Wie die Taliban in Afghanistan so schnell wieder an die Macht kommen konnten

Nach zwei Dekaden US-Präsenz in Afghanistan sind die Taliban schneller wieder an der Macht, als sie 2001 vertrieben wurden. Wie das geschehen konnte und was es für das zukünftige Leben in Afghanistan bedeutet – ein Kommentar.

Von Indira A.R. Lakshmanan
Veröffentlicht am 19. Aug. 2021, 13:00 MESZ, Aktualisiert am 19. Aug. 2021, 14:22 MESZ
Eine afghanische Familie rennt am 16. August 2021 zum Flughafen von Kabul, um vor den Taliban ...

Eine afghanische Familie rennt am 16. August 2021 zum Flughafen von Kabul, um vor den Taliban zu fliehen.

Foto von Haroon Sabawoon, Anadolu/Getty Images

Als im Dezember 2001 das Taliban-Regime aus seiner letzten Hochburg Kandahar vertrieben wurde, gehörte ich dem ersten Tross Reportern an, die einen Tag später in der Stadt im Süden Afghanistans eintrafen. Wir besuchten die ausgebombten Ruinen des Al-Qaida-Trainingscamps Lewa Sarhadi – mit vorsichtigen Schritten, um nicht auf eine Landmine zu treten. Wir blätterten durch Notizbücher, in denen in arabischer und afghanischer Sprache erklärt wurde, wie Ziele aus dem Hinterhalt anzugreifen und wie mithilfe von Düngemittel und Heizöl Bomben zu bauen seien. Wir schliefen auf dem Boden in unmöblierten Außengebäuden des Gouverneurspalasts in Kandahar und versendeten über Satellitentelefone unsere Berichte über Afghanen, die das Ende einer dunklen Zeit der Unterdrückung feierten – das Ende der öffentlichen Steinigungen und Hinrichtungen derer, die sich trauten, den Taliban gegenüber ungehorsam zu sein.

Die Autorin dieses Artikels nach der Vertreibung der Taliban im Dezember 2001 in Kandahar.

Foto von Dermot Tatlow

Über mehr als zwei Monate unterstützen die USA mit mehreren CIA-Operationen und Luftangriffen die afghanischen Milizen dabei, die fundamentalistischen Islamisten zu vertreiben, die Osama bin Laden und anderen Al-Qaida-Terroristen während der Planung der Anschläge vom 11. September Unterschlupf geboten hatten. Der Zusammenbruch des Taliban-Regimes kam damals erstaunlich zügig.

Zwei Dekaden später brauchten die wiedererstarkten Taliban nach der Einnahme Kandahars und anderer Provinzhauptstädte nur zwei Tage, bis sie triumphierend in die Hauptstadt Kabul einzogen. Nachdem die USA im Frühjahr 2021 offiziell bestätigt hatten, dass die Truppen der US-Armee noch vor dem 20-jährigen Jahrestag der Anschläge vom 11. September Afghanistan verlassen würden, begannen die Taliban damit, die ländlichen Gebiete zu besetzen, dadurch die Städte in den Würgegriff zu nehmen und die die afghanischen Truppen geradezu aus ihnen „herauszupressen“. Nun sind sie wieder an der Macht. Einfach so.

BELIEBT

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    Die Karte vermittelt einen Eindruck von der Geschwindigkeit, mit der die Taliban das Land unter ihre Kontrolle gebracht haben.

    Linke Seite: Am 13. August 2021 haben die Taliban (in dunkler Farbe dargestellt) mehr als die Hälfte des Landes besetzt.

    Rechte Seite: Am 15. August sind die Mitglieder der US-gestützten Regierung geflohen, die Taliban haben die Macht im Land.

    Foto von Christine Fellenz, Ngm, Lawson Parker, Bill Roggio, Foundation for Defense of Democracies

    Laut dem Cost of War Project der Brown University haben die vergangenen 20 Jahre in Afghanistan 170.000 Menschen – vorwiegend Afghanen – das Leben gekostet und den amerikanischen Steuerzahler mehr als zwei Billionen US-Dollar. Ziel des monumentalen Großeinsatzes war es, eine demokratischere, gerechtere und gleichberechtigtere Landesführung zu etablieren – ein Gegengewicht zu der Taliban-Herrschaft und dem Flickenteppich aus Mudschahidin, kommunistischen Regimen und Emiraten der Vergangenheit. Was haben wir für den hohen Preis, der gezahlt wurde, bekommen? Am 15. August 2021 floh der ehemalige Weltbankfunktionär und von den USA gestützte Präsident Afghanistans, Aschraf Ghani, aus dem Land. Panik und Schüsse auf den Straßen waren die Folge. Verängstigte Menschen versuchten, ihr Geld von der Bank zu holen und es ihm gleichzutun; Mitgliedern von Frauen- und Bürgerrechtsbewegungen wurde Berichten zufolge wegen ihres Engagements „Strafe“ angedroht; das Pentagon schickte Einsatzkräfte, die dabei helfen sollten, Mitarbeitende der US-Botschaft zu evakuieren – auf bittere Weise erinnerte das an den chaotischen Fall Saigons.

    Galerie: Ein Land am Scheideweg

    Was als Bemühung der USA begann, einen terroristischen Anführer in Afghanistan dingfest zu machen, hatte sich in ein zwei Jahrzehnte andauerndes Nationsgründungsexperiment verwandelt, das von Missmanagement in Bezug auf Hilfen und Verträge geprägt war. Die afghanische Elite nutze das aus, um sich mithilfe von Korruption auf Kosten der Bevölkerung zu bereichern. Der Reporter Jason Motlagh und die Fotografin Kiana Hyeri haben diese Entwicklung in den vergangenen Monaten für National Geographic detailliert dokumentiert. Die von vielen Afghanen ablehnend als Besetzung verstandene, hartnäckige und letztlich ineffektive Anwesenheit der US-Armee bot den Taliban die Chance, sich als nationalistische Bewegung zu etablieren. Ihre afghanischen Rivalen stellten sie als Marionetten fremder Mächte dar, die vergeblich versuchten, Kontrolle über das Land zu gewinnen, das bekannt dafür ist, erst die Briten, dann die Sowjets und nun schließlich die Amerikaner kleingekriegt zu haben.

    Abdul Wahab, hier zu sehen im Einsatz an einem Außenposten, war früher Mitglied der Taliban und hat sich danach der Anti-Taliban-Miliz angeschlossen. Im Juli 2021 wurde er getötet, als die Taliban seinen Stützpunkt angriffen.

    Foto von Kiana Hayeri

    Die Version des Islams, nach der die Taliban leben, lehnt jegliche Darstellung von Tieren und Menschen in der Kunst ab. Als sie zuletzt von 1996 bis 2001 die Macht in Afghanistan innehatten, zerstörten sie unzählige unersetzliche Kulturgüter des Landes, darunter auch die großen Bamyan-Buddhas, die zum UNESCO-Weltkulturerbe zählten, sowie viele andere Statuen und wertvolle Artefakte. Wie Andrew Lawler berichtet, hat die Geschwindigkeit des Siegeszugs der Taliban Museumskuratoren in ganz Afghanistan kalt erwischt. Sie haben nun die Befürchtung, dass es ihnen nicht gelingen wird, das kulturelle Erbe des Landes rechtzeitig in Sicherheit zu bringen.

    Und was wird die Zukunft afghanischen Frauen und Mädchen bringen, die nun damit rechnen müssen, ihr Recht auf Bildung, Arbeit, Freiheit und eine eigene Meinung zu verlieren? Was wird mit denen geschehen, die sich für Bürgerrechte einsetzen, mit denen, die sich in der und für die Gemeinschaft engagieren, mit Politikerinnen und Unternehmerinnen, deren Arbeit und Leben mit großer Wahrscheinlichkeit in Gefahr sind?

    Zarifa Ghafari, eine der ersten Bürgermeisterinnen in Afghanistan. Die 29-Jährige konnte nicht rechtzeitig fliehen, bevor die Taliban die Macht übernahmen. Sie sagt, sie warte nun darauf, dass die Rebellen kommen und sie töten.

    Foto von Andrea Bruce

    Vor einigen Monaten hat Nilofar Ayoubi mir erzählt, wie ihre Mutter zu Zeiten des Taliban-Regimes verprügelt wurde, weil sie ohne die Begleitung eines männlichen Verwandten einkaufen gegangen war. Ayoubi ist 26 Jahre alt und betreibt eine Boutique für moderne Frauen, die unbegleitet einkaufen wollen. Sie hat Morddrohungen erhalten und ihr Auto wurde ihr am helllichten Tag geraubt, trotzdem hat sie sich bisher geweigert, die Freiheit aufzugeben, die sie in Kabul gefunden hat. „Ich kann mir nicht vorstellen, irgendwo anders zu leben“, sagte sie mir damals.

    Aber das war, bevor die Taliban zurückkamen.

    Dieser Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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    Jahrhundertelanger Kampf: Die Geschichte Afghanistans in historischen Bildern

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