Wie eine Grippe-Welle am Mount Everest wütete
Ärzte in Nepal hatten 2019 nicht nur mit der Höhenkrankheit zu kämpfen – eine Grippe-Epidemie stellte sie und viele Bergsteiger vor neue Herausforderungen
Sherpas und Wanderer machen sich über den Thokla Pass in Nepal auf den Weg zum Mount Everest. Jedes Jahr kommen viele Reisende aus aller Welt in die Region. Durch eine begrenzte Infrastruktur ist die Gefahr für die Ausbreitung von Krankheiten wie der Grippe vergleichsweise hoch.
MOUNT-EVEREST-BASISLAGER, NEPAL | Wer denkt, das Besteigen des höchsten Berges der Welt sei ein schwieriges Unterfangen, sollte kurz versuchen, sich das Ganze in Kombination mit einer Grippe vorzustellen. Diese relativ schlechten Aussichten warteten im Frühjahr 2019 auf jene Abenteurer, die auf den Gipfel des Mount Everest klettern wollten. In den sechs Monaten vor Beginn der Frühjahrssaison hatten Ärzte am Berg einen signifikanten Anstieg der Influenza-Fälle festgestellt, die von den Trekking-Lodges hoch oben in der Region des Mount Everest herrührten – ein alarmierendes neues Risiko für internationale Bergsteiger und ihre lokalen nepalesischen Gastgeber.
„Wir hatten hier noch nie eine so starke Grippewelle“, sagt Prativa Pandey, ärztliche Leiterin der Ciwec-Klinik in Kathmandu. „Ich bin seit 25 Jahren hier, aber so etwas habe ich noch nicht erlebt.“
Kletterer, Wanderer und Sherpas müssen durch den Ort Lobuche, die letzte Siedlung auf dem Weg zum Basislager des Mount Everest. In der Klettersaison im Frühjahr übernachten hier Tag für Tag Hunderte Menschen.
Im Herbst 2018 beobachteten Pandey und ihr Team einen Anstieg der Grippefälle im oberen Khumbu-Tal –die Gegend, die direkt unter dem Mount-Everest-Basislager liegt, und eine der beliebtesten und bekanntesten Trekking-Gegenden der Erde. „Wir hatten hier im Oktober und November 40 Reisende mit bestätigter Grippe-Infektion, die mit dem Helikopter nach Kathmandu gebracht werden mussten“, erzählt sie. „Es muss etliche mehr Kranke gegeben haben, die dort geblieben sind.“
Von den 40 bestätigten Fällen gingen 16 auf den Virenstamm H1N1 zurück – das berüchtigte Grippevirus, das auch als Schweinegrippe bekannt ist. Noch besorgniserregender war, dass sich der Trend fortzusetzen schien: Im April 2019 wurden vier weitere Grippefälle festgestellt.
Der Frühling ist keine typische Grippe-Zeit. „Ein paar von uns haben überlegt, ob das Virus von Tieren übertragen wurde, vielleicht von Yaks oder Vögeln. Aber wahrscheinlicher ist, dass ein Reisender die Krankheit eingeschleppt und andere infiziert hat “, so Pandey. „So etwas gab es hier wären der Saison noch nie.“ Für die vielen hundert Bergsteiger, die auf den Gipfel wollten, bedeutete die Grippe eine neue, unberechenbare Gefahr.
Der perfekte Nährboden
Die Grippe, offiziell als Influenza bezeichnet, ist eine globale Krankheit, mit der die Menschheit seit mehr als einem Jahrhundert kämpft. Die bemerkenswerte Widerstandsfähigkeit des Virus beruht auf seiner Fähigkeit, leicht zu mutieren und jährlich neue Stämme zu produzieren. Diese müssen von Medizinern erst identifiziert werden, bevor neue Impfstoffe entwickelt werden können. Die Grippe ist durch Husten und Niesen leicht über die Luft übertragbar, auch Vögel und Säugetiere können sich infizieren.
Nepals Trekking-Lodges, die auch Teehäuser genannt werden, scheinen wie gemacht für die schnelle Übertragung des Virus. Die Gäste übernachten hier in rustikalen Zimmern ohne eigenes Bad und nehmen die Mahlzeiten in einem gemeinsamen Speisesaal zu sich.
Reisende übernachten in einem Teehaus in Lobuche. Die große Anzahl von Gästen, die hier durchreisen und auf engstem Raum übernachten, erhöht die Wahrscheinlichkeit der Übertragung des Grippevirus.
„Jedes Mal, wenn man isst, tut man dies in unmittelbarer Nähe zu anderen Menschen, die aus der ganzen Welt angereist sind“, erklärt Abhyu Ghimire, Arzt in Namche Bazar, dem wichtigsten Ort in der Region Khumbu. „Ich denke, der Ursprung der Grippewelle liegt in Kathmandu“, sagt er. „Jemand hat es von dort eingeschleppt und beim Trekking in Khumbu an alle weitergegeben.“
„Je höher man in der Region um den Mount Everest kommt, desto raren und enger sind die Übernachtungsmöglichkeiten“, erklärt Pandey. „Weiter unten gibt es viele Lodges, sodass sich die Menschen mehr verteilen und nicht so eng aufeinander hocken. Aber je höher man geht, desto voller wird es.“ Früher war das anders: Viele Trekkinggruppen brachten ihre Zelte, eigene Köche und andere Infrastruktur mit. Doch mit dem wachsenden Tourismus in den vergangenen Jahrzehnten erlebte das Khumbu-Tal einen Bauboom. Heute verzichten die meisten aufs Zelteaufschlagen und übernachten in lokalen Unterkünften.
Pandey tippt darauf, dass das Epizentrum der Grippewelle in Lobuche liegt, eine kleine Siedlung mit Steinhütten, die eine Tageswanderung vom Mount-Everest-Basislager entfernt liegt. Während der Hochsaison im Frühjahr und Herbst übernachten hier jeden Tag Hunderte von Reisenden. Die große Höhe des Lagers – Lobouche liegt auf rund 5.000 Metern – verstärkt die Symptome einer Krankheit.
„Aufgrund der Höhe gibt es hier viele Virusinfektionen“, sagt Diedre McCormack, eine Ärztin, die sich 2019 freiwillig bei Everest ER engagierte, der medizinischen Klinik der Himalayan Rescue Association im Mount-Everest-Basislager,. „Und so bald man krank wird, wird man auch anfälliger für die Höhenkrankheit“, sagt sie.
Eine unsichtbare Gefahr
Da keine Klinik in Khumbu in der Lage ist, einen Patienten auf Grippe zu testen, ist es in der Region nicht möglich, das wahre Ausmaß an Infizierungen festzustellen – auch wenn die Influenza-Tests hier ohnehin von manchen Ärzten kritisch beurteilt werden: Sie seien ungenau, heißt es.
In Namche Bazar, berichtet Ghimire, sei in der lokalen Bevölkerung im Vergleich zu den letzten Jahren kein großer Anstieg der Grippefälle beobachtet worden. „Ich habe keine Statistiken, um dies zu belegen, aber bei Atemwegsinfektionen in der lokalen Bevölkerung sehen wir häufig Fälle von Virusgrippe bei Kindern und bakterielle Probleme wie Halsentzündungen und Hib, die bei Kindern häufiger auftreten als bei Erwachsenen.“ Die Hib-Grippe – medizinische Abkürzung für eine Haemophilus-influenzae-b-Infektion – ist eine bakterielle Infektion, die zu ernsteren Erkrankungen wie Lungenentzündung führen kann.
Wanderer auf dem Weg Richtung Mount-Everest-Basislager. Wer sich während des Trekkings in den Bergen mit Grippe ansteckt, hat unter anderem ein erhöhtes Risiko für die Höhenkrankheit.
Natürlich ist es auch möglich, dass die Einheimischen keinen Arzt aufsuchen, wenn sie an der Grippe erkranken. „Nepalesen bekommen die Grippe, aber sie wird oft nicht diagnostiziert oder behandelt“, erklärt Pawan Karki, ein anderer freiwilliger Arzt am Everest ER. „Und unter erwachsenen Nepalis sind Impfungen nicht wirklich üblich. Sogar einige Ärzte werden nicht geimpft “, sagt er. Unbestätigte Berichte von Ärzten im ländlichen Nepal deuten auf einen beunruhigenden Anstieg der Grippefälle hin, einschließlich vieler Todesfälle.
Im Großen und Ganzen scheint die Mount-Everest-Klettergemeinde im Basislager bisher noch verschont geblieben zu sein. „Wir haben hier oben nicht viel von der Grippe mitbekommen. Es gibt viele Fälle von Atemwegsinfektionen, aber nicht die Art von Fieber, Schmerzen und Schüttelfrost, die man mit der Grippe in Verbindung bringt“, sagt McCormack. „Wenn die Hygienestandards schlecht wären, wären wir in Schwierigkeiten“, fügt sie hinzu. Ironischerweise sind viele der einzelnen Camps der Kletterteams, aus denen das Everest-Basislager besteht, sauberer als viele Siedlungen im Tal. Die meisten Kletterer schlafen darüber hinaus alleine im Zelt, was eine mögliche Ausbreitung des Virus ebenfalls einschränkt.
Ein Punkt ist jedoch klar: Wer in Nepal wandern oder den Mount Everest besteigen möchte, geht besser im Vorfeld zum Arzt und lässt sich impfen.
„Das einzige, was wir tun können, ist alle zu warnen und dazu aufzurufen: Schützt euch mit einer Impfung“, sagt Pandey. „Wascht die Hände und bedeckt beim Husten den Mund.“
Hinter der Geschichte: Der Autor Freddie Wilkinson berichtete im Jahr 2019 für National Geographic aus dem Everest-Basislager und der umliegenden Region in Nepal. Die National Geographic Society hat das Projekt finanziell unterstützt. Weitere Geschichten und Berichte von ihm zur Klettersaison 2019 gibt es hier.