Makabere Tradition in Oxford: Nachtisch aus einem Schädel
Bis ins Jahr 2015 wurden an der Oxford Universität in England Speisen in einem Schädel-Kelch aufgetischt – bis mit der Tradition aus moralischen Gründen gebrochen wurde. Wieso kam diese Entscheidung erst so spät?

Der Schädel-Kelch ist bis heute im Besitz des Worcester College, das Teil der Universität Oxford ist. Dort wurde das Gefäß zusammen mit der Silbersammlung des College ausgestellt und als Tafelgeschirr verwendet.
Ein Aufenthaltsraum mit Möbeln aus dunklem Holz, eine Gruppe Studierender und auf dem Tisch vor ihnen ein Kelch aus einem menschlichen Schädelknochen, in dem Nachtisch serviert wird. Diese Szene hat sich im Worcester College der englischen Universität Oxford bis in das Jahr 2015 tatsächlich so abgespielt. Denn bis dahin wurde im Senior Common Room des Colleges der etwa 200 Jahre alte Schädel-Kelch genutzt – zunächst als Weinglas, später als Behältnis für Pralinen.
Der Archäologe Dan Hicks hat diesen Fall nun für sein Buch Every Monument Will Fall – zu Deutsch: Jedes Denkmal wird fallen – aufgearbeitet.
Ein Kelch aus einem Schädelknochen
Hicks ist Leiter der archäologischen Abteilung des Pitt Rivers Museum, das Teil der Oxford University ist, und wurde im Jahr 2019 damit beauftragt, den Schädel zu untersuchen. „Das Gefäß ist aus einer abgesägten Calvaria, einem menschlichen Schädeldach, gefertigt“, sagt er. „Dieses wurde mit einem Stiel versehen, um die Form einer Art Kelch zu erhalten.“
Hergestellt wurde das Gefäß vermutlich im Jahr 1838. Darauf ließ eine Untersuchung des Silbers, das für den Stiel verwendet wurde, schließen. Gestorben ist die Person, der der Schädel einst gehörte, vermutlich mehrere Jahrzehnte zuvor. Bisher weiß man lediglich, dass es sich dabei um eine Frau handelte. Eine verbreitete Theorie in Forschungskreisen, dass der Schädel einer Sklavin aus der Karibik gehört, konnte bisher allerdings nicht bestätigt werden. Möglich ist aber, dass der Schädel von einem Kommandeur der Royal Navy, der in der Karibik diente, erstmals nach England gebracht wurde.
Wie kam der Schädel nach Oxford?
Auf dem Schädel-Kelch ist ein Name eingraviert: Pitt Rivers. Der Gründer des Museums Augustus Pitt-Rivers kaufte den makaberen Kelch Aufzeichnungen zufolge vermutlich bei einer Auktion in London im Jahr 1884. Er vererbte ihn schließlich an seinen Enkel, den Nationalsozialisten George Pitt-Rivers, der den Kelch im Jahr 1946 schließlich der Universität Oxford spendete. Dort wurde er bei Abendessen dann zunächst als Weinglas genutzt, bis die Schale anfing, undicht zu werden.
Ab 2011 wurden in Oxford Stimmen laut, die sich gegen die Verwendung des Kelchs aussprachen. Bis 2015 wurde das Gefäß immer seltener genutzt und schließlich gänzlich in das Archiv der Universität übergeben. „Die Universität hat das Thema ethisch verantwortungsvoll und mit Bedacht behandelt“, sagt ein Sprecher der Universität. Der Zugang zum Kelch sei seither nur ausgewählten Personen zu Forschungszwecken erlaubt.
Kolonialistische Praktiken als Tradition
Der Schädel-Kelch aus Oxford ist nur einer der Fälle, die Dan Hicks in seinem Buch thematisiert. „Das Buch wirft Fragen zu kolonialen Vermächtnissen auf, die, so scheint es, schwer zu durchbrechen sind, da sie die Form von Traditionen annehmen“, sagt der Archäologe. Während in England und anderswo in der westlichen Welt bis heute Statuen ehemaliger Kolonialherrscher stünden, würden die Überreste von Opfern aus dieser Zeit gleichzeitig unachtsam behandelt.
Das zeige auch der Kelch: Informationen zu der Frau, aus deren Schädel bis vor wenigen Jahren noch Menschen tranken und aßen, gibt es heute nicht mehr. „Wer wird in einer steinernen oder bronzenen Statue verewigt, und wessen Identität wird ausgelöscht und seine körperlichen Überreste posthum missbraucht?“, fragt Hicks. Die Tatsache, dass die Verwendung des Schädel-Kelchs erst im Jahr 2015 eingestellt wurde, zeige eindrucksvoll, wie schwierig es für viele sei, verankerte Traditionen aufzugeben, auch wenn diese nach aktuellen ethischen Standards verwerflich sind.
Weitere Informationen zum Buch und Termine von Lesungen gibt es unter: https://www.danhicks.uk/talks.
