Kulturschätze in Afghanistan: Wie groß ist ihre Bedrohung durch die Taliban?

Die Taliban haben die Macht in Afghanistan übernommen und damit die Kontrolle über Zehntausende Artefakte in den Museen und antiken Stätten des Landes. Werden sie sie schützen oder zerstören?

Von Andrew Lawler
bilder von Robert Nickelsberg
Veröffentlicht am 17. Aug. 2021, 10:23 MESZ
Kämpfer der Taliban plünderten 2001 das afghanische Nationalmuseum und zerschlugen den Buddha, dessen Überreste hier ein ...

Kämpfer der Taliban plünderten 2001 das afghanische Nationalmuseum und zerschlugen den Buddha, dessen Überreste hier ein Kurator zeigt.

Foto von Robert Nickelsberg, Getty Images

Am 29. Juni 2021 verlassen die letzten Bundeswehrtruppen Afghanistan. Genau 48 Tage später, nachdem sie mit Herat und Kandahar – neben Dutzenden anderen – die zweit- und drittgrößte Stadt des Landes eingenommen haben, gelingt es den Kämpfern der Taliban, auch den Präsidentenpalast in der Hauptstadt Kabul zu besetzen. Die radikalislamische Miliz hat die Macht in Afghanistan in Rekordzeit übernommen und ist auf dem Weg dorthin kaum auf Gegenwehr gestoßen: Wer die Taliban nicht willkommen heißt, versucht sein Geld von der Bank zu holen und zu fliehen.

Eine ähnliche Taktik verfolgen auch die Archäologen und Museumskuratoren des Landes –nur gilt ihre Aufmerksamkeit nicht ihrem eigenen Hab und Gut, sondern dem Schutz wertvoller Artefakte und der Sicherung der Ausgrabungsstellen, über die sie noch eine Handhabe haben. Was mit den unwiederbringlichen Schätzen geschieht, die sich unter der Kontrolle der Taliban befinden, weiß niemand.

„Wir hatten nicht erwartet, dass es so schnell gehen würde“, sagt Noor Agha Noori, Leiter des afghanischen Instituts für Archäologie in Kabul. Eigentlich wollten die Behörden die Sammlungen aus Herat und Kandahar abtransportieren, um sie zu schützen. Der Plan konnte jedoch aufgrund des rasanten Vorrückens der Taliban und des Zerfalls der afghanischen Regierung nicht mehr umgesetzt werden.

Die Eroberung Kabuls durch die Taliban am 16. August 2021 lässt nichts Gutes erahnen. Die Archive und Ausstellungen des afghanischen Nationalmuseums in der Hauptstadt umfassen 80.000 Artefakte, um die nun gebangt werden muss. „Wir machen uns große Sorgen um die Sicherheit unserer Mitarbeitenden und der Sammlung“, erklärt Museumsdirektor Mohammad Fahim Rahimi.

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Das kulturelle Erbe Afghanistans ist so wertvoll, weil sich in dem Land über Jahrtausende die Wege verschiedenster Gruppen und Religionsgemeinschaften gekreuzt haben: Der Buddhismus kam aus China hierher und sowohl vor als auch nach dem Erstarken des Islams im 7. Jahrhundert n. Chr. erlebten Zoroastrismus, Christentum, Hinduismus und der jüdische Glaube Blütezeiten. Als wichtiges Teilstück der Seidenstraße zwischen dem Iran und China ist das Land reich an antiken Städten, Klosteranlagen und Karawansereien – in einer von ihnen fand Marco Polo auf seiner Reise zum schillernden Hof des Kublai Khan eine Herberge.

Doch die Taliban vertreten eine fundamentalistische Sicht des Islams, die jegliche Darstellungen von Menschen und Tieren ablehnt und der vorislamischen Vergangenheit des Landes äußerst misstrauisch gegenübersteht. Mitarbeitende des Kulturgutschutzes sind uneinig darüber, ob die Milizen erneut wüten werden wie im Jahr 2001, als sie im Museum von Kabul die berühmten Bamiyan-Buddhas und eine Vielzahl anderer antiker Objekte und Statuen zerstörten.

Im Februar 2021 forderten die Anführer der Taliban ihre Anhänger in einer Mitteilung dazu auf, Relikte „mit Nachdruck zu schützen, zu bewachen und zu retten“, illegale Ausgrabungen zu unterbinden und „alle historischen Stätten“ zu sichern. Sie betonten außerdem, dass der Verkauf von Artefakten auf dem Kunstmarkt explizit verboten sei.

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    Foto von Robert Nickelsberg

    Doch einige Experten für das kulturelle Erbe Afghanistans sind skeptisch. „Sie versuchen, ihr Image aufzubessern, aber die Taliban bleiben eine extrem ideologische und radikale Gruppe“, sagt Omar Sharifi, Professor für Sozialwissenschaft an der Amerikanischen Universität in Afghanistan. Nachdem er von Anhängern der Taliban bedroht wurde, floh er Mitte August 2021 von Kabul nach Delhi. Andere Quellen berichten, dass Mitarbeitenden des Kulturgutschutzes in Nachrichten und Anrufen von Mitgliedern des Taliban-Politbüros die Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen vorgeworfen worden sei.

    Noor Agha Noori und Mohammad Fahim Rahimi stehen beide in Kontakt mit ihren Teams in talibanbesetzten Städten. Sie haben den Eindruck, ihre Mitarbeitenden seien sicher. Die Taliban haben denen unter ihnen, die in niedrigeren Positionen arbeiten, eine Fortführung der Arbeit in Aussicht gestellt. Da es ihnen derzeit aber nicht erlaubt ist, das Haus zu verlassen, können sie keine Angaben zum Zustand von kulturellen Stätten, Museen und Artefakten machen.

    „Wenn die Taliban etwas im Schilde führen, werden wir das früher oder später erfahren“, sagt Cheryl Benard, Leiterin der Alliance for Restauration of Cultural Heritage (ARCH) in Washington D.C. „Noch sind sie mit Eroberungen, Grenzen und der Infrastruktur beschäftigt.“

    Kurz vor der Übernahme Kabuls arbeiteten die Kuratoren Kabuls unter Hochdruck daran, den Transport einiger Exponate für eine in Paris geplante Museumsaustellung zu organisieren. Philippe Marquis, Leiter der französischen archäologischen Delegation in Afghanistan, sollte eigentlich in die afghanische Hauptstadt reisen, um das Verpacken der Artefakte zu überwachen. „Die Situation ist unberechenbar“, sagt er. „In Kabul herrscht große Furcht vor den Taliban. Ein kurzer Krieg mit einer kleinen Zahl Toter könnte eine bessere Lösung sein als die Alternative: Anarchie.“

    Vor der Machtübernahme der Taliban weigerten sich die afghanischen Behörden auf Nachfrage, ihre Pläne zur Rettung der weltberühmten Sammlung des Nationalmuseums mitzuteilen. „Wir müssen die Artefakte bewahren, doch erst brauchen wir einen sicheren Ort, an den wir sie bringen können“, hieß es von Regierungsseite. „Weder sie noch die Mitarbeiter können das Land verlassen.“ Einem anderen Regierungsmitglied zufolge besteht die Hoffnung, dass die Vereinten Nationen Druck auf die Taliban ausüben werden, damit diese die Artefakte, die kulturellen Stätten und die Mitarbeitenden des Kulturschutzes schützen.

    Bereits vollständig unter der Kontrolle der Taliban ist Mes Aynak, Ausgrabungsstätte eines der größten antiken buddhistischen Klöster. Sie liegt ganz in der Nähe von Kabul. Archäologen fanden hier unzählige Stupas und Statuen, insgesamt wurden 10.000 Artefakte an dieser Stelle ausgegraben, darunter 2.500 Münzen. Auch das Museum in der Zitadelle von Herat sowie kleinere Museen und Sammlungen in Kandahar, Ghazni und Balkh liegen in besetzten Gebieten.

    Die Zukunft der Mitarbeitenden kultureller Einrichtungen in Kabul ist derzeit ungewiss. „Die Taliban kennen mich. Das ist kein angenehmer Gedanke für mich und meine Familie“, sagt ein Experte für Kulturgüter und fügt hinzu, dass sich überall in den Parks und Straßen der Stadt Flüchtlinge aufhielten. „Aber an Ausreisevisa ist nicht zu kommen.“

    Dieser Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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