Historische Juwelen: Sechs europäische Dörfer mit Geschichte

Während die großen Städte Europas für geschichtsinteressierte Urlauber die offensichtliche Wahl sind, werden viele kleine Gemeinden und Dörfer oft übersehen. Dabei eignen gerade sie sich perfekt für eine Reise in die Vergangenheit.

Von Raphael Kadushin
Veröffentlicht am 28. Juni 2022, 08:34 MESZ
Casares ist eines der Pueblos Blancos – weißen Dörfer – Andalusiens, deren Häuser unter der Herrschaft ...

Casares ist eines der Pueblos Blancos – weißen Dörfer – Andalusiens, deren Häuser unter der Herrschaft der Mauren weiß gekalkt wurden, um ihre Bewohner vor der Pest zu schützen.

Foto von Peter Phipp, Alamy Stock Photo

Rom, Prag, Athen, Paris – und das ist erst der Anfang. Wer im Urlaub auf den Spuren der Geschichte wandeln möchte, hat in Europa die Qual der Wahl. Doch neben den großen Metropolen und offensichtlichen historischen Schatzkammern finden sich über den ganzen Kontinent verstreut viele versteckte Ziele, die das Herz derer höher schlagen lassen, deren Reise sie nicht nur an einen anderen Ort, sondern auch in die Vergangenheit führen soll. Abseits von Stadtentwicklung und Massentourismus sind diese Dörfer und kleinen Städte Zeitkapseln geblieben, in denen man sich in vergangene Epochen zurückversetzt fühlt.

San Gimignano, Italien

Für alle, die mittelalterliche Wolkenkratzer und Weißwein lieben.

Im Mittelalter entdeckten die Herrscherfamilien der kleinen Stadt, die auf einem Hügel in der Toskana liegt, ihre Leidenschaft für den Bau von Steintürmen. In der Hochphase standen in San Gimignano ganze 70 dieser Torres genannten Bauwerke – manche von ihnen waren über 60 Meter hoch. Ursprünglich waren sie für die Verteidigung der Stadt im Krieg gegen benachbarte Ortschaften gedacht: Wer heute den Torre Grossa – den mit fast 54 Metern höchsten Turm der verbliebenen zwölf – besteigt, kann sich leicht vorstellen, wie die Stadtbewohner von seiner Spitze aus Angreifer mit kochend heißem Wasser überschüttet haben. Mit der Zeit wurden die Türme mehr und mehr zu Zeichen von Macht und Status und die wohlhabenden Bürger traten in einen regelrechten Wettbewerb darum, wer den höchsten Turm errichtete.

Unterhalb der Türme dieses UNESCO-Weltkulturerbes liegt die Iglesia di Sant’Agostino. In der im 13. Jahrhundert erbauten Kirche befindet sich ein Fresco aus dem 15. Jahrhundert, das die Mühen des Augustinus von Hippo abbildet. Außerdem verfügt San Gimignano über ein kleines Museum, in dem Kunstwerke von Filippo Lippi und anderen italienischen Künstlern der Renaissance zu sehen sind.

Nach Wellen der Pest und des Hungers ging es mit San Gimignano nach 1353 steil bergab – ein Umstand, dem zu verdanken ist, dass es heute so scheint, als wäre damals die Zeit stillgestanden. Heute zieht der Ort nicht nur Geschichtsinteressierte, sondern mit dem lokalen Weißwein Vernaccia di San Gimignano auch Freunde von guten Weinen an. Diesen genießt man am besten bei einer Weinprobe im Tasting Center, von dessen Terrasse aus man die Weinhügel der Umgebung überblickt.

BELIEBT

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    Die steinernen Türme San Gimignanos wurden während der Renaissance errichtet: Zu Verteidigungszwecken, aber auch als Statussymbole für die wohlhabenden Bewohner der Stadt.

    Foto von Tino Soriano, Nat Geo Image Collection

    Chambord, Frankreich

    Für alle, die Märchenschlösser lieben und einen Einblick in das Leben französischer Könige gewinnen wollen.

    Nur wenige Orte auf der Welt definieren sich so stark über ein einziges architektonisches Meisterwerk wie das Dorf Chambord in der französichen Region Central Val-de-Loire. Der Bau des gigantischen königlichen Jagdschlosses mit demselben Namen, das heute UNESCO-Weltkulturerbe ist, begann im Jahr 1519 unter Franz I. Bis zu seiner Fertigstellung vergingen zwölf Jahre.

    Die Wendeltreppen des Schlosses gehen auf Leonardo da Vinci zurück, der als einer der königlichen Berater vermutlich auch dafür sorgte, dass seine Majestät von der Idee Abstand nahm, die Loire als Graben um das Schloss herumzuleiten. In den 440 Zimmern des Chateaus hängen hochwertige Wandteppiche, von denen zwölf eine Serie bilden, die die Monate des Jahres illustrieren.

    Neben dem Schloss liegt ein mehr als 5260 Hektar großes Waldstück, in dem es einst vor Wildschweinen nur so wimmelte. Heute springt hier Rotwild über die Lichtungen. Der Wald kann über ein Netzwerk aus Pfaden und Wegen auf dem Pferderücken, mit dem Fahrrad oder zu Fuß erkundet werden.

    Für den Betrieb des monumentalen Schlosses war eine so große Dienerschaft vonnöten, dass die Bevölkerungszahl der kleinen Siedlung vor seinen Toren sprunghaft anstieg. Auch heute noch sichert es den Lebensunterhalt von etwa einhundert Menschen, die in dem Dorf Chambord wohnen und in kleinen Läden Honig aus der Region verkaufen oder Restaurants betreiben, die neben gutem Essen auch einen herrlichen Blick auf die filigranen Turmspitzen des Chateaus zu bieten haben.

    Das Chateau de Chambord wurde im 15. Jahrhundert als königliches Jagdschloss erbaut. Es hat so viele Fenster wie das Jahr Tage, so viele Treppen wie das Jahr Monate und so viele Schornsteine wie das Jahr Wochen.

    Foto von Bettmann, Getty Images

    Visegrád, Ungarn

    Für alle, die sich einen atemberaubenden Blick über die Donau wünschen und eine ehemalige europäische Hauptstadt besuchen möchten.

    Etwa 40 Kilometer von Budapest entfernt liegt in einer Kurve der Donau die Stadt Visegrád, die im 14. Jahrhundert Sitz des ungarischen Königs wurde. Eine Zeit, auf dessen Spuren man hier noch heute wandeln kann: Noch heute existiert die im 13. Jahrhundert als Festung gegen den Mongolensturm erbaute Obere Burg. In diesem gothischen Bauwerk residierte der König im frühen 15. Jahrhundert 

    Zwischen Mai und Oktober haben Besucher die Möglichkeit, die Stadt so zu bereisen, wie es die frühen ungarischen Könige taten: Mit einer Bootstour von Budapest nach Visegrád. Der Ausflug ist oft Teil der tagesfüllenden historischen Donaufahrten, die in der Hauptstadt angeboten werden und auch die geschichtlich ebenfalls sehr interessanten Orte Szentendre und Esztergom ansteuern.

    In den Räumen des Schlosses laufen Ausstellungen zur Wappenkunde, frühen Küchenkunst und dem gewagten Diebstahl einer Königskrone durch ein Zimmermädchen im Jahr 1440. Im Juli findet auf dem Schlossgelände ein jährliches mittelalterliches Fest mit kostümierten Gauklern, Musikern und Puppenspielern statt.

    Die Obere Burg von Visegrád ist mit dem Auto, dem Boot oder zu Fuß über den Spartacus-Wanderweg zu erreichen.

    Foto von ZGPhotograph, Alamy Stock Photo

    Casares, Spanien

    Für alle Sonnenanbeter, die auf den Spuren der turbulenten andalusischen Geschichte wandeln wollen.

    Wie Schaumkronen auf den Wellen schmücken die andalusischen Pueblos Blancos die Hügel im Süden Spaniens. Ihre Farbe haben sie nicht nur aus ästhetischen Gründen: Als zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert die Pest in der Region wütete, bestrichen die Bewohner ihre Häuser zum Schutz gegen die Seuche mit Kalk.

    Eine der schönsten dieser Gemeinden ist Casares, benannt nach Julius Caesar, der im 1. Jahrhundert v. Chr. versuchte, die Region unter seine Kontrolle zu bringen. Vom 8. bis 15. Jahrhundert herrschten in Casares – wie an den meisten Orten Andalusiens – die Mauren. Die Spuren dieser langen Geschichte sind heute in Form der Ruinen einer maurischen Festung und den Überresten der antiken römischen Siedlung Lacipo sichtbar.

    Kleine Gästehäuser, Tapas-Bars und die Dorfkirche aus dem 18. Jahrhundert machen Casares heute zu einem Ort, an dem man ganz entspannt und hautnah die andalusische Geschichte erleben kann.

    Casares ist eines der Pueblos Blancos – weißen Dörfer – Andalusiens, deren Häuser unter der Herrschaft der Mauren weiß gekalkt wurden, um ihre Bewohner vor der Pest zu schützen.

    Foto von Peter Phipp, Alamy Stock Photo

    Les Baux-de-Provence, Frankreich

    Für Freunde von verwunschenen Ruinen, dem Konzept der Ritterlichkeit und zeitgenössischer Kunst.

    Besucher der französischen Ortsgemeinde Les Baux-de-Provence erwarten gleich zwei historische Highlights. Zum einen der mittelalterliche Ortsteil, dessen kopfsteingeflasterte Gassen sich den Hügel hinaufwinden, gesäumt von Anwesen, in denen einst die mächtigen Herrschenden des Adelsgeschlecht der Les Baux lebten. Zum anderen kann man oben auf dem Hügel die Ruinen einer noch älteren Siedlung – der sogenannten toten Stadt – aus dem 11. Jahrhundert besichtigen.

    Die Les Baux-Prinzen waren für ihre Ritterlichkeit bekannt, befanden sich jedoch immer wieder im Klinsch mit den französischen Königen, die schließlich im 17. Jahrhundert ihre Burg auf dem Hügel zerstörten. Nach Jahrhunderten des Verfalls entdeckten Künstler Mitte des 20. Jahrhunderts die Ortschaft für sich und füllten ihn wieder mit Leben. Eine besonders wichtige Figur dieser Bewegung war der Holzschneider und Schriftsteller Louis Jou, dessen ehemaliges Atelier heute ein kleines Museum beherbergt.

    In den Sommermonaten finden heute in beiden Teilen der Gemeinde Kunstaustellungen und Konzerte statt.

    Die Ruine einer Burg aus dem 11. Jahrhundert steht auf dem Hügel des mittelalterlichen Städtchens Les Baux-de-Provence.

    Foto von Jasper Stenger, Alamy Stock Photo
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    Lavenham, England 

    Für alle, die sich für die Geschichte des englischen Mittelalters interessieren.

    Wie in vielen Ortschaften des Königreichs East Anglia und den Cotswolds florierte im 15. und 16. Jahrhundert der Handel in der Gemeinde Lavenham, die sich auf Wolle spezialisiert hatte und zu einer der reichsten in ganz England zählte. Die einflussreichen Kaufleute des Ortes errichteten zu dieser Zeit viele Fachwerkhäuser, deren Fassaden in Pastelltönen wie Rosa und Apricot leuchteten. Doch als der Handel mit Wolle einbrach, während Henry VIII. mit Frankreich Krieg führte, ging ihnen das Geld für neue Bauprojekte aus. Lavenham blieb in der Zeit eingefroren.

    Erst die Einführung der Eisenbahn weckte die Gemeinde im 19. und 20. Jahrhundert aus ihrem Dornröschenschlaf. Heute ist sie ein beliebtes Ziel der Wochenendausflüge gestresster Städter aus London und dem nahen Cambridge. 

    Von dem einstigen Reichtum Lavenhams zeugen noch heute das Gildenhaus von 1529 und die St. Peter und St. Paul-Kirche aus dem 15. Jahrhundert, deren Turm fast 43 Meter hoch ist.

    Wer einen Eindruck von dem Leben in dem Ort zu seiner Blütezeit bekommen möchte, besucht das Little Hall Museum: ein Haus aus dem 14. Jahrhundert. Ein historisches Übernachtungserlebnis haben Besucher in einem Zimmer des Hotels The Swan, das bereits im 15. Jahrhundert Gäste empfangen hat.

    Dutzende Gebäude aus dem 14. bis 16. Jahrhundert prägen das Straßenbild in Lavenham, darunter auch Englands ältestes Gasthaus: The Swan.

    Foto von Richard Taylor, eStockPhoto
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