Mysteriöser Mechanismus bewahrt alte Gehirne vor der Verwesung

Ein Forschungsteam hat ein umfangreiches Archiv tausende Jahre alter konservierter Gehirne erstellt und herausgefunden: Im Gegensatz zu anderen Weichteilen überstehen Gehirne den Verwesungsprozess öfter als gedacht.

Von Lisa Lamm
Veröffentlicht am 10. Apr. 2024, 09:17 MESZ
Ein bräunlich-rötlich gefärbtes Gehirn.

Dieses Gehirn stammt von einer Person, die vor etwa 1.000 Jahren auf einem Friedhof in Ypern in Belgien bestattet wurde. Bis heute ist ein großer Teil des Gewebes erhalten und noch immer weich und feucht. 

Foto von ALEXANDRA L. MORTON-HAYWARD

Das Gehirn ist eines der ersten Organe, das nach unserem Tod zu verwesen beginnt. Nach nur wenigen Tagen tritt die Zersetzung der Proteine ein; das Gehirn, das fast zu 80 Prozent aus Wasser besteht, fängt an, zu ,zerfließen‘. Wenige Jahre später sind vom Kopf nur noch Schädel und Zähne übrig. 

Zumindest ist das der gewöhnliche Ablauf. Die neue Studie eines Teams um die forensische Anthropologin Alexandra Morton-Hayward zeigt nun jedoch: Das Gehirn bleibt öfter erhalten als bisher geglaubt. Beweise liefern die Forschenden in Form eines Archivs von über 4.400 Gehirnen, die in archäologischen Fundstätten auf der ganzen Welt gefunden wurden und teilweise bis zu 12.000 Jahre alt sind. 

Gut erhaltene Gehirne aus allen Ecken der Welt

Für ihr Gehirn-Archiv hat Morton-Hayward zunächst die gesamte Literatur gesammelt, die von archäologischen Funden menschlicher Überreste berichtet, bei denen das Gehirn noch erhalten war. Das Ergebnis: Seit dem 17. Jahrhundert wurden in Grabungen 4.405 Gehirne entdeckt. „In der Gerichtsmedizin ist bekannt, dass das Gehirn eines der ersten Organe ist, das sich nach dem Tod zersetzt – doch dieses riesige Archiv zeigt deutlich, dass es unter bestimmten Umständen überleben kann“, so die ehemalige Bestatterin.

Alexandra Morton-Hayward, forensische Anthropologin und Doktorandin an der Universität Oxford, untersucht die erhaltenen Nervenfalten eines 1.000 Jahre alten Gehirns. Im Rahmen der Erstellung des Archivs trug sie nicht nur die Literatur über Gehirnfunde zusammen, sondern untersuchte viele der Gehirne auch selbst in ihrem Labor.

Foto von Graham Poulter

Darunter fallen getrocknete Gehirne von Mumien aus dem Alten Ägypten, die absichtlich konserviert wurden, und von Leichen, die durch natürliche Mumifikation erhalten blieben. Eine weitere Gruppe von Gehirnen sind jene, die durch die Gefrierung der Leichen in sehr kalten Gebieten erhalten geblieben sind.

Besonders interessant war für das Team aber eine Gruppe Gehirne, deren Erhaltung rätselhafter ist. 30,1 Prozent der Gehirne, also 1.328, sind erhalten geblieben, obwohl alle anderen Weichteile der Verstorbenen verwest sind. Neben den bekannten Mechanismen der Weichteil-Erhaltung ist bei diesen Funden noch unklar, warum genau das Gehirn, nicht aber die anderen Organe, den Verwesungsprozessen trotzen.

Unbekannter Gehirn-Erhaltungsmechanismus

BELIEBT

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    Fragmente eines der mehr als 1.300 Gehirne, die ohne jegliche weitere erhaltene Weichteile gefunden wurden. Es stammt von einer Person, die vor 200 Jahren auf einem viktorianischen Friedhof in Bristol, England, begraben wurde.

    Foto von ALEXANDRA L. MORTON-HAYWARD

    In ihrer Studie beschreiben die Forschenden diese auf unbekannte Weise erhaltenen Gehirne so: „Im Allgemeinen eine elastische, leicht biegsame Masse von unterschiedlicher Färbung, die von schwarz bis gelb reicht.“ Obwohl nicht abschließend geklärt ist, wie es zu diesem Zustand kommt, hat Morton-Hayward eine Theorie, laut der Gehirne aufgrund ihrer einzigartigen Biochemie in bestimmten Fällen nicht verwesen. 

    „Es gibt Fette im Gehirn, die nirgendwo sonst im Körper vorkommen, und schwefelhaltige Proteine, die Teil des Signalmechanismus des Gehirns sind. Ich denke, dass all das zusammen ein widerspenstiges Material bildet, das sich sehr lange halten kann“, sagt sie gegenüber dem Fachmagazin Sciene.

    In jedem Fall ist das Gehirn-Archiv laut den Autor*innen ein Meilenstein in der Erforschung der Weichteile. Das betont auch Paläobiologin Erin Saupe von der Oxford University, eine Mitautorin der Studie: „Diese Aufzeichnung alter Gehirne verdeutlicht die Vielfalt der Umgebungen, in denen sie sich erhalten können, von der hohen Arktis bis zu trockenen Wüsten.“

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