Radikalisierte Querdenker: „Das regelt sich nicht von selbst”

In dieser Woche sind in Deutschland Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung eskaliert. Warum sich hierzulande immer noch zu wenige impfen lassen und warum die Zivilgesellschaft jetzt gefragt ist, erklärt Roland Imhoff von der Uni Mainz.

Von Deborah Roth
Veröffentlicht am 6. Jan. 2022, 11:02 MEZ
Gegner der Corona-Maßnahmen bei einem Protest in Berlin.

Gegner der Corona-Maßnahmen bei einem Protest in Berlin.

Foto von Joern / stock.adobe.com

Schweinfurt, Flensburg, Magdeburg: In einigen Städten sind in den vergangenen Tagen Demonstrationen gegen die Corona-Politik in Deutschland eskaliert – unter anderem wegen Verschwörungstheoretikern. Roland Imhoff ist Psychologe und Professor für Sozial- und Rechtspsychologie an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz und forscht unter anderem in Sachen Verschwörungsmentalität. Diese sei in Deutschland nicht ausgeprägter als in anderen europäischen Ländern: „Wir haben ebensolche Proteste auch in Italien, in Frankreich und in den Niederlanden gesehen”, sagt er. Auffällig und erklärungsbedürftig sei aber die noch immer niedrige Impfquote in deutschsprachigen Ländern.

“Menschen mögen den Zufall nicht. Wenn nun nicht der Zufall einen Virus mutieren lässt, sondern der geheime Plan einiger Individuen, dann eröffnet das die Option, die Welt vorhersagbar zu halten.”

von Roland Imhoff von der Uni Mainz

Herr Imhoff, in Deutschland kursieren seit der Pandemie viele Verschwörungstheorien. In Ihren Studien haben Sie herausgefunden, dass es Menschen gibt, die generell anfälliger für Verschwörungstheorien sind als andere. Welche Menschen sind das?

Wir sprechen für gewöhnlich nicht von Typen, weil dies ein gewisses Schubladendenken suggeriert. Menschen unterscheiden sich in allen erdenklichen Schattierungen und auch darin, wie sehr sie Verschwörungstheorien zustimmen – oder nicht. Tendenziell ist diese Zustimmung ausgeprägter bei Menschen, die soziale Ausgrenzung erleben, die das Gefühl haben, nur wenig Kontrolle über ihr Leben und ihre Lebensumstände zu haben. Bei Menschen mit geringerer formaler Bildung, aber auch bei Menschen, die besonders bereitwillig Muster in zufälligen Anordnungen erkennen.

Was genau meinen Sie damit?

Nun, Verschwörungstheorien operieren häufig nach dem Prinzip, unverbundene Aspekte eines Ereignisses zu einer stimmigen Verkettung zusammenzuziehen. Das ist eines der großen Potenziale von Verschwörungstheorien: Sie negieren den Zufall. Menschen mögen den Zufall nicht, weil er uns seinen Launen ausliefert. Wenn nun nicht der Zufall einen Virus mutieren lässt oder ein Flugzeug abstürzen lässt, sondern der geheime Plan einiger Individuen, dann eröffnet das die Option, die Welt vorhersagbar zu halten und eben auch zu kontrollieren – indem ich den Verschwörern das Handwerk lege. Eben diese basale Tendenz, statt dem Zufall einen Plan am Werk zu sehen, finden wir auch schon bei sehr trivialeren Fragen: ob in zufälligen Zahlenreihen ein Muster vorliegt oder sich über einen Bildschirm bewegende Figuren dies intentional tun. Dies wird beides eher bejaht von Menschen, die auch eher Verschwörungstheorien zustimmen.

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    Die Impfquote in Deutschland ist auffallend gering. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?

    Gesichert wissen wir es nicht, aber wir können spekulieren. Eine Möglichkeit ist, dass die geringe Impfquote auch ein Kollateralschaden der sehr großen gesellschaftlichen Offenheit – auch im Gesundheitssystem – gegenüber sogenannter Alternativmedizin ist. In deutschsprachigen Ländern sind vermeintlich weichere oder natürlichere Zugänge ohne starke Evidenzbasierung zur Krankheitsbehandlung wie Homöopathie oder Naturheilkunde sehr viel weiter verbreitet. Und umgekehrt vielleicht auch das Misstrauen gegenüber der wissenschaftlich orientierten Medizin und ihrem biomedizinischen Modell.

    Gibt es einen wissenschaftlich nachweisbaren Anstieg beim Glauben an Verschwörungstheorien seit Beginn der Pandemie?

    Radikalisierung impliziert einen Prozess. Auf der Ebene der öffentlichen Meinung können wir einen solchen aber in sozialwissenschaftlichen Studien tatsächlich nicht nachzeichnen, eher im Gegenteil. Die wenigen Daten, die wir haben, suggerieren wenn überhaupt eine Abnahme verschwörungstheoretischer Weltbilder seit der Pandemie. 

    Trotzdem kursieren in sozialen Netzwerken so viele Gewaltaufrufe und Hetze wie nie zuvor. 

    Definitiv, und ich will hier auch kein Zeichen zur Entwarnung geben. Wir müssen alarmiert sein, denn aus meiner Sicht kommen hier zwei Dinge zusammen. Zum einen gibt es eine schon vorab existierende radikale Rechte, die sich mit dem Corona-Thema eine neue Bühne geschaffen hat. Hier war Demokratiefeindlichkeit und Militanz schon vorher vorhanden, die Ausdrucksformen oder Zielobjekte verschieben sich aber. Statt Wohnunterkünften geflüchteter Menschen geraten Impfzentren, Ärzt:innen oder Politiker:innen ins Visier. Zum anderen zwingt die Pandemie uns allen auf, auf sie zu reagieren. 

    “Wenn eine kleine Mehrheit von Solidaritätsverweiger:innen lauthals protestiert und die große Mehrheit, die ihren Beitrag zur Überwindung der Pandemie und Entlastung des Gesundheitssystems beitragen will, still bleibt, entsteht ein Zerrbild. ”

    von Roland Imhoff von der Uni Mainz.

    Inwiefern?

    Solange sich ein verschwörungstheoretisches Weltbild vor allem in alternativen Erklärungen des Mordes an John F. Kennedy, des tödlichen Unfalls von Lady Di oder der Mondlandung manifestierte, war das weitestgehend eine private Meinung. Mit denen durch die Pandemie notwendig gewordenen Einschränkungen und Zumutungen erzwingt es aber ein mit dem eigenen Weltbild konsistentes Verhalten – zum Beispiel sich nicht an die empfohlenen Maßnahmen wie Abstand, Maske und Impfung zu halten. Und es geht um unmittelbar empfundene Freiheitseinschränkungen, die zu Reaktanz und Widerstand führen. Verschwörungsglauben ist also keine private Ansicht mehr, sondern impliziert ein offenes Verhalten.

    Müssen wir mit noch mehr Aggression, Radikalisierung und Eskalationen rechnen?

    Es ist aus meiner Sicht nicht ersichtlich, warum sich diese organisierte Entrüstung in Wohlgefallen auflösen sollte. Insbesondere die schon lange gut organisierten rechtsradikalen Teile der Bewegung finden hier ein sehr willkommenes Betätigungsfeld für ihre demokratiefeindliche Agitation – unter dem Deckmantel der Verteidigung von Bürgerrechten. Das erledigt sich in meinen Augen auch nicht von selbst, sondern erfordert eine deutliche Antwort demokratischer Institutionen und der Zivilgesellschaft.

    Wo genau sehen Sie die Zivilgesellschaft in der Verantwortung?

    Ein – auch in der Pandemie – unterschätzter Faktor in der öffentlichen Meinungsbildung sind deskriptive soziale Normen. Was andere tun und nicht tun, beeinflusst unser Bild von dem, was normal und angemessen ist. Wenn eine kleine Mehrheit von Solidaritätsverweiger:innen lauthals protestiert und die große Mehrheit, die ihren Beitrag zur Überwindung der Pandemie und Entlastung des Gesundheitssystems beitragen will, still bleibt, entsteht ein Zerrbild. Es könnte dann der Eindruck entstehen, es sei normal und weit verbreitet, die Maßnahmen nicht mittragen zu wollen und Wissenschaftler:innen anzufeinden. Hier gilt es diese Norm zu korrigieren. In vielen Städten, wie zuletzt zum Beispiel in Mannheim, haben sich Menschen öffentlich gegen die sogenannten Querdenker:innen positioniert. Ein solches offenes Eintreten korrigiert die Norm.
     

    Sie sind Experte im Bereich Verschwörungstheorien. Was kann man tun, wenn man einen Verschwörungstheoretiker in der Familie hat?

    Zuerst einmal sollte man mit sich selbst ausmachen, ob und wie viel Zeit und Energie man investieren möchte. Es ist völlig in Ordnung, dafür keine Kapazitäten zu haben und dann ist die naheliegendste Option ein Burgfrieden: Sich darauf zu verständigen, sich als Mensch und Person zu schätzen und zu lieben, aber politische Themen ausklammern zu wollen. Man muss nicht jeden Dissens zwingend austragen. 

    Wenn aber die Bereitschaft besteht, hier in die gemeinsame Bearbeitung einsteigen zu wollen, braucht man einen langen Atem und ich würde davor warnen, sich auf eine vermeintliche Faktenebene einzulassen. Ich würde versuchen, einerseits die Sorgen und Nöte ernst zu nehmen, ohne den Kurzschluss zur Verschwörungstheorie mitzugehen. Natürlich ist es für uns alle belastend, jetzt bald ins dritte Pandemiejahr zu gehen – und natürlich sind die diversen Einschränkungen von Bürger- und Freiheitsrechten eine Zumutung. Und natürlich muss man nicht mit jeder Maßnahme der Bundes- bzw. Landesregierung einverstanden sein. Das heißt aber nicht, dass ein lange gehegter Geheimplan hinter diesen Maßnahmen steht.

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