Reparieren mit Gold: Die japanische Tradition des Kintsugi
Kintsugi repariert zerbrochene Keramikstücke mit Hilfe von Gold. In den letzten Jahren ist um die traditionelle japanische Handwerkskunst ein regelrechter Hype entstanden. Ein Überblick über Ursprung, Bedeutung und die Philosophie hinter Kintsugi.
Klares Erkennungszeichen von Kintsugi-Keramik: Die goldenen Nähte an den Bruchstellen.
Wie Adern ziehen sich die goldenen Linien durch die alte Teeschale. Sie sind unregelmäßig und folgen keinem bestimmten Muster, sondern den Rändern der Scherben, die sie miteinander verbinden - und hauchen so zerbrochenen Gegenständen neues Leben ein. Gleichzeitig verleihen sie ihnen ein neues, einzigartiges Erscheinungsbild, das den - vermeintlichen - Makel des Kaputten in den Vordergrund stellt.
Kintsugi, die japanischen Reparaturmethode für Keramik, ist schon Jahrhunderte alt: Zerbrochene Keramikgegenstände, wie Teeschalen, Vasen oder Teller werden bei Kintsugi mit dem japanischen Naturlack Urushi geklebt und wieder zusammengefügt. Die Bruchstellen werden dabei nicht verdeckt, sondern durch die Verwendung von Goldstaub absichtlich hervorgehoben. Diesem Umstand hat die Tradition auch ihren Namen zu verdanken: Kintsugi lässt sich mit „Goldverbindung“ übersetzen. Seit einigen Jahren erfreut sich die Reperaturtechnik auch im Westen immer größerer Beliebtheit.
Die Geschichte von Kintsugi: Schönheit des Einfachen
Die Ursprünge von Kintsugi liegen in der japanischen Teekultur. Während Keramikgefäße in Japan bereits vor rund 7000 Jahren mit Urushi-Lack geklebt wurden, entwickelte sich Kintsugi, wie man es heute kennt, insbesondere vor dem Hintergrund einer philosophischen Umwälzung im Land. „Ende des 15., Anfang des 16. Jahrhunderts vollzog sich ein Umbruch in der kulturellen Tee-Tradition Japans (…)“, schreibt der Restaurator Stefan Drescher in seinem 2011 erschienenen Buch „Kintsugi Technik“, dem ersten deutschsprachigen Standardwerk zum Thema. Bei Teezeremonien setzte sich zu dieser Zeit zunehmend die Philosophie des Wabi Sabi durch, die Schönheit auch in der Einfachheit und Unvollkommenheit sieht.
Der Restaurator Stefan Drescher befasst sich seit 2005 mit Kintsugi. 2011 hat er mit "Kintsugi Technik" das erste deutschsprachige Standardwerk zum Thema veröffentlicht und als freier Dozent bietet er auch Schulungen zur Kintsugi-Technik an. 2023 veröffentlicht Drescher mit dem "Handbuch Kintsugi-Technik" ein weiteres Fachbuch zum Thema, das sich insbesondere mit den vielen verschiedenen Kintsugi-Techniken auseinandersetzt.
Die neue Sichtweise führte dazu, dass man statt prunkvollen Teegefäßen einfacheres Geschirr verwendete. Dazu zählte auch sogenannte Raku-Keramik, die als besonders zerbrechlich gilt. Das – zwar einfache aber dennoch wertvolle – Teegeschirr hatte damals eine große Bedeutung für die Menschen in Japan und teils vererbte man es von Generation zu Generation. Ging das zerbrechliche Teegeschirr kaputt, war das Kleben mit Urushi die einzige Möglichkeit, es zu reparieren. „Um das Objekt noch weiter aufzuwerten, wurden die Klebenähte mit Pudergold dekoriert“, sagt Drescher im Interview mit NATIONAL GEOGRAPHIC.
Die Herstellung von Kintsugi: Eine fast vergessene Tradition
Die Anwendung von Kintsugi war und ist dabei ein äußerst aufwändiger und kostspieliger Prozess. Zudem unterscheidet sie sich von Werkstatt zu Werkstatt. „Es gibt nicht die Kintsugi-Technik“, sagt Drescher, der selbst Schulungen zum Thema anbietet. Schon bei der Auswahl des Urushi gäbe es mehrere Varianten, die in Frage kämen. Neben dem Kleben der Bruchstücke sei immer wieder auch das Aushärten des Gegenstands in einem Feuchtschrank, das Abschleifen von Unregelmäßigkeiten und das Auftragen neuer Lackschichten nötig, ehe an den Klebestellen das kennzeichnende Pudergold aufgetragen werden kann. Bis ein Kintsugi-Gegenstand fertiggestellt ist, können schon einmal mehrere Wochen vergehen. „Viele können sich nicht vorstellen, wie arbeitsaufwändig das ist“, sagt Drescher. Diese Tatsache und das Aufkommen von neuen, effizienteren und günstigeren Klebetechniken waren mitunter Gründe, warum Kintsugi mit den Jahrhunderten selbst in Japan allmählich in Vergessenheit geriet.
Ein mit Kintsugi wieder zusammengesetzter Raku-Behälter aus der Werkstatt Stefan Dreschers.
Die Bedeutung von Kintsugi heute: Wertvolles erhalten
Erst um die Jahrtausendwende kam wieder etwas Bewegung in die Kintsugi-Thematik. „Bis vor rund zwanzig Jahren war die Technik nur wenigen Künstlern, Handwerkern oder Experten, die sich mit historischer japanischer Lackkunst beschäftigten, bekannt“, erklärt Shinya Maezaki, Professor an der Women’s University in Kyoto und Experte für Keramik und japanische Lackkunst. Um das Jahr 2000 herum wurde in Japan das erste Fachbuch zu Kintsugi veröffentlicht. Seither würde auch in der breiten Öffentlichkeit das Interesse an Kintsugi steigen. Inzwischen werden in Japan auch immer mehr Kurse zum Erlernen von traditionellen Kintsugi-Techniken angeboten. „Obwohl es viel Zeit und Geld in Anspruch nimmt, wird die Idee, ein Erinnerungsstück oder ein wertvolles Keramikstück zu reparieren, von Menschen in Japan sehr begrüßt“, so Maezaki.
Shinya Maezaki ist Professor an der Women’s University in Kyoto und Experte für Keramik und japanische Lackkunst.
In der westlichen Welt war Kintsugi ebenfalls noch bis vor ein paar Jahren weitgehend unbekannt. Als Stefan Drescher sich um das Jahr 2005 erstmals mit dem Thema beschäftigte, waren die vorhandenen Quellen größtenteils englisch- oder japanischsprachig. Insbesondere von den sozialen Medien befeuert, entwickelte sich um Kintsugi auch in Deutschland ein regelrechter Hype: Zahlreiche Kintsugi-Kurse und -Workshops werden angeboten, online finden sich dutzende Anleitungen und es Bücher und Ratgeber werden gedruckt. Für Stefan Drescher hat der Hype allerdings nicht nur etwas Gutes: Damit würden Entwicklungen einhergehen, die nur bedingt etwas mit traditionellem Kintsugi gemein hätten.
Probleme des Hype um Kintsugi: Philosophie, Psychologie und Kopie
Eine neue Entwicklung, die insbesondere aus dem esoterischen Bereich kommt, würde das Prinzip von Kintsugi beispielsweise auch auf die menschliche Psyche auslegen. „Kintsugi für die Seele“, „Emotionale Wunden heilen mit Kintsugi“ – so oder so ähnlich klingen zahlreiche Buchveröffentlichungen der letzten Jahre. Mit der eigentlichen Bedeutung von Kintsugi habe dies aber nur noch wenig gemein. „Traditionell ging es immer darum, das Stück zu reparieren und aufzuwerten“, sagt Drescher. Das Heilen von seelischen Wunden sei lediglich ein westliches philosophisches Konzept, das damit in Verbindung gebracht werde.
Daneben gehe mit dem Kintsugi-Hype auch das Entstehen von billigen Kopien und Betrügereien einher. „Es wird heutzutage alles als Kintsugi bezeichnet, wo irgendwo ein Goldstrich drauf ist“, so Drescher. Töpfe und Vasen mit goldenen Nähten, die sich auf den ersten Blick nicht von einem traditionell gefertigten Original unterscheiden liessen, könne man inzwischen günstig beim Discounter erwerben. Wie auch bei vielen anderen Keramikstücken würden auch bei Kintsugi viele die ähnlich aussehenden billigen Alternativen dem teuren und aufwändig hergestellten Original vorziehen.
Nicht alles, was Gold ist, ist also gleich auch Kintsugi. Und der Hype um die japanische Technik mit all seinen Begleiterscheinungen wird wohl so schnell nicht mehr abnehmen. Trotzdem bewirkt das gestiegene Interesse an Kintsugi auch für Stefan Drescher etwas Gutes: „Es gibt viele Menschen, die sich nun mit dem Original-Kintsugi auseinandersetzen und es zu schätzen wissen.“
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