Was „nichttödliche Waffen“ im Körper anrichten

Gummigeschosse, Tränengas und Blendgranaten, brechen Knochen, verätzen Gewebe und zerstören Trommelfelle bei falscher Handhabung. Gegen manche Auswirkungen kann man sich allerdings schützen.

Von Amy McKeever
Veröffentlicht am 8. Juni 2020, 16:45 MESZ
Foto von Michael Ciaglo, Getty Images

Gummigeschosse, Tränengas, Elektroschocks, Pfefferspray – es gibt eine ganze Reihe von „nichttödlichen“ Waffen, die in diversen Ländern von Polizeikräften genutzt werden, um Menschenmengen bei Demonstrationen und Protesten zu kontrollieren.

Nichttödliche Waffen, manchmal auch als weniger tödliche Waffen bezeichnet, wurden ursprünglich entwickelt, um die Kriegsführung weniger tödlich zu machen. Der Gegner soll entweder bewegungsunfähig gemacht oder in die Flucht geschlagen werden. Später übernahm die Polizei diese Mittel als Alternative zu Schusswaffen.

Je mehr Forschung zu den schädlichen Folgen solcher Einsatzmittel betrieben wird, desto lauter wird allerdings auch die Frage danach, ob sie neu klassifiziert werden sollten. Bei falscher Benutzung können auch vermeintlich nichttödliche Waffen Knochen brechen, die Haut verbrennen und tödliche innere Verletzungen verursachen.

Chemische Reizstoffe: Tränengas und Pfefferspray

Unter dem Begriff Tränengas werden diverse Augen-Rachen-Reizstoffe zusammengefasst, die darauf abzielen, die Opfer zu vertreiben und handlungsunfähig zu machen.

Wenn eine Granate mit Tränengas detoniert, breitet sich eine Wolke des Wirkstoffs in der unmittelbaren Umgebung aus. Die Chemikalien im Gas reizen die Augen, die Haut und die Atemwege, sodass die Opfer am ganzen Körper Schmerzen leiden. Sie husten und niesen und produzieren so viel Schleim, dass sie das Gefühl haben können, zu ersticken. Die verständliche Reaktion ist, sich vor der Wolke zu flüchten.

Auf genau diese Reaktion zielt die Polizei ab, wenn sie Tränengas bei Demonstrationen und Protesten einsetzt, erklärt Sven Eric Jordt. Der Professor für Narkologie, Pharmakologie und Krebsbiologie arbeitet an der Duke University School of Medicine.

Nachdem das New York Police Department während eines Protests am 29. Mai 2020 Tränengas eingesetzt hat, hat sich ein Demonstrant mit Milch überschüttet. Milch wird gern benutzt, um die Wirkung von Tränengas zu bekämpfen – funktioniert allerdings nicht besser als Wasser. Milchprodukte bergen eher ein zusätzliches Risiko, weil sie Infektionen auslösen oder zusätzliche Irritationen hervorrufen können.

Foto von Malike Sidibe

Ein Reizstoff, der oft für Tränengas verwendet wird, ist 2-Chlorbenzyliden-malonsäuredinitril (CS). Dieser bindet sich an die Schmerzrezeptoren TRPA1, die im ganzen Körper vorhanden sind – Augen, Haut, Lunge, Mund. Genau diese Rezeptoren werden auch angesprochen, wenn wir Wasabi oder Radieschen essen.

Bei niedriger Konzentration und Einsatz im Freien gilt der Reizstoff als nicht tödlich. Aber in großen Dosen – wenn eine Tränengasgranate beispielsweise direkt neben jemandem oder in beengter Umgebung detoniert – kann die Chemikalie Gewebe in den Atemwegen und im Verdauungssystem abtöten, zu Flüssigkeitsansammlungen in der Lunge führen und innere Blutungen verursachen. Deshalb sei es laut Jordt wichtig, den Reizstoff direkt nach Kontakt mit Wasser abzuspülen und auch die kontaminierte Kleidung auszuziehen. Den Einsatz von Milch, die dafür mitunter verwendet wird, empfiehlt er allerdings nicht, da Milch nicht immer steril ist und deshalb zu weiteren Reizungen oder gar Infektionen führen kann. Wenn der Körper einen solchen Angriff registriert, setzen Verteidigungsmechanismen ein.

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    “Wir müssen anerkennen, dass die Polizei sie manchmal nicht korrekt einsetzt.”

    Svren Eric Jordt | Duke University

    „Die Nase ist sowas wie der Wachposten für Gefahren, die man einatmen kann. Sie schlägt Alarm, wenn sie etwas entdeckt, das der Lunge schaden könnte“, erklärt Jordt. Das sensormotorische System reagiert mit Reflexen, die normalerweise Krankheitserreger aus dem Körper befördern sollen: Husten, Niesen, Weinen und übermäßige Schleimproduktion. Für Menschen mit Vorerkrankungen wie Asthma oder Arrhythmie können diese Reaktionen gefährlich sein. Die Organisation Physicians for Human Rights verweist außerdem auf einen möglichen Zusammenhang zwischen Tränengas und Fehlgeburten. Dieser wurde bislang allerdings unzureichend erforscht und basiert auf anekdotischer Evidenz.

    Bei Pfefferspray komm der Wirkstoff Oleoresin capsicum (OC) zum Einsatz, der sich auf ähnliche Weise verhält. Er wird aus Chilischoten gewonnen und spricht viele der gleichen Nervenbahnen an wie CS, verwendet dafür allerdings andere Rezeptoren. Pfefferspray ist chemisch nicht so reaktiv wie Tränengas – es ist also weniger wahrscheinlich, dass es bei seinem Einsatz zu Verletzungen kommt. Allerdings löst es dieselben körperlichen Reflexe aus und kann besonders für Menschen mit Vorerkrankungen riskant sein.

    Obwohl diese Reizstoffe als nicht tödlich gelten, sind sie laut Jordt alles andere als ungefährlich.

    Ein einzelner Demonstrant steht in einer Wolke aus Tränengas. Am 1. Juni 2020 kam es in Atlanta zu Protesten, nachdem der Afroamerikaner George Floyd wenige Tage zuvor von einem Polizisten in Minneapolis getötet wurde.

    Foto von Dustin Chambers, Reuters

    „Wir müssen anerkennen, dass die Polizei sie manchmal nicht korrekt einsetzt“, sagt Jordt. Tränengas soll beispielsweise mit einem gewissen Abstand eingesetzt werden. Wenn die Granaten aber direkt in die Menge gefeuert werden, sind ernste Verletzungen der Augen, des Kopfes, des Gehirns oder des Torsos durch den Aufprall ebenso wahrscheinlich wie Verätzungen durch den Wirkstoff.

    In jüngerer Zeit gab es auch Hinweise darauf, dass Tränengas Langzeitfolgen für das Atemwegssystem haben kann. 2014 stellte eine Studie zum Einsatz von Tränengas während der Militärausbildung einen Zusammenhang zwischen Belastung durch CS und einsetzende Atemwegserkrankungen her. Die Langzeitfolgen für Zivilisten sind unbekannt, zumal sich in dieser Gruppe mit größerer Wahrscheinlichkeit Menschen mit Vorerkrankungen befinden als unter jungen Militärrekruten.

    Gummigeschosse und Trauma

    1970 führte die britische Armee Gummigeschosse für den Einsatz gegen die Aufständischen in Nordirland ein. Die Geschosse bestehen aus Gummi oder anderen Kunstffstoffen – in manchen Fällen auch aus Stahl mit Gummiummantelung – und wurden als weniger tödliche Alternative zu Metallgeschossen entwickelt. Durch ihre größere Oberfläche entwickeln sie während des Flugs mehr Widerstand und Treffen mit geringerer Geschwindigkeit auf den Körper. Sie zielen auf stumpfe Gewalteinwirkung ab und sollen nicht in den Körper eindringen.

    Die Ärztin Jennifer Stankus von der Abteilung Notfallmedizin des Madigan Army Medical Center vergleicht das Auftreffen eines Gummigeschosses mit dem Gefühl, beim Paintball getroffen zu werden. Allerdings gibt es immer wieder Berichte über schwere Verletzungen durch Gummigeschosse. Studien ihres Einsatzes beim Konflikt in Kaschmir haben gezeigt, dass Gummigeschosse Knochenbrüche, Verletzungen an Nerven und Sehnen sowie Infektionen verursachen können. Andere Studien deuten darauf hin, dass sie innere Organe verletzen und zum Tod oder zu bleibenden Schäden führen können. Anfang Juni wurde ein Teenager in Sacramento von einem Gummigeschoss im Gesicht getroffen: Es brach seinen Kiefer und riss die Haut an seiner Wange auf.

    Ein Journalist wurde am Kopf verletzt, als die Polizei am 30. Mai 2020 in Minneapolis mit Tränengas und Gummigeschossen gegen Demonstranten vorging.

    Foto von Chadan Khanna, AFP/Getty Images

    Ein Demonstrant hält ein 40-mm-Gummigeschoss in der Hand, das am 31. Mai 2020 während Protesten nach dem Tod von George Floyd von der Polizei in Washington abgefeuert wurde.

    Foto von Jim Bourg, Reuters

    Der Leitfaden der Vereinten Nationen zum Einsatz von nichttödlichen Waffen durch Polizeikräfte empfiehlt, Gummigeschosse nur bei drohender Gefahr einzusetzen. Dabei soll auf die Beine oder den unteren Bereich des Torsos gezielt werden, wo es eher zu blauen Flecken und Risswunden kommt. Laut Stankus treten schlimmere Verletzungen gemeinhin dann auf, wenn die Waffen aus zu großer Nähe abgefeuert werden.

    Dann verursachen Gummigeschosse körperliche Schäden, die sich mit denen bei einem Autounfall vergleichen lassen. Durch die stumpfe Gewalteinwirkung können im Aufschlagbereich des Geschosses Knochen brechen und Blutgefäße gequetscht oder zerrissen werden. Dadurch kommt es zu Blutungen in den umliegenden Organen wie beispielsweise Nieren, Leber und Milz.

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    Für gewöhnlich verheilen diese inneren Verletzungen von selbst. Aber in manchen Fällen kann sich Blut in den Organen sammeln oder in die Bauchhöhle fließen. Noch schlimmere Folgen kann laut Stankus ein Treffer am Auge, am Schädel oder an der Wirbelsäule haben. Viele Demonstranten tragen deshalb Helme, Schutzbrillen und lange Kleidung.

    Stankus’ Erfahrung nach sind schwere Verletzungen durch Gummigeschosse insgesamt selten, weshalb sie auch ihre Klassifizierung als nichttödlichen Waffen nicht anficht. Organisationen wie Physicians for Human Rights sind anderer Meinung. Sie sagen, dass es oft genug zu solchen Vorfällen kommt und Gummigeschosse als Mittel zur Auflösung von Demonstrationen verboten werden sollten.

    Akustische Waffen

    Am 1. Juni flogen Militärhubschrauber in niedriger Höhe über den Köpfen von Demonstranten in Washington, D.C. Die Rotoren wirbelten herumliegenden Müll und kleine Gegenstände auf, während sich die Demonstranten die Ohren zuhielten. Anderswo im Land – beispielsweise in Seattle, Houston, Portland und Denver – setzt die Polizei Blendgranaten ein, die bei der Detonation einen lauten Knall und grelles Licht erzeugen.

    Lärm sei eine verbreitete Taktik, um Menschen aus einem bestimmten Bereich zu entfernen, sagt Richard Neitzel. Der Professor an der University of Michigan School of Public Health erforscht die Auswirkungen von Lärm. Der ist nicht nur störend, sondern kann auch körperliche Schäden zur Folge haben.

    Eine von der Polizei geworfene Blendgranate detoniert am 27. Mai 2020 vor dem 3. Polizeirevier in Minneapolis, Minnesota.

    Foto von Stephen Maturen, Getty Images

    Kurze, besonders laute Geräusche erzeugen Druckwellen, die in das Ohr eindringen und auf das Trommelfell treffen. Ähnlich wie ein Ballon, in den zu viel Luft geblasen wird, kann das Trommelfell dadurch platzen und die winzigen Knochen des Innenohrs verdrängen. Der Druck kann sogar die Haarzellen im Innenohr schädigen, die dafür sorgen, dass die Luftvibrationen in Signale umgewandelt werden, die das Gehirn als Töne interpretiert.

    Bei dauerhafter Belastung durch laute Geräusche können sich diese Haarzellen abnutzen wie Grashalme, über die man zu oft läuft. „Wenn man einmal im Jahr über seinen Rasen läuft, richten sich die Grashalme wieder auf“, sagt Neitzel. „Wenn aber ein ganz er Trupp Soldaten andauernd auf dem Rasen hin und her läuft, werden die Halme so stark beschädigt, dass sie sich nicht mehr erholen.“

    Das Ohr kann auch laute Geräuschen bis zu einem gewissen Maß verkraften. Ob Taktiken wie niedrig fliegende Hubschrauber und Blendgranaten ein akustisches Trauma verursachen können, hängt von drei Faktoren ab: der Stärke der Druckwellen sowie der Dauer und Häufigkeit der Belastung.

    Helikopter können mit etwa 95 Dezibel so laut wie ein Freilichtkonzert sein – laut genug, um schon nach etwa 50 Minuten schädlich zu sein. Laut Neitzel stellen ein paar Minuten dieser Lautstärke allerdings keine ernsthafte Gefahr für das Gehör dar. Bedenklicher seien da schon die potenziellen Auswirkungen von Blendgranaten. Sie schaffen es auf bis zu 170 Dezibel und können damit das Gehör der Umstehenden in unmittelbarer Nähe schädigen. Das Risiko für Verletzungen steigt mit der Zahl der Granaten. Neitzel verweist darauf, dass Stadtbewohner, die dem Lärm von Hubschraubern häufig ausgesetzt sind, unter dem anhaltenden Lärm ebenfalls leiden können. Er empfiehlt Ohrenstöpsel, um einige dieser Auswirkungen zu mildern.

    Elektroschockwaffen

    Elektroschocker werden schon seit den 1960n von der Polizei genutzt. In den USA kamen rudimentäre Modelle dieser Geräte damals bei Bürgerrechtsprotesten zum Einsatz. Sie senden einen elektrischen Schock durch den Körper, der darauf abzielt, den Betroffenen kurzfristig zu überwältigen, bis er sichergestellt ist. Aber auch diese Waffen können tödlich sein.

    Im Distanzmodus verschließen heutige Elektroschockpistolen zwei Projektile mit Widerhaken, die Kleidung und Haut durchdringen sollen. Sie sind über dünne Drähte mit der Pistole verbunden, die 5-sekündige Elektroschocks durch den Körper jagt. Damit sich der Stromkreis schließt, muss die Elektrizität von einem Projektil durch den Körper zum anderen wandern. Dabei stimuliert sie die Skelettmuskulatur, die so stark zu zucken beginnt, dass der Effekt einem Krampfanfall ähnelt.

    Wenn die Projektile allerdings an der falschen Stelle des Körpers eintreffen, können sie zum Herzstillstand führen, wie ein Artikel im Fachmagazin „Circulation“ 2014 darlegte.

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    Elektroschocks können den präzise abgestimmten Rhythmus des Herzens durcheinanderbringen, erklärt Douglas P. Zipes. Er ist der Autor der Studie und ein emeritierter Professor der Indiana University School of Medicine. Der Takt des Herzschlags wird vom sogenannten Sinusknoten vorgegeben, einen kleinen Gewebestück in der rechten oberen Herzkammer. Er überträgt elektrische Impulse an die Herzzellen. Wenn sich das Herz aber im Weg des elektrischen Stroms befindet, der von einem Projektil zum anderen läuft, kann diese Elektrizität den Herzschlag gefährlich beschleunigen. Falls ein Polizist den Sicherheitsmechanismus an der Elektroschockpistole umgeht, um die 5-Sekunden-Grenze zu überschreiten, kann das darüber hinaus zu Hirnschäden oder dem Tod des Opfers führen.

    Auch andere Teile des Körpers sind gefährdet. Forscher haben eine Reihe von Fällen dokumentiert, bei denen es zu Wirbelsäulenfrakturen kam. Sie vermuten, dass die Frakturen durch die plötzlichen und starken Muskelkontraktionen entstanden. Eine Studie aus dem Jahr 2016 zeigte zudem, dass Taser kognitive Funktionen kurzfristig beeinträchtigen können. Außerdem besteht die Gefahr, dass eines der Projektile unabsichtlich das Auge des Opfers trifft.

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    Um solche potenziellen Auswirkungen zu vermeiden, sollten Polizisten laut Zipes nicht auf die Brust zielen und den Sicherheitsmechanismus ihrer Elektroschockpistolen nicht umgehen. Sie müssen sich außerdem stets der Tatsache bewusst sein, dass diese Waffen einen Herzstillstand verursachen können. Wenn der Betroffene das Bewusstsein verliert, müssen sie deshalb sofort mit der Reanimation beginnen.

    Genau deshalb ist laut Zipes der Kontext wichtig, wenn darüber gesprochen wird, wie tödlich nichttödliche oder weniger tödliche Waffen sind. „Man kann einen Schlagstock, den Polizisten zur Verteidigung einsetzen, als nichttödliche Waffe bezeichnen“, sagt er. „Aber wenn man jemanden damit hart genug auf den Kopf schlägt, ist er ganz klar tödlich.“

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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