Nicht-binäre Menschen gab es bereits in der Steinzeit
Archäologen haben Knochen und Grabbeigaben aus prähistorischen Gräbern untersucht. Dabei fanden sie Hinweise darauf, dass schon in der Stein- und Bronzezeit das biologische Geschlecht nicht immer mit dem sozialen übereinstimmte.
Knochen und Grabbeigaben in prähistorischen Begräbnisstätten können sowohl über das biologische als auch das soziale Geschlecht der Verstorbenen Aufschluss geben.
Mann oder Frau? In der binären Geschlechterordnung gibt es nur die eine oder die andere Möglichkeit und die Antwort liefert das biologische Geschlecht, mit dem jemand geboren wurde. In einer Welt ohne Zwischentöne würde eine biologische Frau in der Gesellschaft eine weibliche Rolle, ein biologischer Mann eine männliche Rolle einnehmen. Doch so einfach ist es nicht. Es gibt nicht-binäre Menschen, die entweder keinem oder nicht vollständig einem Geschlecht zugehörig sind. Ihre Geschlechtsidentität wird im simplen binären Modell nicht berücksichtigt.
Erst im 20. Jahrhundert begann die Forschung, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen: Was macht eine Frau zur Frau und einen Mann zum Mann? Und was bedeutet es, dem ein oder anderen Geschlecht anzugehören? Noch immer ist die Vorstellung weit verbreitet, dass erst diese Diskussion den Stein des Nicht-binären ins Rollen gebracht hat und dass Männlichkeit und Weiblichkeit bis dahin immer stark voneinander abgegrenzt waren, die Vergangenheit der Menschheit also strikt binär war.
Als Frau geboren, als Mann gelebt?
Eine Studie von Archäologen der Georg-August-Universität in Göttingen, die im Cambridge Archaeological Journal erschienen ist, zeigt jedoch, dass diese Annahme falsch ist. Dass biologisches und soziales Geschlecht sich in manchen Fällen nicht decken, ist den Forschenden zufolge bei Weitem kein modernes Phänomen: Schon im prähistorischen Europa lebten nicht-binäre Menschen. Nachweisen konnten sie das anhand der Analyse von tausende Jahre alten Grabfunden.
Hochmoderne wissenschaftliche Methoden machen es heute möglich, anhand der sterblichen Überreste das biologische Geschlecht eines Menschen zu bestimmen, der vor vielen hundert oder tausenden Jahren gelebt hat. Das soziale Geschlecht herauszufinden – und damit mehr über die Geschlechternormen und -identitäten in prähistorischen Gesellschaften – ist eine weitaus größere Herausforderung, denn darüber geben Knochen keinen Aufschluss. Hinweise darauf, ob eine Person als Frau oder Mann gelebt hat und gesellschaftlich anerkannt war, können jedoch geschlechtsspezifische Grabbeigaben liefern: Männer wurden meist mit Waffen, Frauen mit Schmuck beerdigt.
Diesem Ansatz folgend sammelte das Studienteam Daten von über 1.000 Individuen, die in der Bronze- und Jungsteinzeit im heutigen Deutschland, Österreich und Italien bestattet wurden. Der finale Datensatz umfasst einen Zeitraum von fast 4.000 Jahren und reicht zurück bis ins Jahr 5500 v. Chr. Bei etwa 30 Prozent der Individuen konnte sowohl das biologische als auch das soziale Geschlecht bestimmt werden.
Entgegen der „binären Norm“
Im nächsten Schritt ermittelte das Studienteam, wie häufig es Widersprüche zwischen biologischem Geschlecht und Grabbeigaben gab. Das Ergebnis: In prähistorischen Zeiten waren das biologische und soziale Geschlecht meist deckungsgleich. Die Untersuchungen ergaben aber auch, dass etwa zehn Prozent der Individuen, von denen biologisches und soziales Geschlecht bekannt waren, nicht der „binären Norm“ entsprachen.
“Die Zahlen sagen uns, dass wir nicht-binäre Personen historisch gesehen nicht als Ausnahmen von einer Regel betrachten können.”
„Die Zahlen sagen uns, dass wir nicht-binäre Personen historisch gesehen nicht als Ausnahmen von einer Regel betrachten können“, sagt Eleonore Pape, Anthropologin am Max-Planck-Institut, die die Forschung an der Universität Göttingen durchgeführt hat. „Wir sollten sie eher als Minderheiten begreifen, die unter Umständen formal anerkannt, geschützt und sogar verehrt werden konnten.“
Genauere Forschungsmethoden
Das Studienteam räumt ein, dass der tatsächliche Anteil nicht-binärer Menschen in der prähistorischen Gesellschaft nicht konkret abzuschätzen sei. „Das liegt nicht nur an der Fehleranfälligkeit der Methoden, zum Beispiel bei der Untersuchung der Knochen“, sagt Nicola Ialongo, Archäologe an der Universität Göttingen. „Wir müssen auch den Bestätigungsfehler berücksichtigen: Wir Menschen neigen dazu, das zu finden, was wir finden wollen.“
Um ihre Ergebnisse zu untermauern, wollen die Forschenden nun biomolekulare Untersuchungsmethoden ansetzen. So soll zum Beispiel durch die Analyse der DNA oder der Proteine im Zahnschmelz der Verstorbenen ihr biologisches Geschlecht konkreter bestimmt werden, um die Fehlerquote in diesem Bereich herabzusetzen.