Genozid in Namibia: So dachte der erste deutsche Völkermörder

Von 1904 bis 1908 begingen deutsche Kolonialtruppen im damaligen Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia) den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts. Das Tagebuch des Oberbefehlshabers Lothar von Trotha gibt nun neue Aufschlüsse darüber, wie es dazu kam.

Von Marius Rautenberg
Veröffentlicht am 1. Juni 2022, 17:47 MESZ
Lothar von Trotha 1904 mit seinem Stab

Lothar von Trotha, (breitbeinig vorne in der Mitte sitzend) der Oberkommandierende der Schutztruppe in Deutsch-Südwestafrika, posiert mit seinem Offiziersstab in Keetmanshoop während des Feldzuges gegen die Herero 1904.

Foto von Bundesarchiv

Im August 1904 schien die militärische Lage für die deutschen Truppen günstig: Zu Beginn des Jahres hatte sich das Volk der OvaHerero mir ihrem Anführer Samuel Maharero im Zentrum des Landes gegen die Kolonialherren erhoben. Nachdem die deutschen Truppen anfänglich überrascht wurden, konnten sie mit Verstärkung aus der Heimat die OvaHerero zurückdrängen. Tausende Krieger zogen sich mit ihren Familien und Rinderherden an den Waterberg zurück, wo die deutsche Armee, unter Befehl des neu eingesetzten Oberbefehlshabers Lothar von Trotha, am 11. August zum Angriff ansetzte.

Die Mission war für das deutsche Militär ein Fehlschlag. Die OvaHerero konnten unter großen Verlusten aus der Umzingelung in die anliegende Halb-Wüste Omaheke fliehen. Dorthin setzten ihnen die Kolonialtruppen nach und schnitten sie von den Zugängen zum Wasser ab. Ein großer Teil der OvaHerero verhungerte und verdurstete oder starb in den folgenden Jahren in Konzentrationslagern. So fanden nach Schätzungen des Historikers Horst Drechsler circa 60.000 OvaHerero den Tod – etwa vier Fünftel des Volkes. Gegen Ende des Jahres ging das Morden mit einem Feldzug gegen den Volksstamm der Nama weiter.

In den (seriösen) Geschichtswissenschaften ist unumstritten, dass deutsche Truppen damals einen Genozid begingen. Historiker wie Drechsler und Helmut Bley sprachen schon in den 1960ern von Völkermord. Eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Thema fand ab den 1990er Jahren statt, nachdem die Archive in der früheren DDR und in Namibia allgemein zugänglich wurden. Doch erst 2021 erkannte die BRD den Völkermord als solchen an und vereinbarte Zahlungen an Namibia zur Wiedergutmachung in Höhe von 1,1 Milliarden Euro. Nachkommen der OvaHerero und Nama kritisieren, dass nur auf zwischenstaatlicher Ebene verhandelt wurde und sie selbst nicht einbezogen wurden.

Tagebücher Lothar von Trotha als neue Quelle

Dies zeigt, dass die Erinnerung und Aufarbeitung des Völkermordes nach über 100 Jahren noch immer große Lücken aufweist. Eine wertvolle neue Quelle soll diese Debatte ab kommendem Jahr bereichern: Die Historiker Dr. Andreas Eckl und Dr. Dr. Matthias Häussler von der Ruhr-Universität Bochum editieren, gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die Tagebücher von Trotha aus seiner Zeit als Oberbefehlshaber 1904/05. Dafür arbeiten sie sich derzeit durch die annähernd 900 Seiten zählenden Hefte mit teils schwer entzifferbarer Handschrift. Bisher waren sie in Privatbesitz der Familie von Trotha. Diese zeigte, laut Häussler, „eine große Aufgeschlossenheit, ihre Geschichte aufzuarbeiten und die Tagebücher der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.“

Neben seinem Tagebuch führt Lothar von Trotha auch ein Fotoalbum während seines Aufenthaltes in Deutsch-Südwestafrika. Die Historiker Dr. Andreas Eckl und Dr. Dr. Matthias Häussler wollen auch dieses Fotoalbum veröffentlichen.

Foto von Kolonialarchiv Dr. Eckl

Lothar von Trotha: Wunschkandidat des Kaisers

Die Aufzeichnungen von Trothas beginnen mit seiner Abreise aus Deutschland 1904. Die hochrangigen Militärs und Reichskanzler Bernhard von Bülow wollen von Trotha eigentlich nicht als Oberkommandanten sehen. Militärisch gäbe es geeignetere Kandidaten, zudem gilt er als Eigenbrötler, der sich mit niemandem so recht versteht. Dennoch hält Kaiser Wilhelm II offenbar große Stücke auf ihn. Von Trotha stammt aus dem Uradel mit besten Beziehungen ins preußische Königshaus, er hat bereits 1894 bis 1897 Kolonialerfahrung in Deutsch-Ostafrika gesammelt, sowie bei der Niederschlagung des Boxeraufstandes in China 1901 eine Brigade befehligt.

Dass von Trotha in Deutsch-Südwestafrika ein Außenseiter ist, spielt ihm möglicherweise in die Karten: Nach zwei Jahrzehnten des deutschen Kolonialismus übt der Gouverneur Theodor von Leutwein seine Macht mit einem Filz von persönlichen Beziehungen und Abhängigkeiten aus, sowohl in der eigenen Kolonialbürokratie, als auch gegenüber den ansässigen Stammesfürsten. Nachdem im Januar 1904 der Aufstand der OvaHerero ausbricht, sucht Leutwein trotz aller militärischen Härten und willkürlichen Grausamkeiten nach wie vor eine Verhandlungslösung mit den OvaHerero. Damit soll nun Schluss sein. Der Kaiser weist von Trotha vor dessen Abreise in einem persönlichen Gespräch an, den Aufstand „mit allen Mitteln“ niederzuschlagen. Er soll ein Exempel statuieren und den Feind vernichten, damit es niemand mehr wagt, sich den Deutschen zu widersetzen.

Zu Beginn seiner Reise sind die Tagebucheinträge noch voller Zuversicht, seine Mission zur Zufriedenheit des Kaisers erfüllen zu können. Von Trotha geht streng nach militärtaktischem Lehrbuch vor: vorrücken, einkreisen, schlagen. Doch schon bald geraten seine Pläne durcheinander, wie Matthias Häussler darlegt: „Man könnte annehmen, es wäre ein Feldzug aus einem Guss, mit einer Kolonialmacht mit unglaublichem militärischem und wirtschaftlichem Potenzial und ein paar tausend Gegnern mit schlechten Gewehren, die Subsistenzwirtschaft betrieben. Aber die deutschen Truppen stoßen auf so massive Schwierigkeiten vor Ort, dass die Pläne scheitern. Das kann man aus den Tagebüchern lesen.“

Von Trothas habe als Oberkommandant den Anspruch, immer die Kontrolle über alles zu haben, wie Andreas Eckl beschreibt: „Doch letztlich muss er in den Tagebüchern vor allem das notieren, was nicht klappt: Untergebene halten sich nicht an Befehle, Nachrichten kommen nicht an oder sind in sich widersprüchlich, die Truppe steht ohne Nachschub da, Soldaten werden krank.“ Ständig muss er seine Pläne umwerfen. Nach der Schlacht am Waterberg läuft von Trothas Vorhaben immer mehr aus dem Ruder. Die Schuld am Scheitern gibt er anderen. Der Batallionskommandeur Hermann von der Heyde warnt von Trotha vor der Schlacht sogar noch, dass der Angriffsplan nicht aufgehen würde, weil seine Abteilung zu klein und der Boden zu sandig wäre. Von Trotha hört nicht auf ihn. Stattdessen bezeichnet er von der Heyde in seinem Tagebuch als „Scheißkerl“ und stellt ihn vor ein Kriegsgericht – obwohl er genau weiß, dass von der Heyde recht hat. „Von Trotha war ein Narzisst, der die Schuld immer bei anderen suchte“, so Häussler.

BELIEBT

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    Das Foto zeigt – vermutlich – einen deutschen Soldaten mit Kriegsgefangenen der OvaHerero im August 1904.

    Foto von Unbekannter Fotograf / Wikimedia Commons

    Tagebuch eines Völkermörders: „Alles wird totgeschossen, basta.“

    Direkt nach der Schlacht am Warterberg nehmen die deutschen Truppen die Verfolgung der flüchtigen OvaHerero auf. Doch schon nach zwölf Stunden müssen sie abbrechen, weil Vorräte und Wasser fehlen. Der bis dahin von den Deutschen strategisch geplante Feldzug entwickelt sich zu einer wochenlangen unkontrollierten Jagd. Von Trotha geht mit immer größerer Brutalität vor, was er auch in seinen Tagebüchern kraftvoll ausdrückt: „ Alles wird totgeschossen, basta.“ Er lässt die Wüste abriegeln und alle bekannten Wasserstellen besetzen. In seinem Vernichtungsbefehl am 4. Oktober 1904 ruft er die OvaHerero auf, die deutschen Kolonialgebiete zu verlassen und droht ihnen: „Innerhalb der Deutschen Grenze wird jeder OvaHerero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volke zurück oder lasse auf sie schießen.“

    Im Dezember 1904 reicht es der militärischen und politischen Führung in Berlin. Reichskanzler von Bülow ist um den Ruf des Deutschen Reichs besorgt und kann den Kaiser schließlich überzeugen, den Vernichtungsbefehl zurückzunehmen. Besser wird die Situation für die OvaHerero dadurch nicht: Tausende werden bis 1908 in Konzentrationslager gesteckt und gehen an den brutalen Bedingungen zugrunde. Von Trotha ist dennoch gekränkt, dass der Kaiser ihn fallen lässt. In der Folge lässt er seine Aufgaben als Oberkommandant immer weiter schleifen, wie Häussler beschreibt: „An manchen Tagen interessiert er sich weit mehr für Zeitungsartikel über ihn in der Heimat oder die Jagd und das Sammeln von Pflanzen und Insekten, als für die Kriegslage. Ihm scheint das auch ziemlich egal zu sein. Er sieht sich nur noch als Sündenbock und reagiert aus Trotz mit Apathie und Gleichgültigkeit.“ Dennoch bleibt er bis November 1905 in seiner Position.

    Der Krieg gegen die Nama fällt in die zweite Hälfte seiner Zeit in Deutsch-Südwestafrika. Der Volksstamm ist bis Oktober 1904 noch mit den Deutschen verbündet, doch die Angst, das gleiche Schicksal zu erleiden wie die OvaHerero, lässt sie zu den Waffen greifen. Für militärische Planung interessiert sich von Trotha zu diesem Zeitpunkt nur noch am Rande. Die Durchführung des Feldzuges überlässt er im Wesentlichen seinem Stellvertreter Berthold Deimling, der mit großer Grausamkeit gegen die Nama vorgeht. Im Laufe des Krieges und der anschließenden Zeit in den Konzentrationslagern bis 1908 sterben 10.000 Mitglieder des Volkes der Nama. Mit dem Tod ihres Anführers Hendrik Witbooi bemüht sich ein Teil der Nama um Friedensverhandlungen. Diese Nachricht erreicht von Trotha bereits auf dem Marsch zum Schiff nach Deutschland – sie interessiert ihn da aber auch schon nicht mehr sonderlich. Am 10. November notiert er in seinem Tagebuch: „Ich gehe offenen Visieres hier aus dem beschissenen Lande.“

    Zurück in der Heimat erwartet von Trotha viel Kritik. Er gilt als gescheiterter Feldherr, dem die Kontrolle über die Lage entglitt. Doch beschränken sich diese Vorwürfe meist auf seine Art der Kriegsführung, weniger auf das Ziel an sich – die Vernichtung der OvaHerero und Nama. Diese Gräuel werden in der Literatur im wilhelminischen Reich als „heldenhafte Taten“ beschrieben, so Andreas Eckl. „Es gab kein Tabu. Die Grausamkeiten und Vernichtung waren gesellschaftlich akzeptiert und anerkannt.“ Berichte von Soldaten schildern die tagtäglichen Verbrechen schon vor dem Genozid. Hinrichtungen und Massaker gehören zum Normalzustand. Von Trotha hebt die Gewalt nur auf eine systematische Stufe. Seine Tagebücher können mehr über das Wie und Warum verraten. Zur Aufarbeitung der deutschen Kolonialverbrechen sind sie daher von unschätzbarem Wert.

    Als von Trotha nach Deutsch-Südwestafrika fährt, ist er bereits 56 Jahre alt. Bei seiner Rückkehr gilt er als gescheiterter Feldherr – heute als Völkermörder.

    Foto von Kolonialbildarchiv Dr. Eckl
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