Steinzeitmenschen: Schmuck aus Menschenknochen gibt Aufschluss über Weltanschauung

Eine aktuelle Untersuchung archäologischer Funde aus Nordosteuropa zeigt: Vor 8.200 Jahren nutzten Steinzeitmenschen menschliche Knochen als schmuckvolle Anhänger – eine Praxis, die auf eine besondere Weltanschauung zur damaligen Zeit hinweist.

Von Lisa Lamm
Veröffentlicht am 18. Juli 2022, 09:45 MESZ
Illustration eines der Gräber, in denen Anhänger aus menschlichen Knochen gefunden wurden.

Illustration eines der Gräber, in denen Anhänger aus menschlichen Knochen gefunden wurden. In dem Grab befanden sich zusätzlich Anhänger aus tierischen Knochen sowie ein Anhänger aus einem Elchzahn. Wahrscheinlich bildeten sie zusammen eine Verzierung am Saum eines Gewandes oder eine Art Rassel.

Foto von Tom Björklund

Dass Menschen in der Steinzeit Tierknochen nutzten, um Accessoires oder andere Nutzgegenstände herzustellen, konnte bereits durch zahlreiche archäologische Funde festgestellt und immer wieder bestätigt werden. Bei einer Ausgrabung vor über 90 Jahren auf dem mesolithischen Friedhof der Insel Yuzhniy Oleniy Ostrov in Karelien im Nordwesten Russlands dachten die zuständigen Archäologen zunächst, auf ebensolche tierischen Accessoires gestoßen zu sein. 

Doch eine aktuelle Studie, welche die damaligen Funde neu untersuchte, schreibt diese Geschichte nun neu: Zwölf der 37 damals gefundenen Knochenanhänger sind nicht aus tierischen, sondern aus menschlichen Knochen gefertigt worden – ein Sensationsfund. Die Ergebnisse veröffentlichte das Forschungsteam unter der Leitung von Kristiina Mannermaa, Hauptautorin der Studie und Professorin an der Universität Helsinki, in dem Fachmagazin ScienceDirect. „Dies ist die erste Studie, die die Verwendung von Menschenknochen als Rohmaterial in Russisch-Karelien nachweist”, so Mannermaa.

Einer der Anhänger, der in der Studie neu bewertet wurde. Er besteht aus menschlichen Knochen und wurde von den Menschen vermutlich mit einem scharfen Steinwerkzeug in Form gebracht.

Foto von Mannermaa et al.

Schmuck aus Knochen

Die Verwendung von menschlichen Knochen zur Schmuckherstellung war zur Zeit des Mesolithikum – also etwa zwischen 9.600 und 5.000 v. Chr. – in Europa nicht selten. Dennoch weist die Neubewertung der Knochenanhänger von dem Friedhof, der auf etwa 6.200 v. Chr datiert wird, darauf hin, dass die Praxis noch weiter verbreitet war, als bislang gedacht.

In 22 der 177 Gräbern, die auf dem mesolithischen Friedhof entdeckt wurden, fanden die Archäologen bereits in den 1930er Jahren Knochenanhänger. Für ihre Studie untersuchte das Team um Mannermaa 37 dieser Anhänger, die insgesamt aus sechs der Gräber stammen. „Die Anhänger aus Menschenknochen stammen aus insgesamt drei Gräbern, darunter ein Doppelgrab eines Erwachsenen mit Kind”, so die Forschenden.

Analysiert wurden die Knochen mit der sogenannten ZooMS-Methode, mithilfe derer die Herkunft von Knochen- oder Zahnüberresten bestimmt werden kann. „Abnutzungsspuren an diesen Anhängern weisen darauf hin, dass die Gegenstände vor ihrer Ablage in den Gräbern benutzt wurden“, so die Forschenden. So konnten auch die nicht-menschlichen Knochen ihren Besitzern – hauptsächlich Elche und Hirsche – zugeordnet werden.

BELIEBT

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    Die Gemeinschaft von Mensch und Tier 

    Gefunden wurden die Anhänger aus Menschenknochen oftmals aber nicht alleine. „Die meisten Anhänger aus menschlichen Knochen wurden im gleichen Kontext wie die Anhänger aus Tierzähnen gefunden”, so die Forschenden. Teilweise waren Schmuckstücke vermutlich sogar aus tierischen und menschlichen Elementen gefertigt.

    Die offenbar sehr ähnliche Verwendung von Menschen- und Tierknochen gibt so auch Hinweise auf die Weltanschauung der Menschen aus der Mittelsteinzeit. „Die Tatsache, dass die Verwendung menschlicher Knochen in keiner Weise hervorgehoben wurde und dass die Objekte nicht von Objekten aus Tierknochen zu unterscheiden sind, könnte auf die Verflechtung von Mensch und Tier zur damaligen Zeit hinweisen“, so Mannermaa. Es sei beispielsweise möglich, dass die Verwischung von Mensch und Tier – also die Idee, dass Menschen sich in Tiere oder Tiere sich in Menschen verwandeln – Teil der Lebensauffassung der Menschen war.

    Das hieße allerdings nicht, dass menschliche Überreste von den Steinzeitmenschen als wertlos angesehen wurden. „Tierzahnanhänger waren für die Gemeinschaften, die das Gräberfeld nutzten, bedeutende kulturelle Objekte“, so die Forschenden. Die Tatsache, dass auch menschliche Knochen zu solchen Anhängern gemacht wurden, spräche für den hohen symbolischen Wert der Schmuckstücke.

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