Integration über Religion: Indiens spiritueller Transgender-Orden
Lange Zeit mussten Transgender-Frauen in Indien um gesellschaftliche und religiöse Teilhabe kämpfen. 2019 feierte ein spiritueller Orden einen Meilenstein.
Die Transgender-Aktivistin Laxmi Narayan Tripathi führt eine religiöse Prozession während der Ardh Kumbh Mela 2019 an, Indiens größtem spirituellen Fest und der größten Versammlung von Menschen auf dem Planeten.
Pavitra Nimbhorakar sagt, dass sie in all ihren 43 Jahren noch nie so viel Liebe und Respekt erhalten hat wie 2019 während der 49 Tage der Ardh Kumbh Mela. Indiens größtes spirituelles Festival ist gleichzeitig die größte Zusammenkunft von Menschen auf dem Planeten.
Alle drei Jahre findet die Kumbh Mela („Fest des Kruges“) in vier indischen Städten statt – Haridwar, Nashik, Ujjain und Prayagraj –, die sich alle in der Nähe des Zusammenflusses von drei Flüssen befinden: Ganges, Yamuna und dem mythischen Saraswati. An diesem Zusammenfluss wurde laut religiösen Texten während eines Kampfes zwischen Göttern und Dämonen die Essenz der Unsterblichkeit aus einer Urne verschüttet. Für geschätzte 250 Millionen Gläubige, die die Kumbh besuchen, kann das Eintauchen in den Ganges während des spirituellen Festes sie von ihren Sünden und negativen Einflüssen reinigen.
Pavitra Nimbhorakar, eine der Leiterinnen der Kinnar Akhada, ist während der Kumbh für die 2.500 Mitglieder des hinduistischen Asketenordens verantwortlich.
Laxmi Narayan Tripathi umarmt einen Gläubigen.
Nimbhorakar ist eine der Leiterinnen der Kinnar Akhada, ein hinduistischer Asketenorden, der 2015 von der Transgender-Aktivistin Laxmi Narayan Tripathi gegründet wurde. Sie kümmerte um die administrativen Aufgaben und sorgte während der Kumbh für den Komfort der rund 2.500 Mitglieder des Ordens – zumeist Transgender-Frauen.
Gleichzeitig hielt sie stundenlang Reden über den Platz, den Kinnars (Transgender-Personen) in der hinduistischen Religion einnehmen. „Wir werden in den religiösen Texten der Hindus als Halbgötter bezeichnet und haben von Lord Ram die Macht erhalten, zu segnen“, erzählt sie, während Scharen von Besuchern im Versammlungszelt der Akhada aufmerksam zuhören.
Die 19-jährige Rishika Kevat aus Indore bereitet sich auf den Shahi Snan vor – ein rituelles Eintauchen in die Gewässer, in denen sich die Flüsse Ganges und Yamuna treffen.
Pavitra Nimbhorakar erteilt einer Pilgerin ihren Segen.
An jedem der 49 Tage des Festivals, das 2019 zwischen Januar und Februar stattfand, strömten zwischen 20.000 und 30.000 Besucher zum Kinnar Akhara. Nachdem sie Nimbhorakar auf YouTube, im Fernsehen oder in Zeitungen gesehen hatten, kamen Besucher aus verschiedenen Teilen des Landes mit dem Wunsch, sie zu treffen, und sprachen sie als Mataji (Mutter) oder Maharajji (Guru) an. Manchmal sprachen sie mit ihr über ihre Familienprobleme, in der Hoffnung, dass Nimbhorakar eine Lösung für sie finden würde. Bei anderen Gelegenheiten wollten sie einfach nur ihre Hand halten oder sie umarmen, um die Energie jener Person zu spüren, die sie für eine Heilige halten.
Diese Wertschätzung steht in krassem Gegensatz zu Nimbhorakars vorherigem Leben. Sie wurde wegen ihrer Weiblichkeit gehänselt, von ihren Brüdern wegen ihrer Andersartigkeit verprügelt und öffentlich beschimpft. Es war ein langer Weg für sie, bis sie dort ankam, wo sie jetzt ist. „Ich muss in meinem früheren Leben sicher etwas Gutes getan haben, um diesen Tag erleben zu dürfen“, sagt sie mit brüchiger Stimme.
Akhadas sind historisch gesehen eine Männerbastion. Es gibt keine Akhadas, die von Cisgender-Frauen geleitet werden, und nur wenige weibliche asketische Mitglieder in einigen Gruppen. Trotzdem wurde der Transgender-Orden in die Juna Akhada aufgenommen, die älteste und größte der 13 Sekten, die bei jeder Kumbh einen Bereich vorbereiten, um zu beten und ihren Besuchern religiöse Vorträge und Segnungen anzubieten. Die Zugehörigkeit zur Juna Akhada gab ihren Transgender-Mitgliedern das Recht, an feierlichen Tagen am Zusammenfluss der Flüsse in Prayagraj das heilige Bad (shahi snan) zu nehmen, bevor die Millionen anderer Besucher die Gewässer betraten.
Als die Kinnar Akhada 2016 an der Kumbh in Ujjain teilnahm, lief noch nicht alles so glatt: Die All India Akhara Parishad – die religiöse Organisation, die die Verwaltung der Shahi Snans beaufsichtigt – verweigerte ihren Transgender-Mitgliedern das Recht, an dem heiligen Bad teilzunehmen. Alles, was sie bekamen, war ein Stück Land, auf dem sie für die Zeit kampieren konnten. In Prayagraj hatten sie 2019 dann jedoch die gleichen Annehmlichkeiten wie die anderen Orden, beispielsweise Zelte mit privaten Bädern und kostenloses Wasser und Strom.
Laxmi Narayan Tripathi betet zu Lord Shiva, während sie ein heiliges Bad im Fluss Ganges nimmt. Das Baden in dem heiligen Fluss während der Kumbh Mela befreit nach hinduistischem Glauben von Sünden.
In Indien leben etwa eine halbe Million Transgender-Personen – 38.325 von ihnen durften bei den Parlamentswahlen 2019 zum ersten Mal mit ihrer Transgender-Identität ihre Stimme abgeben. Lange hatten sie keinen Platz in der Gesellschaft, bis der indische Oberste Gerichtshof sie im April 2014 formell als drittes Geschlecht anerkannte. Und doch geht der Kampf gegen gesellschaftliche Stigmatisierung, Diskriminierung, Selbstidentifikation und Belästigung weiter.
Das überarbeitete Gesetz zum Schutz der Rechte von Transgender-Personen aus dem Jahr 2016 verweigert Transpersonen jegliche Unterstützung in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Beschäftigung. Es kriminalisiert sowohl Betteln als auch Sexarbeit – Formen des Lebensunterhalts, auf die viele Transpersonen zum Überleben angewiesen sind. Ein Bericht der National Human Rights Commission of India aus dem Jahr 2018 schätzt, dass 92 Prozent der indischen Transgender betteln oder Sexarbeit verrichten, weil sie an keiner anderen wirtschaftlichen Aktivität teilnehmen können. Weniger als die Hälfte hat Zugang zu Bildung, 62 Prozent leiden unter Missbrauch und Belästigung und fast jeder hat schon mehrfach soziale Ablehnung erfahren.
Ein Sadhu betet am Ufer des Ganges in Richtung der Sonne.
Ein Pilger entzündet am Abend eine Flamme.
Die Aktivistin und Kinnar-Akhada-Gründerin Tripathi hält Religion für einen guten Weg, um Transgender in die Gesellschaft zu integrieren.
Aber mitunter scheiden sich daran die Geister in der LGBTQ-Gemeinschaft: Dissens gab es vor allem, als Tripathi im Namen der Kinnar Akhada die Forderung nach einem Gesetz zum Bau eines Hindu-Tempels in Ayodhya unterstützte. An diesem angeblichen Ort von Lord Rams Geburtsstätte rissen Hindu-Fundamentalisten 1992 eine Moschee ab. Die Zerstörung des Gotteshauses führte zu landesweiten Sekten-Unruhen, bei denen mehr als 2.000 Menschen – größtenteils Muslime – getötet wurden. Im November 2018 verfassten Transpersonen eine Erklärung, die Tripathis politische Bestrebungen und ihre Unterstützung für den Bau eines Hindu-Tempels in Ayodhya als „impliziten Aufruf zu kommunalem Hass“ verurteilte.
Ein Sadhu sammelt während der Kumbh Wasser aus dem Ganges.
K Rashi Badalia Kumar, eine Hobbyjournalistin aus Prayagraj, berichtete über die Kumbh 2019. Sie sagt, dass die Religion Transpersonen definitiv Respekt einbringt. „Die Menschen sehen Transpersonen als spirituelle Führer anstatt als Menschen, die auf der Straße rumtanzen und um Geld betteln“, sagt sie.
„Religion ist ein rückständiger Ausgangspunkt, aber sie ist auch die einzige Stütze für die ganz Schwachen“, sagt Ashok Row Kavi. Er ist der Vorsitzende des Humsafar Trust, der ältesten indischen Organisation, die für LGBT-Rechte kämpft, und der Herausgeber von „Bombay Dost“, Indiens erstem eingetragenen LGBT-Magazin. „Es ist lobenswert, wenn es jemandem gelungen ist, Religion zur Entstigmatisierung und Integration von Transpersonen in die Gesellschaft zu nutzen.“
Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.
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