoshooting einer Agentur für Transgender-Models. 2019 war ein Rekordjahr: 91 Transgender-Models, so viele wie nie, wurden weltweit auf den Laufstegen gezählt. Firmen wie die Kosmetikmarke CoverGirl, die häufiger Transgender-Models engagieren, erhöhen deren Sichtbarkeit.
    Foto von Hannah Reyes Morales

    Soziale Medien als Katalysator

    Der Katalysator für die veränderte Sicht auf die Schönheit war das Zusammenspiel digitaler Technologie, Ökonomie sowie einer Konsumentengeneration mit ausgeprägtem ästhetischen Bewusstsein. Technologie bedeutet hier: die sozialen Medien generell und Instagram im Besonderen. Der entscheidende Wirtschaftsfaktor ist der unerbittliche Kampf um Marktanteile und das Bedürfnis der Unternehmen, ihr Publikum für Produkte – von Designerkleidern bis hin zu Lippenstiften – zu erweitern. Und wie eigentlich immer heutzutage sind die Millennials die Zielgruppe neben den Babyboomern, die mit Waschbrettbauch abtreten wollen. Die sozialen Medien haben das Verhältnis jüngerer Verbraucher zur Mode verändert. Früher waren Modenschauen etwas für Insider. Sie waren nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, und ihr Publikum sprach denselben Jargon. Allen war klar, dass die Ideen vom Laufsteg nicht wörtlich zu nehmen waren; sie scherten sich nicht um kulturelle Aneignung, Rassenstereotype und alle möglichen Ismen – oder sie waren bereit, darüber hinwegzusehen. Die Mächtigen im Modegeschäft führten die Traditionen der Mächtigen vor ihnen fort. Sie bedienten sich bei ihren Fotoshootings unbesorgt schwarzer und brauner Menschen als Teil einer exotischen Kulisse, mit den weißen  Models als Stars. Aber eine immer vielfältigere Schicht wohlhabender Verbraucher, ein umfassenderes Einzelhandelsnetz und eine neue Medienlandschaft zwingen die Modebranche zu mehr Verantwortlichkeit. Bekleidungs- und Kosmetikmarken achten jetzt darauf, der wachsenden Zahl von Luxuskonsumenten in Ländern wie Indien und China gerecht zu werden, indem sie auf asiatische Models setzen.

    Im Auge der Selbtsbetrachterin: Moderne Technik hat die Deutungshoheit über Schönheit individualisiert. Mobiltelefone geben ihren Besitzern mehr Kontrolle über das eigene Image. Mit den Filtern von Handy-Apps lassen sich Fotos und Videos bearbeiten. Auf der Modest Fashion Week in Istanbul treffen sich Modebloggerinnen zu einer Bootsfahrt.
    Foto von Hannah Reyes Morales

    Die neuen Mächtigen: Influencerinnen

    Die sozialen Medien haben die Stimmen von Minderheitengruppen verstärkt, sodass ihre Forderungen nach mehr Sichtbarkeit nicht mehr so leicht ignoriert werden können. Und die Zunahme digitaler Publikationen und Blogs bedeutet, dass jedes Marktsegment die Sprache der Ästhetik besser beherrscht. Jetzt gibt es eine ganz neue Kategorie von Mächtigen: die Influencerinnen. Sie sind jung, unabhängig und vom Glamour der Mode fasziniert. Ausreden, Herablassung und gönnerhafte Appelle an die Geduld, denn, ja, bald werde alles anders, lassen sie nicht gelten. Als die Adipositasraten noch niedriger waren, galten dünne Models für die Allgemeinheit nur als leichte Zuspitzung. Aber mit dem Anstieg der Fettleibigkeit wuchs der Abstand zwischen Realität und Fantasie. Die Leute hatten genug von einem Ideal, das nicht einmal im Entferntesten erreichbar schien. Dicke Bloggerinnen beschwerten sich bei den Kritikern: Sie sollten aufhören, ihnen zu sagen, dass sie abnehmen müssten, und ihnen Tipps zu geben, wie sie ihren Körper kaschieren könnten. Eigentlich seien sie ganz und gar zufrieden mit ihrem Körper, schönen Dank auch. Sie wollten einfach nur bessere Kleidung. Mode in ihrer Größe statt längerer Röcke oder Etuikleider mit angesetzten Ärmeln. Sie verlangten nicht einmal, dass man sie als schön bezeichnete. Sie wollten einfach nur Kleidung mit Stil, weil sie fanden, dass sie das verdienten. Schönheit und Selbstwertgefühl waren somit untrennbar verbunden. 

    In ihrem Haus in New Jersey flicht Ami McClure ihrer Tochter Alexis (in Rosa) die Haare, während Zwillingsschwester Ava ihre Puppe kämmt. Die beiden jungen YouTube-Stars sprechen in ihren Videos über ihr natürlich krauses Haar und sind damit prominente Vorbilder der Natural Hair-Bewegung. Auf Instagram haben die McClure-Zwillinge fast zwei Millionen Follower.
    Foto von Hannah Reyes Morales

    Wirtschaftliche Interessen hinter dem Wandel

    Vollschlanken Frauen mehr Stil zu ermöglichen, war auch wirtschaftlich sinnvoll. Durch ihr Beharren auf traditionellen Schönheitsstandards hatte sich die Modebranche Umsätze entgehen lassen. Der Sinneswandel kommt nicht nur daher, dass die Hersteller mehr Kleider verkaufen wollen. Ginge es nur um die ökonomische Seite, hätten die Designer längst größere Größen angeboten, denn es gab schon immer rundliche Frauen, die sich Mode leisten konnten und wollten. Aber voluminös galt einfach nicht als schön. Die Einstellungen ändern sich.

    Medien als Überwacher

    Doch noch kann sich die Modewelt mit fülligen Frauen nicht recht anfreunden, egal wie reich, wie berühmt oder wie hübsch ihr Gesicht sein mag. Diesen Frauen ikonischen Status zu verleihen, fällt den Richtern der Schönheit schwer. Es ist eine psychologische Hürde. Sie brauchen Schönheiten von Eleganz und Anmut. Lange Linien und scharfe Kanten. Frauen, die in die Mustergrößen hineinpassen. Aber sie wirken nicht mehr im Vakuum, sondern in einer neuen Medienlandschaft. Normale Menschen nehmen sehr wohl zur Kenntnis, ob die Designer viefältige Models beschäftigen; wenn nicht, dann äußern Kritiker ihren Zorn in den sozialen Medien. Durch die digitalen Medien dringen Geschichten über ausgemergelte und magersüchtige Models schneller an die breite Öffentlichkeit. Die kann heute die Modebranche unter Druck setzen und dazu bewegen, solch spindeldürre Frauen nicht mehr zu beschäftigen. Die Website Fashion Spot ist mit regelmäßigen Laufstegberichten zu einer Art Wächter der Vielfalt geworden. Wie viele Models mit dunkler Hautfarbe? Mit Übergröße? Transgender? Wie viele ältere Models? Auch alt mit unattraktiv gleichzusetzen, ist unhaltbar geworden.

    Mit 64 Jahren gab die US-Amerikanerin JoAni Johnson ihr Debüt auf der New York Fashion Week. Für Marken wie Fenty, Eileen Fisher und Tommy Hilfiger war sie auch in Zeitschriftenanzeigen zu sehen, bisher die Domäne junger Models. Hier posiert Johnson in New York City für ein Porträt.
    Foto von Hannah Reyes Morales

    Definition von Schönheit

    Die idealisierte Schönheit braucht eine neue Definition. Wer wird sie formulieren? Und wie wird sie lauten?  Im Westen teilen traditionelle Medien ihren Einfluss heute mit digitalen und sozialen Plattformen und einer neuen Generation von Autoren, die in einer bunteren Welt herangewachsen ist – einer Welt mit fließenderem Verständnis von Gender und Geschlecht. Die Generation der Millennials, der zwischen 1981 und 1996 Geborenen, hat keine große Lust, sich in die dominante Kultur einzufügen, sondern will sich stolz davon absetzen. Die neue Definition der Schönheit liefert die Selfie-Generation: Menschen, die die Coverstars in ihrem eigenen Narrativ sind. Diese Schönheit definiert sich nicht über Frisuren, über Figur, Alter oder Hautfarbe. Schönheit hat immer weniger mit Ästhetik zu tun, sondern mit Selbsterkenntnis, Auftreten und Individualität. Schönheit bedeutet straffe Arme und falsche Wimpern und eine faltenlose Stirn. Aber sie bedeutet auch: ein runder Bauch, silbrig glänzendes Haar und ganz banale Makel.

    Die neue Normalität

    Das New Yorker Modekollektiv Vaquera setzt als eines von vielen Labels auf Straßen-Casting. Im Wesentlichen bedeutet das, dass man Leute vom Bürgersteig auf den Laufsteg holt – und damit für schön erklärt. In Paris verwischt John Galliano – wie unzählige andere Designer – die Grenzen zwischen den Geschlechtern. Er tut das auf übertriebene und aggressive Weise: Anstatt etwa ein Kleid zu kreieren, das den Linien des männlichen Körpers folgt, hängt er ihm einfach ein Kleid um. Das Ergebnis ist nicht etwa ein Kleidungsstück, das der betreffenden Person schmeichelt. Es ist ein Kommentar zu unseren sturen Ansichten über Geschlecht, Kleidung und körperliche Schönheit. Vor gar nicht so langer Zeit startete das Mode- label Universal Standard eine Werbekampagne mit einer Frau in Größe XXL. Sie posierte in Unterwäsche und weißen Socken. Das Licht war fahl, ihre Haare etwas struppig und ihre Schenkel von Zellulitis gekräuselt. Das Bild hatte nichts Magisches oder Unzugängliches. Es war übertriebener Realismus – das Gegenteil vom Victoria’s-Secret-Engel. Jede herkömmliche Vorstellung von Schönheit wird umgedreht, das ist die neue Normalität. Und sie ist schockierend. Manche würden sogar behaupten, sie ist ziemlich hässlich. So oft es auch heißt, man sei gegen Ausgrenzung und für normal aussehende Leute, so sind doch viele Verbraucher bestürzt darüber, was dann als Schönheit durchgeht. Sie sehen eine 90-Kilo-Frau, loben sie kurz für ihr Selbst- bewusstsein und regen sich dann über ihre Gesundheit auf – obwohl sie ihre Krankenakte nicht kennen. Das ist nur etwas höflicher, als völlig grundlos dagegen zu wettern, dass man sie für schön erklärt. Aber die bloße Tatsache, dass das Model von Universal Standard in Unterwäsche im Rampenlicht steht, ist ein Akt des politischen Protests. Dabei geht es nicht darum, dass die Frau ein Pin-up-Girl sein will. Es geht um ihr Recht darauf, dass ihr Körper existieren darf, ohne verurteilt zu werden. Wir als Gesellschaft haben ihr nicht zugestanden, einfach nur zu sein. Doch die Welt der Schönheit bietet ihr jetzt eine Plattform, auf der sie genau das thematisieren kann.

    Mädchen aus den Favelas von Rio de Janeiro nehmen Ballettstunden bei „Na Ponta dos Pés”, einem Ballettprojekt von Tuany Nascimento. Die Betreiberin, selbst eine Ballerina aus den Favelas, ist überzeugt, dass die Mädchen durch das Tanzen ihren Körper akzeptieren lernen und ihr Selbstbewusstsein stärken. Für Nascimento bedingen sich Schönheit und Kraft gegenseitig.
    Foto von Hannah Reyes Morales

    Inklusiver Schönheitsbegriff

    Körper, Gesicht, Haare – alles ist politisch geworden. Schönheit hat mit Respekt und Wertschätzung zu tun und mit dem Recht, sein zu dürfen, ohne dass man grundlegend ändern muss, wer man ist.  „Own who you are“, „Akzeptiere dich, wie du bist“, stand bei der Modenschau der Balmain Frühjahrskollektion 2020 auf einem T-Shirt. Der Chefdesigner der Marke, Olivier Rousteing, ist für seinen inklusiven Schönheitsbegriff bekannt. Mit Kim Kardashian propagierte er slim thick als zeitgemäßen Begriff für eine leicht trainierte Sanduhrfigur. Slim thick beschreibt eine Frau mit ausladendem Po, üppigen Brüsten und Schenkeln und einer schlanken, muskulösen Taille. Möglicherweise ist slim thick auch nur ein Körperideal, dem Frauen nacheifern können. Doch es gibt ihnen die Freiheit, selbst einen Begriff zu prägen, der ihren Körper beschreibt, ihn zu einem Hashtag zu machen und dann die Likes zu zählen.

    Dabei sein ist alles!

    Wenn ich mir ein Foto  von meiner Mutter ansehe, sehe ich einen der schönsten Menschen der Welt – nicht wegen ihrer Wangenknochen oder ihrer hübschen Figur, sondern weil ich ihre Seele kenne. Wir als Kultur tun so, als ob innere Schönheit das Wichtigste wäre, und dabei ist es äußere Schönheit, die gesellschaftlich am meisten zählt. Die neue Sicht auf die Schönheit fordert uns heraus, eine Unbekannte für schön zu erklären. Sie zwingt uns, von anderen Menschen das Beste anzunehmen. Sie bittet uns, mit anderen Menschen auf eine Weise in Kontakt zu treten, die in ihrer Offenheit und Leichtigkeit fast kindlich ist. Moderne Schönheit verlangt nicht, dass wir unvoreingenommen an den Tisch kommen. Sie verlangt einfach nur, dass wir allen Anwesenden das Recht zugestehen, dabei zu sein.  

     

     Aus dem Englischen von Ina Pfitzner.

    Der hier gekürzte Artikel wurde in voller Länge in der Februar-Ausgabe des deutschen National Geographic Magazins veröffentlicht. Jetzt ein Abo abschließen!

     

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