Als Frau in Afghanistan

Almut Wieland-Karimi, Direktorin des Zentrums für Internationale Friedenseinsätze in Berlin, kennt Afghanistan seit vielen Jahren. Uns gab sie ein Interview über die Situation der Frauen heute – zwischen Gleichberechtigung und Unterdrückung.

Von Siebo Heinken
Almut Wieland-Karimi, Direktorin des Zentrums für Internationale Friedenseinsätze in Berlin
Foto von Alfred Steffen

Almut Wieland-Karimi, Direktorin des Zentrums für Internationale Friedenseinsätze in Berlin

Die Direktorin des Zentrums für Internationale Friedenseinsätze (zif) in Berlin trainiert Fach- und Führungskräfte für Friedensmissionen und schickt Wahlbeobachter in alle Welt, unter anderem nach Afghanistan. Diesem Land ist Almut Wieland-Karimi seit langem verbunden: durch ihre ­Dissertation über islamische Strömungen, ihren vierjährigen Aufenthalt als Leiterin der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kabul und ihre Ehe mit einem Deutschafghanen. Als Orientalistin und ausgewiesene Kennerin der afghanischen Gesellschaft, ist sie im Vorfeld von Afghanistan-Konferenzen zudem als internationale Expertin gefragt.

Frau Wieland-Karimi, wer Fotos aus dem Kabul der sechziger Jahre betrachtet, ist überrascht, wie modern viele Frauen aussahen.
Ich kenne diese Bilder. Es gibt auch viele Fotos meiner Schwägerinnen: in Miniröcken, geschminkt, auf fröhlichen Partys.

Wie erleben Sie die Situation der Frauen heute?
Sehr unterschiedlich: 80 Prozent der Afghanen leben auf dem Land, und nur 15 Prozent der Frauen können lesen und schreiben. Da gibt es die alte Frau, die 15 oder 18 Kinder bekommen hat. Die sich jeden Tag darüber freut, eine Schüssel Reis, zwei Stück Brot und einen Tee zu bekommen und glücklich ist, mir diesen Tee anbieten zu können. Und da gibt es die emanzipierte Parlamentarierin, die ihren Mann rausgeschmissen hat und nun alleinerziehend ist.

Die von den Sowjets in den siebziger Jahren gebrachte Modernisierung – etwa Bildung für alle und Frauenförderung – hat diese Menschen schon damals nicht erreicht?
Diese Modernisierung hat sich hauptsächlich in den Städten abgespielt. Kabul war immer eine moderne Stadt, Herat ebenso. Für die Menschen auf dem Land zählen hingegen vor allem die Konflikte: sowjetische Besetzung, Bürgerkrieg, Taliban, internationales Engagement. Egal wer an der Macht ist: An ihren Lebensumständen hat das nicht viel geändert.

Auch nicht an der Unterdrückung der Frau?
Die Frage ist, wie man Unterdrückung definiert. Ein afghanischer Mann auf dem Land hat die Pflicht, sich um seine Frau und seine Familie zu kümmern. Und ein Teil der Tradition ist, dass die Pflichten aufgeteilt werden. Für die häusliche Versorgung ist die Frau zuständig, für das andere der Mann. Viele Frauen würden das als Fürsorge beschreiben. Aber es gibt eine soziale Hierarchie, in der ein Mann höher eingestuft wird als die Frau.

Die afghanische Verfassung stellt Mann und Frau gleich.
Die Verfassung ist in Kabul beschlossen worden. Es gibt viele Gegenden, in die diese Kunde noch nicht vorgedrungen ist. Das Ganze ist ein langer Prozess der politischen Bildung. Bei uns hat es nach dem Zweiten Weltkrieg auch gedauert, bis alle verstanden hatten, dass man wählen darf, aber Pflichten gegenüber dem Staat hat. Dennoch hat sich in Afghanistan in den vergangenen acht Jahren viel verändert: Das Bewusstsein für die Gleichberechtigung ist gewachsen – bei den Frauen, aber auch bei den Männern.

Geht es den Frauen besser als unter den Taliban?
Eine schwierige Frage. In den Städten gewiss. Auf dem Land muss man sehr genau unterscheiden, weil die Taliban – abgesehen von all den negativen Punkten – Sicherheit herstellten. Es ist unklar, ob unter ihrer Herrschaft weniger Gewalt gegen Frauen vorkam. Es gibt viele Untersuchungen, die das behaupten.

Bestimmt vor allem der Islam das Verhältnis von Mann und Frau und die Situation der Frau in der Gesellschaft?
Afghanistan ist ein islamisch geprägtes Land. 99 Prozent der Menschen sind Muslime. Man darf aber die mystische Tradition des Islam nicht vergessen. Sie besteht nicht in einer orthodoxen Auslegung von Regeln, sondern in einem eher individuellen Verhältnis zu Gott. Die Beziehung von Mann und Frau wird traditionell von einem – in unsere Worte gefasst – liberalen Verhältnis im positiven Sinn bestimmt. Die konservativen islamischen Strömungen spielen erst seit den achtziger Jahren eine Rolle.

Wodurch sich die Situation verschlechterte...
Dass Frauen das Haus nicht mehr verlassen durften – das hat es in dieser Form in den Städten vorher nie gegeben. Auf dem Land natürlich schon.

Welche Rolle spielen die Ethnien?
Die in den ländlichen Regionen lebenden Paschtunen – die größte Bevölkerungsgruppe – haben parallel zum Islam das Paschtunwali als Lebens-„Leitfaden“. Darin spielt auch ein Kodex eine Rolle, wonach die Ehre der Familie einen größeren Wert hat als das Individuum. Dazu gehört, dass die Frau sich den gängigen moralischen Vorstellungen zu unterwerfen hat. Die Hazara hingegen sind Schiiten, deren Tradition den Frauen mehr Freiraum lässt. Aber ich glaube, dass es ein Fehler wäre, diese ethnische Identität überzubewerten. Primär werden die Menschen sagen: Wir gehören zu Afghanistan!

In diesem Land wird das Staatswesen gerade erst aufgebaut. Können Frauen das Recht auf Gleichberechtigung einklagen?
Dazu müsste Afghanistan flächendeckend ein Rechtsstaat sein. Der Friedens- und Stabilisierungsprozess hat aber erst 2001 mit dem internationalen Engagement begonnen. Rechtsstaatliche Institutionen gibt es bisher nur eingeschränkt in den Städten, nicht aber überall auf dem Land.

Die Burka gilt als Symbol der Unterdrückung. Ist sie das?
Das ist eine westliche Perspektive. Ich habe mit vielen Frauen gesprochen, die eine Burka tragen. Der überwiegende Teil legt sie nicht an, weil der Mann es sagt, sondern um sich vor den Blicken der Männer zu schützen. Weil diese Kleidung eine gewisse Sicherheit verschafft. Das war zu Zeiten der Taliban natürlich anders, als man sie tragen musste. Nach deren Entmachtung Ende 2001 war der Zwang weg. Frauen, die die Burka nie aus Überzeugung trugen, haben sie sofort abgelegt.

Was sie als Verbesserung ihrer Lage empfanden...
Wer definiert denn, was „verbessern“ bedeutet? Viele afghanische Frauen wollen vor allem Zugang zur Gesundheitsversorgung, lesen und schreiben können, Bildung für ihre Kinder. Aber vielleicht gar nicht eine Emanzipation in unserem Sinn und die Individualisierung der Gesellschaft, wie wir sie erleben. Es geht darum, die Balance zu halten zwischen Tradition und Moderne.

(NG, Heft 12 / 2010)

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