Analyse einer Moorleiche: So lebte der jungsteinzeitliche Vittrup-Mann

Ein zertrümmerter Schädel und eine ungeklärte Herkunft: Eine neolithische Leiche im dänischen Moor stellte die Wissenschaft lange vor ein Rätsel. Nun konnten Forschende ihre Geheimnisse mithilfe modernster Analysetechniken aufdecken.

Von Insa Germerott
Veröffentlicht am 1. März 2024, 16:08 MEZ
Zertrümmerte Schädelreste auf einer dunkeln Büste.

Die Überreste des Schädels vom Vittrup-Mann sprechen eine eindeutige Sprache: Er starb als Opfer von roher Gewalt. 

Foto von Stephen Freiheit

1915 in einem Moor bei Vittrup, im Norden von Dänemark. Torfstecher stoßen bei ihrer Arbeit auf Bruchstücke von Knochen. Kurze Zeit später ist klar: Es sind die sterblichen Überreste eines Menschen. Genauer gesagt eines Mannes, dessen Leben hier vor über 5.000 Jahren ein jähes Ende fand. 

Die Knochen des sogenannten Vittrup-Mannes erzählen die Geschichte einer grausamen Ermordung in der Jungsteinzeit. Sein Schädel wurde mit mindestens acht Knüppelschlägen zertrümmert, sein lebloser Körper dann in dem Feuchtgebiet im heutigen Nordjütland abgelegt. 

Bis vor kurzem war das alles, was man über den mysteriösen Mann aus dem Moor wusste. Nun konnte ein dänisch-schwedisches Forschungsteam seine gesamte Lebensgeschichte rekonstruieren und zeigen: Der Vittrup-Mann führte ein bewegtes Leben. Die Studie, die in der Zeitschrift PLOS ONE erschien, belegt, dass er einst weit gereist war. 

Ein Fischer aus dem hohen Norden

Anlass für die erneute Untersuchung war die Tatsache, dass die morphologischen Merkmale des Vittrup-Mannes, beispielsweise seine Schädelform, nicht zu denen der damaligen Bevölkerung aus der Gegend passten. Im Rahmen des groß angelegten Forschungsprojektes Rise II, das prähistorische Veränderungsprozesse in Europa untersucht, entschied sich die Forschungsgruppe der Universitäten Göteborg und Kopenhagen dazu, seine Überreste genauer unter die Lupe zu nehmen. 

Mithilfe modernster Analysetechniken, unter anderem Isotop-Messungen und Genanalysen, konnten die Forschenden die Geheimnisse des Mannes aus dem hohen Norden Schritt für Schritt aufdecken – und so erklären, woher er eigentlich kam und wie er einst lebte. „Soweit wir wissen, ist dies das erste Mal, dass Forschende die Lebensgeschichte einer Person von vor so langer Zeit derart detailliert rekonstruieren konnten“, sagt Anders Fischer, Archäologe an der Universität von Göteborg und Teil des dänisch-schwedischen Forschungsteams. 

Laut der Studie lebte der Vittrup-Mann etwa zwischen 3300 und 3100 v. Chr. – zunächst allerdings nicht im heutigen Dänemark. Eine Analyse von Sauerstoff- und Strontiumisotopen aus den Zähnen des Mannes offenbarte, dass sein Geburtsort weiter nördlich lag. Die Sauerstoffisotopenwerte im Zahnschmelz deuten darauf hin, dass er als Kind in einem kälteren Klima lebte, also wahrscheinlich aus dem Norden des heutigen Skandinaviens stammte. „Genomische Daten zeigen, dass er eng mit den aus Norwegen und Schweden bekannten mesolithischen Menschen verwandt ist“, heißt es in der Studie. Diese waren Jäger und Sammler und unterschieden sich von den sesshaften Bauern im heutigen Dänemark.

„Er musste außerdem in einer Küstengegend groß geworden sein, denn als Kind ernährte er sich von Tieren aus dem Meer“, sagt Archäologe Karl-Göran Sjögren, ebenfalls Mitglied des Forschungsteams. Darunter seien Robben, Wale und Meeresfische gewesen, wie eine Analyse von gehärteten organischen Ablagerungen auf seinen Zähnen zeigte. Vermutlich verbrachte der Vittrup-Mann also seine Kindheit und Jugend in einem skandinavischen Fischerdorf. 

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    Leben und Tod in Dänemark

    Mit etwa 18 oder 19 Jahren kam der Vittrup-Mann ins heutige Dänemark. Warum, ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Es könnte sich bei ihm um einen Feuerstein-Händler oder einen Arbeitssklaven gehandelt haben, so die Studie. Die Forschenden glauben, dass der Tote aus dem Moor sogar auf direkter Route in den Süden gereist sein könnte. Frühere Funde zeigen, dass es zur damaligen Zeit bereits ein breites Know How in Sachen Seefahrt sowie seetüchtige Boote gab, mit denen der Mann die 75 Kilometer Meerweg hätte bewältigen können.

    Hinweise auf seinen Umzug lieferten ein weiteres Mal Analysen seines Gebisses, die offenbarten, dass sich seine Ernährungsweise zu dieser Zeit änderte. Anstelle von Meerestieren aß der Vittrup-Mann nun Weidetiere: Schafe und Ziegen – wie die Menschen der lokalen, auf Landwirtschaft basierenden Trichterbecherkultur in Dänemark. 

    „Der Vittrup-Mann lebte etwa zehn bis zwanzig Jahre bei der Bauerngesellschaft in Dänemark, bevor er starb“, sagt Sjögren. Unklar ist, welche soziale Stellung er in der Gesellschaft hatte. Auch die Hintergründe seines Todes bleiben ein Mysterium. Sicher ist: Er starb durch starke Gewalteinwirkung – acht harte Schläge auf den Schädel. „Bei der Mordwaffe könnte es sich um den Holzknüppel handeln, der bei seinem Leichnam im Moor gefunden wurde“, so Kristian Kristiansen, Archäologie-Professor und Leiter des Rise II-Projektes. „Vermutlich ist der Mord ein Beispiel für eine rituelle Praxis, die in dieser Zeit üblich war“, sagt Kristiansen. Ein Menschenopfer – wie es in der Jungsteinzeit in Dänemark und Südschweden häufig vorkam –, abgelegt im dänischen Moor. 

    Heute ruht der Vittrup-Mann im Vendsyssel Historiske Museum in Hjørring, Dänemark, wo man seine detaillierte Lebensgeschichte dank des dänisch-schwedischen Forschungsteams nun nachvollziehen kann. 

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