Bergdorf Lukomir: Eine Reise in Europas Mittelalter
In dem Bergdorf Lukomir in Bosnien und Herzegowina leben 17 Familien – hoch oben im Gebirge. Mittelalterliche Traditionen sind hier noch lebendig. Eine Reise in Bildern.
In der Abenddämmerung kehren die Schafe von der Weide in das Dorf Lukomir auf dem Berg Bjelašnica in Bosnien und Herzegowina zurück.
Die Wanderung nach Lukomir beginnt an den verschlungenen Windungen des Flusses Rakitnica und führt auf Feldwegen aus einem Tal heraus. Etwa drei Stunden nach dem ersten Schritt erreicht der Pfad das Dorf, das sich über eine abgelegene, hügelige Lichtung erstreckt. Dort sitzt eine Ansammlung von gedrungenen, alten Steinhäusern mit Holzziegeldächern am Rande der Schlucht, die sich an den Fluss schmiegt. In 850 Metern Tiefe schimmert er wie ein silbernes Band in der Nachmittagssonne.
Ein paar Hirten in Baskenmützen, Wollhosen und Tweedmänteln sitzen draußen mit ihren Frauen, die traditionelle Kopftücher und bunte Kleider tragen. Sie trinken starken Kaffee, der auf eisernen Öfen gekocht und aus Kupfertöpfen gegossen wird. Auf einem Hof wird Brennholz gehackt und gestapelt. Auf einem anderen kümmert sich eine Familie um ihren Gemüsegarten. Grabsteine aus dem 14. Jahrhundert – sogenannte stećci – von der Größe riesiger Überseekoffer sind am Rande der Siedlung verstreut. Jenseits der Schlucht weiden Schafherden auf schwebenden grünen Inseln – Hochebenen, die durch die Wolkendecke ragen.
Schafe drängen sich in einem Pferch bei Lukomir auf dem Berg Bjelašnica.
Ein Mann wandert über den Friedhof von Lukomir, wo Grabsteine (sogenannte stećci) aus dem 14. Jahrhundert stehen.
Es wäre einfach, diese Gemeinschaft – auf 1.455 Höhenmetern das höchstgelegene Dorf in Bosnien und Herzegowina – als aus der Zeit gefallen zu betrachten. Ungefähr 35 bergige Kilometer von der Hauptstadt des Landes, Sarajevo, entfernt, an den südwestlichen Hängen des Berges Bjelašnica, an dem während der Olympischen Winterspiele 1984 Skirennen stattfanden, herrscht ein Gefühl behaglicher Isolation. Seit mehr als 500 Jahren, lang vor der Besetzung durch das Osmanische Reich, treiben die Menschen hier ihr Vieh zwischen den Siedlungen Gornji („oberes“) Lukomir und Donji („unteres“) Lukomir umher. Elektrizität gibt es erst seit den 1960ern. Es gibt keinen Markt, keine Schule, keinen Arzt und keinen Laden. Vom Spätherbst bis zur Mitte des Frühlings ist das Obere Lukomir mit dem Auto nicht erreichbar und unbewohnt. Wenn Besucher die Siedlung betreten, werden sie oft von einem Hirten begrüßt, der auf einem Felsen sitzt, einen Stock schnitzt und mit typisch bosnischem trockenen Humor Witze reißt.
Für Wanderer und Schaulustige ist der erste Eindruck oft geradezu theatralisch in seiner Perfektion: Abgeschiedenheit, weite Panoramen, gastfreundliche Einheimische und jahrhundertealte Häuser. Dieser Schauplatz in der westlichen Balkanregion scheint wie geschaffen für aktuelle Tourismustrends, die kleine, ruhigere Abenteuer und Authentizität schätzen. Klar ist jedoch auch, dass die Bewohner von Lukomir ihre eigene unnachgiebige Version der Realität pflegen – unbeeindruckt von den Erwartungen ihrer Besucher. Jeden Sommer ziehen etwa 17 Familien aus den umliegenden Städten wieder in das Dorf. Sie kommen, um ihre mittelalterlichen Traditionen zu pflegen, ihre Herden zu hüten und sich zu heiligen muslimischen Festen wie Eid al-Adha zu versammeln.
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„Wegen des Mangels an Dienstleistungen ist eine ganze Generation von Einwohnern weggezogen“, sagt Thierry Joubert, der Direktor von Green Visions, einem Anbieter für Abenteuertourismus. Im Jahr 2000 war das Unternehmen mit Sitz in Sarajevo das erste, das Reisende in das Dorf brachte. „Aber die Menschen hier haben diesen Ort immer als heilig betrachtet. Die Ältesten engagieren sich immer noch sehr dafür, die Traditionen am Leben zu erhalten. Und sie haben diese Leidenschaft an ihre Kinder und Enkelkinder weitergegeben. Mit dieser Leidenschaft begannen die Menschen aus dem Dorf, sich für den Tourismus zu engagieren – nicht zum Zweck der Ausbeutung, sondern der Verständigung. Um anderen die Lebensweise dieser freundlichen, hart arbeitenden Menschen zu zeigen. Es war schön, das beobachten und genießen zu können. Lukomir ist zu einem Vorbild dafür geworden, wie Tourismus aussehen könnte und sollte, der von der Gemeinde gestaltet wird und diese bereichert.“
Dorfbewohner und Gäste versammeln sich für die jährliche Feier zum Ende der Heumahd vor der Dorfmoschee.
Menschen nehmen während Eid al-Adha an Gebeten in einer Moschee in Lukomir teil.
Dorfbewohner und Besucher führen einen traditionellen Kreistanz auf.
Eines dieser Enkelkinder ist Samra Čomor, deren Eltern aus Lukomir stammen. Sie glaubt, dass ihre Ältesten ideale Vorbilder sind und einen einzigartigen Blick in diese alte europäische Lebensweise bieten, die langsam zu verschwinden droht – nicht nur für Reisende, sondern auch für die junge Generation des Dorfes. Als Kind beklagte sich Samra, die in Sarajevo aufgewachsen ist, darüber, die Sommer in Lukomir verbringen zu müssen. Heute weiß sie, dass ihre Großeltern Vejsil (84) und Rahima Čomor (77) ihr eine unbezahlbare Wertschätzung für die Natur und harte Arbeit vermittelt haben. Beides kommt ihr bei ihrer Arbeit als Reiseleiterin zugute.
Eine Frau macht starken Kaffee für Besucher.
„Der Tourismus ist ein Gewinn für das Dorf", sagt Samra, die im Sommer Wanderer nach Lukomir führt. Sie betont allerdings, dass es eine Arbeitssiedlung sei und die Menschen hier keine Selbstdarsteller sind. „Ich würde es gerne für mich behalten, aber ich teile es auch gerne mit der Welt, weil es einfach geteilt werden muss. Die Menschen hier sind freundlich und offen für Veränderungen, und auf diese Weise haben meine Großeltern einen Weg gefunden, sich in diesen neuen Mechanismus einzufügen. Großvater stellt Holzlöffel her und verkauft sie. Oma strickt Socken. Sie sehen das als eine Möglichkeit, produktiv zu bleiben und Geld zu verdienen, da sie keine Rente und keine großen Ersparnisse haben. Es ist auch eine tolle Sache für sie, mit Menschen aus der ganzen Welt zu sprechen, da sie nie die Möglichkeit hatten, zu reisen und andere Kulturen kennen zu lernen.“
Die Ausflüge führen oft ins Gästehaus der Gemeinde, Ljetna Bašta, was „Sommergarten“ bedeutet. Wenn die Wanderer ihre Tagesrucksäcke um einen grob gesägten Tisch im Freien fallen lassen, wird das Mittagessen aufgetischt: Teller mit gerösteten Kartoffeln und Paprika, frische Zwiebelscheiben, pikante Bureks aus Blätterteig mit Fleischfüllung und Fladenbrot gefüllt mit Käse und Spinat. Wenn die Besucher Zeit zum Durchatmen und Ankommen hatten, bemerken sie die Geräusche des täglichen Lebens, die von den Bergen widerhallen. Großväter und Kinder führen die Schafe durch die Siedlung, vorbei an der Moschee mit dem grünen Dach und dem Minarett und zwischen den Häusern auf Wegen, die durch jahrhundertelangen Gebrauch abgenutzt sind. Frauen lachen und sprechen miteinander über einen Zaun hinweg, bevor sie einen Arm voll Holz zum Feuermachen und Kochen in ihre Häuser bringen. Die natürlichen Rhythmen sind der lebende Beweis dafür, dass ein Besuch im höchstgelegenen Dorf des Landes nicht das Leben zeigt, wie es einmal war, sondern wie es ist.
Der Sternenhimmel erhellt mittelalterliche Grabsteine in der Nähe von Lukomir.
Touristen machen eine Pause auf einem Berghang in der Nähe von Lukomir.
„Das ist einer der wenigen kleinen Orte in Bosnien, der so viel Aufmerksamkeit erhalten hat“, sagt Samra. "Der Hauptgrund dafür ist seine Einzigartigkeit und die Tatsache, dass er immer noch so aussieht wie vor Hunderten von Jahren. Die meisten Orte in Bosnien haben sich verändert – einige aufgrund unglücklicher Ereignisse, einige aufgrund des Fortschritts. Aber dieser Ort wurde in Frieden gelassen. Und jetzt ist er ein Ort des Friedens".
Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.
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