Folter und sexualisierte Gewalt in Colonia Dignidad: Warum die Verbrechen einer deutschen Sekte bis heute ungesühnt sind
In der deutschen Sekte Colonia Dignidad standen fast vier Jahrzehnte lang Folter und sexuelle Gewalt an der Tagesordnung. Warum die strafrechtliche Aufarbeitung bis heute noch nicht abgeschlossen ist, weiß Politikwissenschaftler Jan Stehle.
Die Colonia Dignidad hat sich in Chile niedergelassen. Die Siedlung existiert bis heute, aber unter anderem Namen. Auf dem Foto das "Freihaus", in dem Paul Schäfer wohnte.
In der Colonia Dignidad – einer Siedlung mit deutschen Auswanderern inmitten der chilenischen Landschaft – wurden über vier Jahrzehnte grausame Verbrechen begangen. Der deutsche Gründer Paul Schäfer konnte in der „Kolonie der Würde“, wie sie wortwörtlich aus dem Spanischen übersetzt heißt, zwischen den 1960er- und 2000er-Jahren ungestraft unsägliche Gräueltaten an seinen Anhängerinnen und Anhängern verrichten: Sexualisierte Gewalt an Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, Freiheitsberaubung und Folter gehörten zur Tagesordnung. Während der Pinochet-Diktatur (1973-1990) wurden dort außerdem hunderte Oppositionelle gefoltert, mehrere Dutzend von ihnen ermordet. Getarnt als religiöse Sekte verpasste Schäfer der Colonia Dignidad „einen vermeintlich wohltätigen Anstrich“, wie es Jan Stehle beschreibt. Der Politikwissenschaftler, Ökonom und Menschenrechtsaktivist forscht am Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika (FDCL) in Berlin schon seit Jahren zum Thema Colonia Dignidad. Auf verschiedenen Ebenen setzt er sich für die Aufarbeitung der dort begangenen Verbrechen ein.
„Die Colonia Dignidad war das – wie ich es nenne – ‚Privatprojekt‘ des Laienpredigers Paul Schäfer“, sagt Stehle. Obgleich die Siedlung heute einen anderen Namen trägt, leben noch immer Menschen dort. Die meisten der im Namen der Sekte verübten Verbrechen sind bis heute ungestraft geblieben. Der Fall „Colonia Dignidad“ wird nur schleppend strafrechtlich, politisch und geschichtlich aufgearbeitet. Woran das liegt und warum die Colonia Dignidad auf keinen Fall in Vergessenheit geraten darf, erklärt Jan Stehle im Interview mit National Geographic.
Dr. Jan Stehle ist Politikwissenschaftler, Ökonom und Menschenrechtsaktivist am Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika (FDCL). Das Buch Der Fall Colonia Dignidad von Jan Stehle ist im transcript-Verlag erschienen.
Grausame Sekte: Was geschah in der Colonia Dignidad?
Der Gründer Paul Schäfer stammte aus Bonn. In den 1950er-Jahren wurde der damalige Jugendpfleger, der an Einrichtungen der Evangelischen Kirche beschäftigt war, bereits auffällig: Es gab immer wieder Hinweise, dass Schäfer minderjährigen Jungen in seiner Obhut sexualisierte Gewalt antun würde. Es kam nie zur Anzeige – der Jugendpfleger verlor deshalb aber mehrere Male seine Arbeitsstelle, wie der Experte Jan Stehle berichtet. Nachdem Schäfer schließlich diskret aus dem Dienst der Kirche entlassen worden war, gründete er in Siegburg 1956 seine erste eigene religiöse Gruppe, die Private Sociale Mission e. V.
Seine engsten Anhängerinnen und Anhänger übertrugen dieser Sekte ihr Privatvermögen – ein übliches Vorgehen bei Gruppierungen mit sektierischem Charakter. Ohne dafür entlohnt zu werden, errichteten die Sektenmitglieder nach Angaben des Politikwissenschaftlers Stehle ein eigenes Jugendheim. 1960 erstatteten die ersten Eltern der Jungen, die Schäfer sexuell missbraucht hatte, Anzeige. „Als das Amtsgericht Siegburg im Februar 1961 einen Haftbefehl erließ, befand sich Schäfer mit seiner Gruppe von Getreuen bereits in Chile“, erklärt Stehle. Paul Schäfer war im selben Jahr bereits mit 150 Anhängerinnen und Anhängern vor dem Gesetz ins Ausland geflohen.
In Chile gründete Schäfer ebenfalls noch 1961 die Colonia Dignidad, etwa 400 Kilometer südlich der Hauptstadt Santiago. Fernab jeglicher Zivilisation entfaltete sich die Sekte zu einer totalitären Gruppierung mit pseudo-religiösen Zwangsstrukturen, so der Politikwissenschaftler Stehle. An der Spitze der Macht befand sich selbstverständlich Paul Schäfer. Familien mussten getrennt voneinander leben, die Anhängerinnen und Anhänger wurden in separaten Frauen-, Männer- und Kindergruppen aufgeteilt. „Auch freundschaftliche Bindungen wurden unterdrückt. Der Alltag war vom Kindesalter an von harter Arbeit geprägt“, sagt der Experte.
Die Menschen wurden ihrer Freiheit beraubt und erlebten durch Schäfer sexualisierte Gewalt. Andere hochrangige Sektenmitglieder unterstützten Schäfer, in dem sie ihm Kinder zuführten. Der Politikwissenschaftler fasst zusammen: „Schäfers Wort galt und wer sich widersetzte, wurde hart bestraft. Das sollte die Willenskraft brechen und die Erinnerungen auslöschen.“ Körperliche Misshandlungen gehörten zum Alltag in der Colonia Dignidad. Dazu kam die häufig eingesetzte medizinisch nicht indizierte Vergabe von Psychopharmaka und der Einsatz von Elektroschocks.
Im Zeitraum zwischen der Gründung 1961 und der Verhaftung von Paul Schäfer im Jahr 2005 lebten insgesamt etwa 400 Menschen in der Colonia Dignidad, deren Leben von diesen Strukturen geprägt waren.
Colonia Dignidad: Zu viele Täter bleiben ungestraft
Erst 1996 kam es in Chile wieder zur Strafanzeige gegen Paul Schäfer: Die Eltern von chilenischen Kindern, die in der Colonia Dignidad systematisch sexualisierter Gewalt ausgesetzt waren, zeigten den Sektenführer an. Dieser flüchtete gleich im nächsten Jahr nach Argentinien. Erst 2005 konnte er dort von Journalistinnen und Journalisten sowie dem Opferanwalt Hernán Fernández aufgespürt, festgenommen und zurück nach Chile gebracht werden.
Paul Schäfer wurde noch im selben Jahr der Prozess gemacht. 2010 starb er im Hochsicherheitsgefängnis von Santiago de Chile, wie Jan Stehle berichtet. Zu den meisten Tatkomplexen (allgemeine Tatvorwürfe) innerhalb der Colonia Dignidad gab es seitens der chilenischen Justiz Verurteilungen. Paul Schäfer war vermutlich kein Einzeltäter, ob andere Sektenmitglieder aber ebenfalls an den Misshandlungen und dem Missbrauch beteiligt gewesen sind, ist bis heute nicht vollständig geklärt. „Die meisten Einzeltaten wurden jedoch nicht untersucht“, so der Politikwissenschaftler. „Nur wenige Täter mussten Haftstrafen antreten, heute sitzt keiner mehr im Gefängnis.“
Angesichts der Gräueltaten, die in der Colonia Dignidad von Paul Schäfer und aller Wahrscheinlichkeit nach auch von einigen seiner Anhängerinnen und Anhängern verübt wurden, ist das kaum vorstellbar. Stehle erklärt, dass viele der mutmaßlichen Täter zurück nach Deutschland flohen. Auch hier wurde trotz jahrzehntelanger Ermittlungen nie ein Beschuldigter angeklagt. Und das, obwohl es laut dem Berliner Wissenschaftler nicht abzustreiten ist, dass die deutsche Justiz zuständig ist. „Diese Straflosigkeit ist skandalös“, sagt er. „Für die Opfer ist es frustrierend und retraumatisierend, wenn Täter – wie der in Chile verurteilte Arzt der Colonia, Hartmut Hopp – hierzulande für ihre Taten nicht belangt werden.“
Doch warum verläuft die strafrechtliche Aufarbeitung des Falls „Colonia Dignidad“ derart schleppend? Der Experte Jan Stehle wirft beiden Staaten vor, sie hätten trotz Kenntnis über die Verbrechen versäumt, angemessen einzuschreiten und somit jahrzehntelang das Begehen von Straftaten ermöglicht. „Seitdem schiebt man sich die Verantwortung zu, obwohl beide Staaten für die Taten der Colonia Dignidad mitverantwortlich sind“, schlussfolgert Stehle. Die Leidtragenden des Ganzen seien allen voran die Betroffenen, aber auch die Gesellschaft als Ganzes.
Genauso erschüttert ist Stehle darüber, wie wenig engagiert die Regierungen von Chile und Deutschland die Errichtung einer Gedenk- und Bildungsstätte am historischen Ort vorantreiben. So gehöre das doch zum Mandat einer 2017 von beiden Regierungen gegründeten bilateralen Kommission.
Die Aufarbeitung, die strafrechtliche ebenso wie die politische und historische, sei laut Jan Stehle überaus wichtig. „Wenn schwere Menschenrechtsverbrechen nicht aufgeklärt und sanktioniert werden, können Gesellschaften nicht daraus lernen und Ähnliches in Zukunft verhindern“, so der Politikwissenschaftler. Im Bezug auf die Colonia Dignidad bedeute das, dass post-sektiererische Tendenzen und der Schweigepakt der Täter bestärkt würden.
Heute nennt sich die Siedlung Villa Baviera.
Colonia Dignidad heute: Villa Baviera
Auch heute leben noch Menschen in einer religiösen Gemeinschaft in der Siedlung der einstigen Colonia Dignidad. Es sind sowohl ehemalige Sektenmitglieder als auch ihre Nachkommen. Jetzt nennt sich die Gemeinschaft aber Villa Baviera, was übersetzt „bayerisches Dorf“ bedeutet. Viele der einstigen Bewohnerinnen und Bewohner sind nach Deutschland zurückgekehrt oder haben sich an anderen Orten in Chile niedergelassen – etwa 100 Personen sind jedoch in der Siedlung bis heute geblieben.
Zwar habe sich laut Jan Stehle vieles zur einstigen Colonia Dignidad geändert, die Unternehmensstruktur hinter den wirtschaftlichen Aktivitäten der Siedlung sei jedoch gleich geblieben: „Es ist noch immer das Firmengeflecht, das Schäfer und die Führungsclique bereits in den 1980er-Jahren gegründet hatten.“
Eigentlich hätten die Firmen- und Vermögensstrukturen von der 2017 gegründeten bilateralen deutsch-chilenischen Regierungskommission aufgeklärt werden müssen. Das Vermögen, das der Ökonom und Politikwissenschaftler Jan Stehle auf etwa mehrere Millionen Euro schätzt, hätte den Opfern zugutekommen sollen. Das sei laut Stehle aber bis heute nicht passiert.
Trotz des schleppenden Tempos der Aufarbeitung der Verbrechen der Colonia Dignidad bleibt der Experte optimistisch: „Im kommenden September jährt sich der Pinochet-Putsch in Chile zum 50. Mal. Ich habe die Hoffnung, dass noch im Vorfeld chilenische und deutsche Regierungsvertreter, beispielsweise die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock, in der ehemaligen Colonia Dignidad den Grundstein für eine Gedenk- Dokumentations- und Bildungsstätte legen. Dies wäre ein wichtiger Schritt hin zu einer angemessenen Aufarbeitung dieser schlimmen Geschehnisse.“