Antike Astragaloi: Wie Knochenwürfel spielerisch halfen, die Welt zu verstehen

Forschende fanden in der Höhlenstadt Maresha in Israel über 530 antike Knochenwürfel. Die Astragaloi sind Zeugnis einer lebhaften, multikulturellen Gesellschaft, in der die Menschen den Sinn des Lebens spielerisch zu ergründen versuchten.

Von Lisa Lamm
Veröffentlicht am 26. Aug. 2022, 15:24 MESZ
Astragaloi: Einige der antiken Knochenwürfel.

Ein Teil der 530 Astragaloi, die in der antiken Stadt Maresha gefunden wurden. Die Sprungbein-Knochen sind von Natur aus fast würfelförmig und wurden in der Vergangenheit vielfältig eingesetzt.

Foto von Yoli Schwartz, Israel Antiquities Authority

Die hellenistische Stadt Maresha im Süden Israels offenbart immer wieder spektakuläre Geheimnisse aus der Antike. Nur ein Bruchteil des gesamten ober- und unterirdischen Komplexes ist bislang archäologisch erforscht worden, sodass das Bild der Menschen vor über 2.300 Jahren nur langsam vervollständigt wird. Ein neues Puzzleteil wurde nun durch den Fund von 530 Knochenwürfeln erschlossen. Die sogenannten Astragaloi sind Sprungbeine verschiedener Tiere, die von Natur aus eine würfelartige Form besitzen. Die Knochenwürfel aus Maresha stammen von Ziegen, Rindern und Schweinen.

Untersucht wurden sie nun von der Archäologin Lee Perry-Gal von der Israel Antiquities Authority zusammen mit ihren Kollegen Adi Erlich und Ian Stern im Rahmen einer Studie, die in der Zeitschrift Levant erschien. „Die Astragaloi aus Maresha sind wirklich etwas Besonderes“, sagt Perry-Gal. „Durch ihren guten Erhaltungszustand und die schiere Menge können sie viel über die Atmosphäre und das Leben in Maresha erzählen.“ So erkannte das Forschungsteam, dass die Knochenwürfel von den Menschen nicht nur zum Spielen benutzt wurden, sondern auch, um den Sinn des Lebens zu verstehen.

Lee Perry-Gal hat die Knochenwürfel mit ihren Kolleginnen und Kollegen genau unter die Lupe genommen. Sie fasziniert vor allem die kulturelle Vielfalt, die in der Antike in Maresha herrschte und die spielerische Art, mit der die Bewohner die Fragen des Lebens zu beantworten versuchten.

Foto von Yoli Schwartz, Israel Antiquities Authority

Wichtige Kulturgüter

Gefunden wurden die Astragaloi im Rahmen von Ausgrabungen, die bereits seit mehr als 20 Jahren unter der Leitung von Ian Stern, Archäologe und Co-Autor der Studie, in Maresha stattfinden. Dabei wurden die 530 Knochenwürfel allerdings nicht verstreut über die gesamte Fläche entdeckt, sondern konzentriert an wenigen Fundorten. „Das unterirdische Höhlensystem in Maresha besteht aus hunderten von Höhlen”, so Perry-Gal. „Die Knochen haben wir aber hauptsächlich an zwei Fundorten entdeckt.“ Auch dadurch könne man den Stellenwert der Knochenwürfel für die damaligen Menschen erkennen. „Sie wurden von den Bewohnern quasi gesammelt“, so die Archäologin.

Und nicht nur wegen der konzentrierten Menge der Astragaloi kann man auf ihren hohen Stellenwert in der Gesellschaft schließen. Laut Perry-Gal waren viele der Knochen poliert, wenige beschädigt und teilweise sogar durch verschiedene Metalle modifiziert worden. „Dadurch wissen wir, dass es sich bei den Knochen nicht nur um zufällig übrig gebliebene Tierknochen handelt, sondern dass sie wirklich Astragaloi waren, die von den Menschen auch genutzt wurden“.

Besonders spannend ist dabei der Kontext, in dem die Knochenwürfel damals genutzt wurden. Denn die beiden Hauptfundorte umfassen einen damals häuslich genutzten Bereich und einen, den man mit religiösen oder rituellen Praktiken in Verbindung bringen kann. In jenem religiösen Teil fanden die Forschenden ganze 57 Prozent der 530 Astragaloi. Das bedeutet einerseits, dass die Knochenwürfel vermutlich stark in den Alltag der Bewohner integriert waren und andererseits, dass sie vielseitig genutzt wurden.

BELIEBT

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    Rituale und Wahrsagungen

    Um die genaue Funktion der Würfel besser zu verstehen, untersuchten die Forschenden zunächst Inschriften, die einige der Knochen aufwiesen, in Zusammenarbeit mit dem Epigrafik-Experten Avner Ecker. Neben verschiedenen Wörtern und Phrasen, die klar in einen spielerischen Kontext eingeordnet werden konnten – unter anderem „Stopp“ oder „Räuber“ – fand das Team auch Inschriften, die sich an Göttinnen oder Götter richteten, teilweise mit konkreten Wünschen.

    „Die meisten dieser Wünsche bezogen sich auf Kinderplanung oder waren an Aphrodite gerichtet – also Dinge, mit denen sich vor allem die Frauen auseinandersetzten“, so Perry-Gal. Dass vor allem Frauen die Astragaloi benutzten, weiß man außerdem auch aus antiken Texten oder Zeichnungen, die Frauen bei der Nutzung der Würfel zeigen oder darüber berichten. Außerdem waren die Knochenwürfel bei Kindern beliebt, die gerne mit ihnen spielten.

    Bereits hier kann man die mehrschichtige Bedeutung der Astragaloi erkennen – einerseits zum Spiel und andererseits zu rituellen Zwecken. „Die Grenze zwischen Spielen und Wahrsagerei oder Ritualen war damals nicht so klar, wie sie vielleicht heute ist“, so Perry-Gal. Das könne man auch daran erkennen, dass die Würfel nicht nur in der Nähe von Schreinen oder religiösen Plätzen gefunden wurden. „Die Menschen versuchten damals zu verstehen, wie die Welt funktioniert“, sagt Perry-Gal. Vor allem in Bezug auf Schicksalsschläge oder positive Erlebnisse. Wichtig sei aber, dass all diese Prozesse nicht streng rituell abliefen, sondern immer ein spielerisches Element bei diesen Wahrsagungen mitschwang – beispielsweise durch das Werfen des Würfels, nachdem ihm eine Frage gestellt wurde.

    “Solche Ergebnisse erinnern uns daran, dass die Menschen überall auf der Welt ganz normale Menschen sind. Sie träumen und hoffen, und trotz der Härte des Alltags finden sie Zeit für Spiel und Freizeit.”

    von Eli Eskosido, Leiter der Israel Antiquities Authority

    Multikulturelle Gesellschaft

    Dass die Astragaloi in einem solchen rituellen oder hellseherischen Kontext genutzt wurden, wird zusätzlich durch einen weiteren Fund deutlich: mehrere zusammen mit den Astragaloi entdeckte, sogenannte Ostraka – also Tonscherben – mit arabischen Inschriften. Laut Perry-Gal bezogen sich auch jene Phrasen auf Wünsche oder Weissagungen, die wohl den Sinn des Lebens verständlicher machen sollten.

    Und das Zusammenspiel der Astralagoi und der Ostraka zeigt noch etwas: In Maresha fanden eine Vielzahl von Kulturen zusammen. „Wir befinden uns zwar im Kontext des Hellenismus, aber Maresha wurde von ganz verschiedenen Menschen und Bevölkerungsgruppen bewohnt“, so Perry-Gal. Wohl auch deshalb schien das antike Maresha ein außergewöhnlich lebhafter Ort gewesen zu sein. „Wir finden immer wieder Zeichen vom Zusammenspiel verschiedener Kulturen und einem beeindruckenden Entwicklungsgeist“, sagt Perry-Gal. 

    Eli Eskosido, Leiter der Israel Antiquities Authority, fasziniert vor allem der Einblick in das Leben und die Bräuche der antiken Welt: „Solche Ergebnisse erinnern uns daran, dass die Menschen überall auf der Welt ganz normale Menschen sind. Sie träumen und hoffen, und trotz der Härte des Alltags finden sie Zeit für Spiel und Freizeit.“

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